Lübeck, Theater Lübeck, ALBERT HERRING - Benjamin Britten, IOCO Kritik, 27.04.2023
ALBERT HERRING - Benjamin Britten
- die bigotten Keinbürger von Loxford wählen eine Maienkönigin .... -
von Wolfgang Schmitt
Crabbe und Britten: Eine gewisse gleiche Idee von England!
Wir schreiben das Jahr 1952. Am 1. Mai soll im kleinen englischen Städtchen Loxford die neue „Maienkönigin“ gewählt werden: Ein tugendhaftes junges Mädchen soll es sein und eine Vorbildfunktion soll sie haben, um der Unmoral und dem Laster der Jugend Einhalt zu gebieten. Lady Billows, eine herrische noble Dame und oberste Instanz des Städtchens in Sachen Moral, hat ein Preisgeld von 25 Pfund in Gold gestiftet. Viele Vorschläge werden vonseiten des Bürgermeisters, des Pfarrers, der Schulleiterin und des Polizeichefs unterbreitet, doch keines der infrage kommenden Mädchen entspricht den hohen Moralvorstellungen der Lady Billows und ihrer Haushälterin Florence Pike, auch nicht die Bauerntöchter von den umliegenden Farmen, denn diese würden sich noch zügelloser benehmen als die Töchter von Loxford. Schließlich macht der Polizieichef Mr. Budd den Vorschlag, man könne doch auch einen „Maienkönig“ wählen, und er hat auch gleich eine Idee, nämlich Albert, den braven Sohn der Obst- und Gemüsehändlerin Mrs. Herring. Er ist 22 Jahre alt, etwas naiv, sittsam, schüchtern und verklemmt, aber er arbeitet fleißig und gewissenhaft im Gemüseladen seiner Mutter.
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Als Vorlage zu dieser Kammeroper - zu dieser skurrilen kleinbürgerlichen Gesellschaftssatire, dessen Libretto Eric Crozier schrieb - diente Benjamin Britten die Erzählung „Le Rosier de Madame Husson“ des französischen Schriftstellers Guy de Maupassant (deutscher Titel „Der Tugendpreis“). 1947 wurde Albert Herring in Glyndebourne, wo Britten auch wohnte, uraufgeführt: von Brittens eigens hierfür gegründeter „English Opera Group“ und mit seinem Lebenspartner Peter Pears in der Titelpartie.
Das Theater Lübeck setzte nun die Reihe ihrer Britten-Werke fort. Nach Owen Wingrave 2021 und The Turn of the Screw 2022 wurde nun auch Albert Herring realisiert und wiederum von dem britischen Regisseur Stephen Lawless wunderbar amüsant und geistreich inszeniert.
Die Ausstattung – Bühne und Kostüme – stammte von Ashley Martin-Davis. Die Bühne ward umrahmt von Zeitungsartikeln der frühen Fünfziger Jahre, u.a. über Königin Elisabeth und Winston Churchill, und vor einem Zwischenvorhang wurde eine kleine Leinwand heruntergelassen, auf der zur Einstimmung auf das Kommende englische Wochenschau-Filme gezeigt wurden.
Die Handlung begann an einer Art Konferenztisch, um den sich die genannten Honoratioren des Städtchens versammelten, um über die bevorstehende Wahl abzustimmen. Dann der liebevoll gestaltete kleine, in dunklem Blaugrün gehaltene Laden der Herrings mit Wandregal und Auslagen von Obst und Gemüse. Später eine rote Telefonzelle, vor der und in der sich das Rendezvous von Sid und Nancy abspielte, welches von Albert belauscht und beobachtet wurde und gewisse Sehnsüchte in ihm weckte.
Während seiner Krönungsfeier zum „Maienkönig“ schüttet Sid ihm Rum in seine Limonade, worauf er schnell betrunken wird, seine Hemmungen verliert, die Feier verläßt und zwei Tage unauffindbar ist. Alle sind besorgt und seine Mutter befürchtet das Schlimmste, doch bei seiner Rückkehr berichtet er, daß er in die nächste Stadt gefahren ist und sich dank seines Preisgeldes allerlei Vergnügungen hingegeben hat, und zu guter Letzt präsentiert er einen feschen jungen Mann in schneidiger Matrosenuniform. Das war es dann also mit seiner Tugendhaftigkeit. Von der Umklammerung seiner Mutter hat er sich jetzt gelöst, und die bigotte Gesellschaft um Lady Billows wirft er kurzerhand aus dem Gemüseladen.
Die lustigen bunten Kostüme entsprachen der Zeit der Fünfziger Jahre, wobei Lady Billows wie eine Respekt einfordernde Landadlige wirkte und aussah wie Prinzessin Anne in ihrem Tweedjackett mit Breeches, Reitstiefeln und einer Reitpeitsche, die auch schon mal zum Einsatz kam. In einer Szene wird angedeutet, daß zwischen Lady Billows und ihrer Haushälterin Florence Pike wohl eine engere spezielle Verbindung bestehen könnte. Soviel zur Doppelmoral dieser beiden Sittenwächterinnen, aber in den Fünfziger Jahren galt Homosexualität eben noch als ein absolutes Tabu-Thema.
Albert trägt kurze Hosen unter seiner bodenlangen Schürze, auch während seiner Krönung, zu der er noch zusätzlich mit einem weißen Fransenhemd samt Schärpe, Blütenkranz und Kniestrümpfen mit grünen Bändern ausstaffiert wurde. Mit seinem Coming-Out und seinem Erwachsenwerden änderte sich auch seine Kleidung.
Albert Herring ist eine herrlich amüsante Ensembleoper, und gesungen wurde an diesem Abend phänomenal. Allen voran natürlich Frederick Jones in der Titelpartie, ein sympathischer Akteur mit makellos geführtem lyrischen Tenor, dem er viele Farben abgewinnen konnte und den er kraftvoll einzusetzen verstand. Auch seine Wandlung vom scheuen Muttersöhnchen zu einem jungen Mann, der ein neues Selbstbewusstsein erlangt hat, konnte er auf erheiternde Art darstellen und befahl schließlich seiner Mutter, ins Bett zu gehen. Die Mezzosopranistin Christa Ratzenböck war die dominante, ihren Sohn bemutternde Mrs. Herring, die hauptsächlich an dem Preisgeld von 25 Pfund interessiert zu sein schien und in Wehklagen ausbrach, nachdem Albert so plötzlich verschwunden war und man ihn schon tot glaubte.
Bea Robein war eine temperamentvolle, resolute Lady Billows, die ihren dramatischen Sopran auch mal recht schrill einsetzen konnte. Ihre Haushälterin und, wie angedeutet, wohl heimliche Geliebte Florence Pike sang Julia Grote mit klangschönem Mezzosopran und gab sich höchst originell in ihrer Darstellung. Andrea Stadel als agile Schulleiterin glänzte wieder einmal mit ihrem ausdrucksvollem Sopran und hatte ihre heitere Szene mit den drei Schülern Emmy (Natalya Bogdanova), Cis (Valentina Rieks) und Harry (Xiaofang Zhao), die sich recht unwillig und lustlos das Gesangsständchen für den Maienkönig von ihr einpauken lassen mußten.
Treffend karikiert wurden der Bariton Steffen Kubach als salbungsvoller Pfarrer Mr. Gedge, der Charktertenor Wolfgang Schwaninger als oft und gern und viel zu viel redender Bürgermeister Mr. Upfold, der nebenbei auch noch Metzger ist, und der robuste Charakterbass Mario Klein als Polizeichef Mr. Budd, der die glorreiche Idee hatte, Albert als Maienkönig zu ernennen. Sie waren die weiteren Honoratioren des Städtchens Loxford und genossen sichtlich ihre humorigen Szenen.
Schließlich war da noch das junge Liebespaar, Laila Salome Fischer als die Bäckerstochter Nancy mit schön timbrierten lyrischen Mezzosopran, und Jacob Scharfman als der Metzgergeselle Sid mit seinem kraftvollen virilen Bariton. Die Beiden sind Albert wohl gesonnen, und auch wenn sie ihm mit dem Rum in seiner Limonade einen Streich spielen wollten, so hat er ihnen zu verdanken, daß er endlich aufgewacht, sich von der Mutter abgenabelt hat und erwachsen geworden ist.
Takahiro Nagasaki, der Erste Kapellmeister und stellvertretender GMD, leitete das mit 13 Musikern besetzte Kammerorchester – er selbst spielte das Klavier – brillant und schwungvoll mit viel Gespür für Brittens detailreiche Komposition, mal filigran, mal dramatisch auftrumpfend und mit massivem Einsatz der Schlaginstrumente. Wunderbar gelangen die vielen Ensembles und die raffinierten Rezitative. Mit pulsierender Energie ließ er die melodischen Gesangspassagen prächtig aufblühen, wobei er mit akkuraten Tempi den Solisten ein aufmerksamer Begleiter war.
Mit dieser vergnüglichen Inszenierung ist dem Theater Lübeck wieder einmal ein großer Wurf gelungen.