Lübeck, Stadttheater, SEMELE - G. F. Händel, IOCO
von Wolfgang Schmitt
Georg Friedrich Händel (1665 – 1759) lebte nach Stationen in Hamburg, Venedig, Florenz und Hannover seit 1711 hauptsächlich in London, wo er bis zu seinem Tode mehr als 60 Opern und Oratorien komponierte. Sein 1743 komponiertes Barock-Werk „Semele“ bezeichnete er selbst als „eine Oper in der Art eines Oratoriums“, doch anders als seine Oratorien wie „Der Messias“ oder „Belsazar“ handelt es sich bei „Semele“ nicht um ein biblisches Thema, auch steht der Chor hier nicht so sehr im Mittelpunkt, und der dramatische Aufbau dieses Werkes ähnelt ohnedies mehr einer Oper als der Struktur eines Oratoriums.
Das Libretto von William Congreve ist denn auch tatsächlich ein reines Opernlibretto, welches er ursprünglich für eine Semele-Oper des englischen Komponisten John Eccles (1668 - 1735) geschrieben hatte, die jedoch nie aufgeführt wurde.
Händel selbst hatte seine „Semele“ stets konzertant aufgeführt, trotz der vorhandenen szenischen Anweisungen. Und diese heiter-tragische Geschichte aus der griechischen Mythologie (die Vorlage des Librettos basiert auf dem Mythos der „Semele“, gedichtet von Ovid in seinen „Metamorphosen“) bietet sich geradezu an, in Szene gesetzt zu werden. So geschieht es nunmehr auch seit vielen Jahren wie jetzt hier am Lübecker Theater.
Der Regisseur Stephen Lawless hatte dem Lübecker Opernhaus in den vergangenen Spielzeiten viele interessante und erfolgreiche Inszenierungen beschert wie z.B. die Benjamin-Britten-Opern und zuletzt Mozarts „Le Nozze di Figaro“.
Für seine Lübecker Neuinszenierung von Händels „Semele“ hat er seiner Phantasie freien Lauf gelassen, denn er verlegte die eigentlich antike Handlung ins Amerika der 1960er Jahre, indem er die Titelpartie in eine Marilyn Monroe verwandelte, während ihm als das Götterpaar Jupiter und Juno offenkundig John F. Kennedy und Jacqueline Kennedy vorschwebte.
Beim Betreten des Zuschauerraumes ist der Besucher zunächst überrascht, daß der Orchestergraben hochgefahren war, daß einige Stuhlreihen für die Choristen vor der mit einer Holzwand geschlossenen Bühne aufgereiht waren und daß es vorn auch Stühle für Solisten gab.
Vorn in der Mitte steht das Cembalo, gespielt von Dirigenten selbst. „Eine Oper in der Art eines Oratoriums“ also. Die Ouvertüre beginnt, die Choristen nehmen Platz, ebenso vier der Solisten: König Cadmos von Theben und seine beiden Töchter Semele und Ino, sowie Prinz Athamos, Semeles Bräutigam. Semele gibt sich gelangweilt, völlig desinteressiert an diesem Bräutigam, denn sie ist ja verliebt in Jupiter. Sie flirtet mit dem Publikum, während Athamos sichtlich nervös nach den Trauringen in den Taschen seines Fracks sucht. Statt des Adlers, der auf Geheiß Jupiters Semele mitten aus der Hochzeitszeremonie entführen soll, wird der Flug von Düsenjets auf die rückwärtige Wand projiziert, der Orchestergraben wird heruntergefahren, die Rückwand wird hochgefahren und gibt die Bühne frei. Also doch eine Operninszenierung – und was für eine !!!
Semele betritt als Marilyn Monroe die Bühne im weißen Pelz, darunter das berühmte weiße Kleid aus „Das verflixte 7. Jahr“, das auch hier von einem Luftzug hoch geweht wird. Ihr zu Füßen liegen die Paparazzi, die jeden Körperteil, jede ihrer anmutigen Bewegungen auf Zelluloid bannen.
Juno betritt die Bühne als die Präsidenten-Gattin Jacqueline Kennedy im pinkfarbenen Chanel-Kostüm mit passendem Pillbox-Hütchen. Sie wird von ihrer Assistentin Iris anhand kompromittierender Photos von der mutmaßlichen Affäre ihres Gatten mit dem Filmstar in Kenntnis gesetzt.
Die Bühne ist begrenzt durch ein elegantes weißes Halbrund mit Stukkatur an Wänden und Decke, später als Oval-Office umfunktioniert, jetzt jedoch mit üppigen goldenen Vorhängen ausgestattet und mit einem großen runden pink-farbenem Bett, in dem sich Jupiter und Semele alias Präsident John F. Kennedy und Marilyn vergnügen, ab und zu unterbrochen durch Iris, die auch als Büroleiterin des Präsidenten fungiert und mit einem Frühstückstablett oder dem roten Telefon hereinspaziert.
In der Mythologie wendet sich Juno an Somnus, den Gott des Schlafes. Mit seiner Hilfe versetzt sie Ino, Semeles Schwester, in einen Tiefschlaf und sucht nun selbst Semele in Gestalt ihrer Schwester Ino auf. Sie rät ihr, sie möge von Jupiter verlangen, daß er sich ihr in seiner wahren, göttlichen, Gestalt zeige. Semele weiß allerdings nicht, daß sie beim Anblick seiner göttlichen Gestalt verbrennen wird. Vielmehr hat sie den Ehrgeiz, ihre eigene Unsterblichkeit zu erlangen und durch ihn selbst zu einer Göttin aufzusteigen.
Bei Lawless kommen Tabletten ins Spiel, mit denen Juno (Jackie) Semele (Marilyn) versorgt und diese schließlich aufgrund ihrer Medikamentenabhängigkeit unter dem Blitzlichtgewitter der Paparazzi verendet.
Iris kommt schließlich auf die Bühne und übergibt Prinz Athamos eine Urne mit Semeles Asche. Athamos ist nun bereit, Semeles Schwester Ino zu heiraten, die schon lange verliebt in ihn ist.
Die Schlußszene spielt im Oval-Office, wo zu Ehren des Bacchus ein rauschendes Fest gefeiert wird.
Der Mythos besagt, daß aus Semeles Asche ein Phönix entstiegen ist, und dieser Phönix ist Bacchus - Gott des Weines, des Rausches, der Ekstase - der Sohn von Jupiter und Semele.
Im Mittelpunkt von Stephen Lawless' überaus unterhaltsamen, witzig-spritzigen Inszenierung in der wunderbar anzuschauenden, nicht überladen wirkenden Ausstattung von Ashley Martin-Davis (Bühne und Kostüme) steht natürlich die Titelheldin.
Mit der jungen kanadischen Koloratursopranistin Sophie Naubert als Semele hat das Lübecker Theater einen absoluten Glücksgriff getan. Und man kann behaupten, daß sie die Herzen des Lübecker Premierenpublikums im Sturm erobert hat. Sie verfügt über eine wunderschöne, edel timbrierte, technisch perfekte und wandlungsfähige Sopranstimme mit herrlich perlenden Koloraturläufen und stets exzellent platzierten Spitzentönen. Mit ihrer Ausstrahlung, ihrer außerordentlich aparten Erscheinung, charismatischer Bühnenpräsenz, ihrer intensiven gefühlvollen Darstellung gepaart mit Sinnlichkeit und vokaler Leuchtkraft machte sie diese Premiere zu einem grandiosen Ereignis. Mehr als ein Dutzend Arien hat Semele zu singen, eine wahre Tour-de-Force, und Sophie Naubert bewältigte sie alle spielend und voller Energie. Ohne Kraftanstrengung spulte sie ein herrliches Koloratur-Feuerwerk ab, sei es in der sehnsuchtsvollen Arie „Lark tunes to my distress“, in der sie, wie auch im melancholischen „Oh sleep, why do you leave me“, auch ihre lyrischen Qualitäten offenbaren konnte, oder im fröhlichen „Endless pleasure, endless Love“, umringt von einer bunt gekleideten Hippie-Gruppe, in der sie Lebensfreude und Leidenschaft verströmte (wenngleich die Hippie-Bewegung eigentlich erst fünf Jahre nach Marilyns Tod einsetzte). Herausragend waren ihre selbstverliebten Szenen und Auftritte mit den als Leibwächter fungierenden Tänzern, die die Fernsehgeräte auf Rädern mit Wochenschau-Ausschnitten über sie auf die Bühne rollten und sie, von ihrer eigenen Schönheit fasziniert, nicht in den Spiegel, sondern in das Politmagazin „Der Spiegel“ mit ihrem Konterfei als Titelbild schaute und die große Arie „Myself I shall adore“ wiederum mit kristallklaren, bombensicheren Koloraturen erklingen ließ.
Für Sophie Naubert bedeutet dieses Lübecker Opern-Engagement ihr höchst erfolgreiches Deutschland- und Europa-Debüt, und wir werden ganz gewiß noch viel von dieser jungen Ausnahme-Künstlerin zu hören bekommen.
Auch der britische Tenor Frederick Jones als Jupiter konnte auf ganzer Linie überzeugen. Von sympathischer Ausstrahlung, optisch recht gelungen als John F. Kennedy gestylt, verfügt er über eine natürliche Bühnenpräsenz, und seine Liebesszenen mit der stets dominanten Semele auf dem großen pinkfarbenen Bett waren köstlich anzusehen. Mit seiner frischen geschmeidigen, barock-geschulten Tenorstimme gestaltete er die Partie des Jupiter ansprechend und bot in seinen Arien - und hier sei insbesondere „Wherever you walk“ genannt - strahlenden Koloratur-Glanz bei sicherer Intonation.
Laila Salome Fischer füllte gleich zwei Partien wunderbar treffend aus: als Semeles unglückliche Schwester Ino, die selbst in Athamos verliebt ist und ihn schlußendlich doch noch bekommt, und als gestrenge eifersüchtige Juno, die eine Intrige spinnt, das unmögliche Verhältnis ihres Götter-Gatten mit Semele zu hintertreiben und Semele zu beseitigen. Als Jackie Kennedy im rosa Chanel-Kostüm sah sie elegant aus, ebenso in der blassgrünen Abendrobe. Stets war sie von Personenschützern im Anzug mit Sonnenbrillen umgeben, die sie mit Zigaretten versorgten. Darstellerisch und gesanglich überzeugte sie in ihren Szenen und den ebenfalls koloratur-gespickten Arien mit ihrem dunkel timbrierten Mezzosopran.
Andrea Stadel glänzte mit ihrem leichten lyrischen Sopran als Iris, ihres Zeichens sowohl die Vertraute von Juno bzw. Jackie Kennedy, als auch die resolute Büroleiterin von John F. Kennedy. Sie hatte auch noch eine amüsante Szene als bunt kostümierte Pasithea, mit der Somnus, der Gott des Schlafes, von Juno zur Teilnahme an ihrem Rache-Plan bestochen werden sollte.
Mit seinem prägnanten Bariton hatte Florian Götz ebenfalls zwei Partien zu bewältigen: den König Cadmus von Theben, leidgeprüfter Vater von Semele und Ino, und Somnus, den Gott des Schlafes, der in einer vergnüglichen Szene von Juno und Iris erst mal aus seinem Kühlschrank geholt und aufgetaut werden mußte, bevor er an Junos Intrige teilhaben konnte.
Die Partie des von Semele verschmähten und von Ino heiß geliebten Bräutigams Athamas sang Delia Bacher mit schöner lyrischer Alt-Stimme.
Lübecks Erster Kapellmeister Takahiro Nagasaki spielte das Cembalo und leitete souverän das bestens disponierte Philharmonische Orchester, mit dem er die barocke Leichtigkeit betonte, die Schönheit dieser Partitur mit Leben erfüllte und diese mit Frische, Esprit, und mit einer gehörigen Portion Dramatik auszukosten verstand.
Der von Jan-Michael Krüger wunderbar einstudierte und kraftvoll singende Chor des Lübecker Theaters hatte auch szenisch einiges zu leisten und trug so ebenfalls zum Erfolg dieser überaus gelungenen Inszenierung bei.
Ein kleiner Gag am Schluß: In den nicht enden wollenden Applaus für alle Beteiligten reihte sich eine junge Statistin ein, groß, schlank und mit wallender hellbrauner Haarmähne – eine gewisse Ähnlichkeit mit Melania Trump drängte sich förmlich auf ….
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