Lübeck, Die PASSAGIERIN - Mieczyslaw Weinberg
12. 10. 2024 - Premiere - Theater Lübeck
Mieczyslaw Weinberg (1919-1996) ist ein hierzulande noch nicht so sehr bekannter Komponist. Geboren in Warschau als Sohn eines jüdischen Kantors und einer Pianistin, war die Musik seit frühester Kindheit ein wichtiger Bestandteil seines Lebens, und so studierte er am Warschauer Konservatorium Klavier und Komposition.
Nach Ausbruch des 2. Weltkrieges floh er von Warschau über Minsk und Taschkent nach Moskau, wo er seine musikalische Ausbildung fortsetzte und Dimitri Schostakowitsch kennenlernte, mit dem sich eine enge Freundschaft entwickelte.
Weinbergs kompositorisches Schaffen umfaßt insgesamt 22 Sinfonien, zahlreiche Liederzyklen, Kammermusikwerke, Klavierkonzerte, Filmmusik, sowie sechs Opern, darunter Der Idiot nach Dostojewski, „Das Portrait“ nach Gogol, „Lady Magnesia“ nach George Bernard Shaw. Seine erste Oper, Die Passagierin, schrieb er 1968 nach einem Roman von Zofia Posmysz.
In Weinbergs Kompositionen sind zwar die Einflüsse von Schostakowitsch erkennbar, dennoch hatte er seinen eigenen Stil entwickelt, der von einer Fülle melodischer Ideen, komplexen Harmonien und einer tiefen Emotionalität geprägt ist.
Weinbergs Leben war sehr stark von den politischen Umwälzungen seiner Zeit geprägt, und er sah sich als jüdischer Komponist in Moskau mit den kulturellen und politischen Einschränkungen konfrontiert und der Gefahr ausgesetzt, den ideologischen Anforderungen in der Sowjet-Union nicht zu entsprechen. Dennoch konnte er auf ein umfangreiches Schaffenswerk zurückblicken, und er erlebte nach dem Ende des Kalten Krieges quasi eine Renaissance seiner Kompositionen, die nun endlich neu aufgeführt wurden und die Anerkennung der internationalen Musikszene fanden.
So wurde seine 1968 entstandene Oper Die Passagierin erstmals 2006 in Moskau konzertant aufgeführt. 2010 gab es die erste szenische Aufführung bei den Bregenzer Festspielen. Seither gab es Neuinszenierungen dieser Oper bereits in Karlsruhe, Frankfurt, Mainz, München, Gelsenkirchen, Gera, Braunschweig, sowie in Innsbruck und Graz.
Nun hat auch das Lübecker Theater nachgezogen und Weinbergs „Passagierin“ in einer beeindruckenden, packenden Inszenierung von Bernd Reiner Krieger präsentiert, deren effektvolle Bilder, die zwischen den zwei Zeitebenen – Luxusliner und Auschwitz – hin und her springen, das Publikum zutiefst berührten und beeindruckten.
Das Libretto zu Weinbergs Oper schrieb Alexander Medwedew nach einer Romanvorlage der polnischen Schriftstellerin, Widerstandskämpferin und KZ-Überlebenden Zofia Posmysz (1923-2022).
Die Handlung der Oper dreht sich um Lisa, eine ehemalige KZ-Aufseherin, die 15 Jahre nach Kriegsende mit ihrem Ehemann Walter, einem Diplomaten, auf einem Ozeandampfer nach Südamerika reist, wo dieser eine neue Position antreten soll. An Bord sieht sie eine andere Passagierin, die sie an die KZ-Gefangene Marta erinnert. Sie selbst hat ihre Vergangenheit als KZ-Aufseherin verdrängt, hatte ihrem Mann nie davon erzählt. Hin und her gerissen zwischen ihrem damaligen Pflichtbewußtsein und der Frage, welche Schuld sie dadurch auf sich geladen hat, versucht sie nun, ihre damalige Tätigkeit zu rechtfertigen.
Im Laufe der Handlung eskalieren die Spannungen: Lisa ist sich schließlich sicher, daß es sich bei der Passagierin tatsächlich um Marta handelt. Die frühere Beziehung zwischen Lisa und Marta lebt wieder auf und die Erinnerung an das Grauen der Jahre ihrer KZ-Tätigkeit verfolgen sie nun in die Gegenwart und lassen Lisa nicht zur Ruhe kommen. Schließlich gipfeln die Konflikte in einem dramatischen Finale, in welchem die Fragen nach Schuld und Sühne, nach Gerechtigkeit, Vergebung und Vergessen im Mittelpunkt stehen.
Hans Kudlich schuf ein Bühnenbild, wie es passender und eindrucksvoller nicht hätte ausfallen können. Das Passagierschiff wurde angedeutet als ein Podest mit zwei großen Schornsteinen und einer Reling, an der sich die gegenwärtige Handlung abspielt. Hier wurde auch getanzt zu den Klängen einer kleinen Jazz-Band, die auf dieser Fläche ebenfalls Platz fand. Darunter war die Kabine von Lisa und Walter angedeutet. Eine Unterbühne wurde hochgefahren, auf der die Szenen aus dem KZ – Schlafraum mit Holzpritschen für die Frauen, Lagerraum mit Koffern und Wäschestücken etc. – abliefen.
Die ausgefeilte Lichtregie (Falk Hampel) schaffte die jeweilige Atmosphäre – hell und fröhlich an Bord des Schiffes, düster und bedrohlich während der KZ-Szenen. Ingrid Leibezeder entwarf die Kostüme, elegante Roben für Lisa und Marta an Bord des Schiffes, die Herren in hellen Anzügen. Schlichte graublaue Anstaltskleidung für die KZ-Gefangenen, schwarze Uniformen für die SS-Männer.
Aber nicht nur szenisch, auch gleichermaßen musikalisch war es ein grandioser Abend. Das Philharmonischen Orchester der Hansestadt Lübeck unter der Leitung von Takahiro Nagasaki leistete Großartiges. Höchst eindrucksvoll gelang es, die Besonderheit von Weinbergs Partitur herauszugestalten, die Musik sehr differenziert zu interpretieren und die jeweilige Gefühlslage der handelnden Personen vielschichtig aufzuzeigen. Weinbergs Komposition läßt sich charakterisieren als eine außergewöhnliche Theatermusik, in welcher spätromantische Üppigkeit mit Zwölftontechnik kombiniert wird. Hinzu kommen atonale Klänge, folkloristisch anmutende Motive, sogar schwungvolle Jazz- und Unterhaltungsmusik. Eine Melodienfolge, die sehr an Edith Piafs „Padam Padam“-Thema erinnerte, kam wiederholt im zweiten Akt vor. Sanfte Geigen- und Flötenspiele begleiteten die Auftritte der KZ-Insassinnen, harte brutale Trommelschläge dagegen, wenn die SS-Männer im Anmarsch waren.
Gesanglich wie darstellerisch bot das Lübecker Ensemble wiederum ein gewohnt hohes Niveau. Als Marta brillierte die aus Ungarn stammende Sopranistin Adrienn Miksch. Sie gestaltete ihre Partie bedrückend intensiv, zart und traurig, sang gefühlvoll und ausdrucksstark insbesondere ihr Lied, von Sandor Petöfi geschrieben, über Freiheit und Tod, sowie ihren Schluss-Monolog über die Erinnerung an ihre ermordeten Freundinnen.
Die Mezzosopranistin Marlene Lichtenberg überzeugte in der Partie der Lisa mit immenser darstellerischer und gesanglicher Intensität sowohl als plötzlich verunsicherte Diplomaten-Gattin im langen weißen Abendkleid und Sonnenbrille an Bord des Schiffes, als auch in ihrer Rolle als energische KZ-Aufseherin, deren tückische Freundlichkeit gegenüber den Insassinnen sie umso gefährlicher erscheinen ließ.
Ihr Ehemann Walter, dem sie nach der Begegnung mit der Passagierin Marta ihre frühere Tätigkeit als KZ-Aufseherin gebeichtet hatte, bangt nun um seine Stellung im diplomatischen Dienst, falls die Vergangenheit seiner Frau offenkundig würde. Und so hofft er aufs Vergessen, und darauf, daß die Vergangenheit ruhen wird. Konstantinos Klironomos sah elegant und bedeutend aus in seinem hellen Anzug, und sein strahlender, überaus kraftvoll eingesetzter Tenor klang für diese Partie fast schon zu heldisch.
Jacob Scharfman als Tadeusz hatte anrührende Momente in seinem Duett mit Marta, seiner Verlobten, konnte seinen kernigen Bariton in der Szene mit Lisa ausdrucksvoll einsetzen, und hatte eine starke Szene, als er dem Lagerkommandanten dessen Lieblingsstück auf der Geige vorspielen sollte und stattdessen Bachs d-Moll-Chaconne spielte, was für ihn das Todesurteil bedeutete.
Hochemotional gerieten die Szenen von Martas Mitgefangenen vor ihren Holzpritschen, wenn die Russin Katja (Natalia Willot) ihr berührendes Heimatlied a capella direkt am Bühnenrand sang, oder wenn Bronka (Julia Grote) ihr Gebet anstimmte, wenn Hannah (Delia Bacher) an ihre griechische Heimat denkt, wenn Yvette (Elizaveta Rumiantseva) ihre Mitgefangenen in französisch unterrichtet, oder wenn alle zusammen – Krystina (Friederike Schulten), Vlasta (Aditi Smeets) und die Alte (Ina Heise) – Martas Geburtstag feiern wollten und ihr eine Kerze schenkten.
Zynisch wurde es, als die drei SS-Männer (Viktor Aksentijevic, Changjun Lee und Wonjun Kim) ihr Terzett über ihren recht langweiligen Dienst im Lager sangen, der jedoch amüsanter sei als jetzt an der Ostfront zu stehen. Und so richtig brutal wurde es, als diese drei eine der Insassinnen mit Knüppeln und Fußtritten mißhandelten. Hier verließen einige Besucher bereits den Zuschauerraum.
Der von Jan-Michael Krüger perfekt einstudierte Chor und Extra-Chor des Lübecker Theaters, meist aus dem Off singend und so die Handlung kommentierend, wurde am Schluß in den nicht enden wollenden Applaus und den Jubel des begeisterten Publikums ebenso mit einbezogen wie die Darsteller der Sprechrollen.
Mit dieser phänomenalen Inszenierung ist dem Lübecker Opernhaus wieder einmal ein ganz großer Wurf gelungen, und es bleibt zu hoffen, daß der Komponist Mieczyslaw Weinberg auch weiterhin gewürdigt wird und seine weiteren fünf Opern ebenfalls das Interesse der Opernhäuser finden werden.
Immerhin wurde seine vierte Oper, Lady Magnesia (1975 nach einem Theaterstück von George Bernard Shaw geschrieben) im Jahre 2012 am Theater Erfurt uraufgeführt, bereits 2009 gab es eine konzertante Aufführung in Liverpool. Seine sechste und letzte Oper, Der Idiot, die er 1987 nach Dostojewskis Romanvorlage komponierte, erfuhr ihre Uraufführung 2013 am Nationaltheater Mannheim. Wir können also hoffen …..