Leipzig, Oper Leipzig, PETER GRIMES - Benjamin Britten, IOCO Kritik, 15.05.2023
PETER GRIMES - Benjamin Britten
- Eine sensible Milieustudie - Hat Peter Grimes tatsächlich gelebt? -
von Thomas Thielemann
Crabbe und Britten: Eine gewisse gleiche Idee von England!
Hat Peter Grimes tatsächlich gelebt? Seine Beobachtungen der Stadtgesellschaft des englischen Nordsee-Küstenortes Aldeburgh und offenbar eigene Erfahrungen verarbeitete der Dichter Georg Crabbe (1754-1832) mit einem teils lyrischem, teils erzählendem Gedicht „The Borough“. In aussagefähigen Traktaten erzählte er auch die Geschichten von vier Charakteren: des Gemeindeschreibers Jachin, des Lehrers Abel Kaene, der Witwe Ellen Orford und des Fischers Peter Grimes. Der Sohn Crabbes berichtete, sein Vater habe ein tatsächliches Vorbild für Grimes gehabt, ein Fischer, der sich aus Londoner Waisenhäuser mehrfach „Lehrjungen“ holte, die unter mysteriösen Umständen gestorben sind. Der Dichter schilderte, wie die Gemeinde die Brutalitäten Grimes über lange Zeit ignorierte und erst spät eingreift. Im Gedicht schildert Crabbe den Abstieg Peter Grimes in den Wahnsinn, nicht ohne dabei auch Mitgefühl für „den verlorenen, einsamen Mann, so belästigt und rückgängig gemacht“ anklingen zu lassen, um aber vor allem die Verantwortungslosigkeit der Stadtgesellschaft herauszustellen.
In Eskondito, einer kleinen Stadt im USA-Staat San Diego, wohin 1939 Benjamin Britten (1913-1976) mit seinem Partner, dem Tenor Peter Pears (1910-1986), vor den Kriegswirren geflüchtet war, reifte der Entschluss, Crabbes Vorlage zu vertonen. Zurück in England beauftragt Britten den Publizisten und Schriftsteller Montagu Slater (1902-1956) mit der Erarbeitung eines Librettos. Britten erwartete mit dem Libretto einen Titelhelden, der Opfer der Gesellschaft und zugleich Repräsentant der Wertvorstellungen dieser Gesellschaft darstellt. Brittens Erfahrungen als Homosexueller und Kriegsdienstverweigerer, die damit verbundene Ausgegrenztheit, seine Isolation, der gesellschaftliche Druck sollten reflektiert werden. Er wollte Grimes weder als Schurken noch als Päderasten, sondern als einen Sohn der Unbarmherzigkeit des Meeres sehen, der beschuldigt wird, das Böse zu produzieren. Das engstirnige, bigotte, verlogene Bürgertum der englischen Provinzstadt verdächtigt, beschuldigt ihn, hätte ihn fast gelyncht und treibt ihn letztlich in den Suizid. Wer sich abseits stellt, den vernichten wir, sollte zur Quintessenz der Oper werden.
Worin besteht der Konflikt in der Oper: Der eigenbrötlerische Fischer Peter Grimes kam von einer längeren stürmischen Ausfahrt mit dem Leichnam seines an Entkräftung verstorbenen Gehilfen zurück. Während die Obrigkeit das als Naturgegeben akzeptiert, lastet in der Gemeindegesellschaft der Mordverdacht auf Peter und führte zu massivem Mobbing. Als Peters nächster junge Gehilfe durch einen Unfall ums Leben kommt, können auch Wohlmeinende, die Lehrerin Ellen und der Kapitän Balstrode, die verhängnisvolle Entwicklung nicht mehr aufhalten.
Brittens Musik bietet ein melodisches Profil, ist farbenreich im Musikalischen, verfügt über modale Wendungen, wie auch Polytonalität vor allem im Orchestersatz. Mit sparsamen Mitteln und einer herben Tonsprache gestaltete er den epischen Stoff zu einem eindrucksvollen Gesamtwerk. Britten begnügte sich bevorzugt mit knappen Motiven von lyrisch-epischer Schlichtheit rezitativ gestalteter Szenen. Zum stärksten der Oper gehören die kraftvollen Chorszenen, über denen sich oft die Solostimmen mit strenger, ausdrucksvoller Melodik erheben.
Besonders hervorzuheben sind die Orchesterzwischenspiele, die auch als „Sea-Interludes“ die Konzertsäle eroberten. Ausdrucksstark zeichnen sie das Bild der englischen Nordseeküste: bedrohlich, gewaltig, düster und unberechenbar gefährlich. Das Meer ist aber nur Allegorie der Fremdheit und Unberechenbarkeit: die „Sea- Interludes“ sind letztlich Seelenbilder, Allegorien für Fremdheit und Unberechenbarkeit.
In den vergangenen Jahrzehnten ist Brittens Peter Grimes trotz seiner Bedeutung nur sporadisch in den Spielplänen der Opernhäuser vertreten gewesen. Offenbar erfordern aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, die Flüchtlingsproblematik, entwickeltes Diversitätsverständnis, die Corona-Pandemie eine Aufarbeitung auch auf der Opernbühne, so dass derzeit die Oper eine größere Zahl der Spielpläne der Häuser bereichert. Für Kay Link bedeutete das eine Herausforderung, gegen aktuelle Inszenierungen von Christine Mielitz, Deborah Warner, Stefan Herheim, Stephen Lawless, Christof Loy, Dirk Schmeding, Markus Dietz, Keith Warner, Fredderic Roels und Tilman Knabe eine eigenständige Produktion auf die Leipziger Opernbühne zu bringen.
Da die Fabel der Oper nicht eindeutig ist, nutzte Kay Link den bestehenden Freiraum zu überraschenden Auslegungen. Seine Inszenierung zeigte Grimes zwar als traumatisierten Einzelgänger, doch noch weicher als ihn schon Britten gegenüber der Vorlage Crabbes zeichnete, weniger als Sünder denn als jemanden, gegen den in einem Strudel von Annahmen und Verdächtigungen gesündigt wurde. Viele kleine Nebenhandlungen und eine präzise Personenregie machten die Inszenierung zum Erlebnis, das unter die Haut ging.
Das sparsame Bühnenbild Dirk Becker verzichtete auf üppige Schauwerte und stellt eine der typischen Mehrzweckhallen dar, die am Morgen als Markthalle genutzt werden. Am Tagesverlauf dienen sie für Sitzungen des Gemeinderates, für Begegnungen der Stadtgesellschaft und am Abend durchaus für Feste, ansonsten auch als Lager.
Peter Grimes - Erste Probeneindrücke youtube Oper Leipzig [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Obwohl es keinen Hafen, kein Meeresglitzern gab, wurde das Auge nicht unterfordert. Aus der perforierten Rückwand wurden beeindruckende Chorszenen aufgebaut. Die Dorfgemeinde in den zeitlosen Kostümen von Silke Wey wuselte entweder betriebsam oder rottete sich zum gefährlichen Mob gegen den Außenseiter zusammen. Eine bewegliche Lichtregie von Michael Röger schaffte scharfe Kontraste, weitete und verengte die Szene, passte sich den Seelenzuständen der Agierenden an.
Aufwendige Videoinstallationen von Tilman König vermittelten Informationen aus der Vorgeschichte, aus der Außenwelt sowie Stimmungen rund um das Meer. Beklemmend die Bilder vom Tode des ersten Gehilfen Peters.
Im ersten Aufzug erfolgte die Auslegung des Librettos noch vergleichsweise konventionell: Auntie, die Kneipenwirtin ist eine Zuhälterin, der Bürgermeister Swallow lässt sich von Prostituierten verwöhnen, die Witwe Mrs Sedley ist süchtig und wird vom Apotheker Ned Keene mit Drogen versorgt. Der Fuhrmann Jim Hobson betreibt Menschenhandel mit den Waisenkindern.
In der Folge übernahmen symbolische Bilder über Strecken den Handlungsablauf. Der Anfang des zweiten Aktes war zu einer Romanze der Ellen mit dem John und zu einem regelrechten Eifersuchtsdrama durchaus schlüssig umgedeutet.
Während die Gemeinde hinter einem Tüllvorhang Gottesdienst hielt, spielte sich in Peters Hütte eine durchaus ausdeutungsfähige Szene zum Unfalltod des von Jonathan Walldorf stumm dargestellten John.
Mit dem dritten Akt löste Link das Bühnengeschehen komplett vom Libretto: die hasserfüllten Texte wurden von einer ausgelassen feiernden Dorfgemeinschaft gesungen, so dass sich bei mir die Hoffnung einstellte, Kai Link habe sein Finale unseren heutigen Wertvorstellungen angepasst und lässt die Gesellschaft Peter Grimes integrieren.
Die Partie des Peter Grimes erfordert einen Sänger der große Belastungen aushalten kann. Mit beeindruckender physischer Präsenz war Brenden Gunell die psychodramatische Ausfüllung seines Grimes in seiner tragischen Zerrissenheit als Eigenbrötler und Liebe suchender Beschützer hervorragend gelungen. Den Herausforderungen der Rolle begegnete er mit heldentenoraler Durchschlagskraft und offenbarte einen Vollklang, der den Nöten des Ausgestoßenen eruptive Kraft verlieh. Lyrische Innigkeit und eine variable Bandbreite standen ihm ebenso zur Verfügung, wie eine feinsinnig aus dem Wort entwickelte Tongebung.
Mit viel Einfühlungsvermögen und Sensibilität hatte Martina Welschenbach die Figur der Witwe und Lehrerin Ellen Orford entwickelt. Sie strahlte den noch im Ort verbliebenen Rest an Empathie und Mitgefühl, allerdings nicht ohne Wahrung eigener Interessen, aus. Ihr heller lyrischer Sopran bezauberte mit berückend schönen Höhen-Piani und schwebendem Legato und gaben der Ellen eine einfache, nicht aufgesetzte Schönheit. Von ihrer Auffassung der Rolle mit einer faszinierenden Mischung aus junger Frau und alter Seele wäre sie eine starke Frau an Peters Seite geworden.
Ned Keene war von Jonathan Michie mit durchsetzungsstarkem Bariton und spiegelte die Hin- und Her Gerissenheit zwischen Sympathie für Grimes und dem Wissen um dessen dunkle Geheimnisse. Sein Balstrode war das Gewissen und die mahnende Stimme der egoistischen und selbstgefälligen Gemeinschaft, die sich zum Richter gegen einzelne Menschen aufspielt um eigene Unzulänglichkeiten zu vertuschen.
Der Apotheker, Schieber und Dealer Ned Keene war von Jonathan Michie mit seinem noch jugendlichen schlanken Bariton sowie seiner prägnanten ausdrucksvollen Gestik insbesondere mit dem Kneipen-Lied zu einem interessanten Rollenbild gestaltet worden. In der Inszenierung trat er wie ein Querdenker auf, der allein für sich den Durchblick beansprucht.
Großen Spaß bereitete die kernige Karin Lovelius mit ihrem kraftvollen Mezzosopran als die umtriebige Wirtin Auntie. Aktiv auch bei der Vermittlung ihrer Nichten, war faszinierend, wie sie ihre Angelegenheiten managt. Die einzige Außenseiterin, die sich auskennt.
Als wirbelnde Nichten lockerten die Mezzosopranistin Dalia Besprozvany und der Koloratursopran Jessica Leao die Stimmung auf und halfen auch so manchem Herrn zu Entspannungen. Das hervorragend von den Frauen, Auntie, den beiden Nichten sowie Ellen gesungene Quartett ist ein seltenes Juwel. Mit ihrer Auslassung über Männer, die sie missbrauchen, um dann Mitleid zu heucheln sicherten die vier Frauen einen musikalischen Glanzpunkt.
Als Bob Boles gab der isländische Tenor Sven Hjörleifson einen an Jochanaan erinnernden Fischer und Methodisten, der dem Alkohol zugeneigt aber voller schauspielerischer Finesse mit guter Textverständlichkeit agierte. Er hasst Grimes und befeuert, erst ohne Wirkung, dann aber mit Erfolg seine Hexenjagd. Er verbringt viel Zeit, Dinge zu sagen, die zumindest heute als „gesunder Menschenverstand“ durchgehen würden.
Das erste Wort der Oper gehörte der Ordnungskraft der Gemeinde Hobson, damit dem Bassisten Marcel Brunner, der dann als Fuhrmann die gelegentlich anrüchigen Dienstleistungen ausführte. Pastor Adams wurde von dem chilenischem Tenor Àlvaro Zambrano mit lyrischem Glanz zelebriert. Eigentlich eine Luxusbesetzung für diese kleine Rolle. Den Bürgermeister und Rechtsanwalt Swallow spielte Randall Jakobsh prätentiös und sang mit einem souveränen klangschönen Bass.
Kathrin Göring zeigte einen etwas skurrilen Miss-Marple-Verschnitt und stellte die merkwürdige Figur in den richtigen Konsens. Dass die kriminalerfahrene Witwe Mrs Sedley am Ende noch immer auf der Suche der Wahrheit bleibt, trägt zum offenen Ende der Inszenierung bei. Mrs Sedley, charakteristisch nervös gesungen von Kathrin Göring, ist nur eine der mit dramatischem Feinsinn gestalteten Nebenfiguren.
Ganz besonders überzeugte der Chor mit seiner „zweiten Hauptrolle“. So lebensecht, so bedingungslos, so abgründig ist selten eine Gesellschaftsstudie zu erleben. Die oft rhythmisch und harmonisch durchaus vertrackte Musik meisterte der Chor, von trefflichen Solistenrollen durchmischt, souverän. Das schauspielerische Niveau erstreckte sich auf jede kleine Rolle ebenso auf jedes Chormitglied. Alle bildeten einen glaubwürdigen Mob, der in der Kirchenszene dennoch mit süßem Ernst singt.
Mit klaren starken Farben, harten Konturen und gelegentlich zugespitzten Tempi durchleuchtete der Dirigent Christoph Gedschold mit dem motivierten Gewandhausorchester Brittens geniale Partitur fernab von romantisierender Verbindlichkeit. Beeindruckend waren die hervorragenden Bläser der Kapelle.
Eine großartige, nicht einfache Interpretation einer Oper, die ohne Beispiel in Libretto und in der Musik Pein und Elend eines tragischen Sozialkonfliktes am Beispiel eines Außenseiters vor Augen und Ohren führte.
Am Ende der bewegenden und aufwühlenden Vorstellung gab es den überaus begeisterten, hochverdienten Applaus für die Agierenden und das Inszenierungsteam. Alle an der gelungenen Produktion Beteiligten auf der Bühne und im Orchestergraben nahmen die große Anerkennung der Besucher entgegen.