Kultur: Die Systemrelevanz der Kulturkritik - ein Essay, IOCO Aktuell, 13.05.2020
Die Nöte der Künstler in dieser Zeit
- Die Systemrelevanz der Systemkritik -
von Hans-Günter Melchior
Kunst ist ihrer Natur nach subversiv. Ihre Sehnsucht will hinaus in die grenzenlose Freiheit. Und ihr Misstrauen gilt der Form. Und gleichzeitig droht sie im Formlosen unterzugehen. Im Chaos. Denn die Form ist Begrenzung und Halt. So ist die Form oder, um einen anderen Begriff zu gebrauchen, das System der Form, Rettung und Untergang zugleich.
Und dieser Widerspruch ist unauflösbar, geradezu die Bedingung der Kunst. Ludwig van Beethovens formsprengende Musik, die die Zeitgenossen zuweilen in „Angst und Schrecken“ versetzte (s. der Schlusssatz der 8. Sinfonie) . Von der Modernen mit ihrer Verachtung der Tonarten als Einengung und Reglementierung, gar nicht zu sprechen.
Und Mozarts, ach, der liebe, glühend verehrte Mozart, war und ist angeblich ein Liebling des Bürgertums. Das freilich selten seine „heitere Melancholie“ zu begreifen scheint, diese über den Dingen schwebende Musik, der man den Schmerz über den Verlust der absoluten Freiheit anhört –; und dann an manchen Stellen sich zugleich geradezu zufrieden und nur scheinbar harmlos räkelt in der ironisch gebrochenen Gewissheit, in einer Form aufgehoben zu sein.
Die Oper macht da keine Ausnahme
Von der bildenden Kunst gar nicht zu reden. Ihre Geschichte ist die eines einzigen Abenteuers, einer Systeme, Anschauungen und Formen geradezu umstürzenden Dauerrevolution.
Kaum anders verhält es sich, wenn auch nicht so drastisch wie in der bildenden Kunst, in der Literatur, von Schillers Räuber über die sogenannte Entliterarisierung der Theaterkunst im 20. Jahrhundert bis zum postdramatischen Theater und der Perfomance der Neuzeit.
Dabei ist es nicht nur der Widerspruch zwischen Form und Freiheit, es sind auch die inhaltlichen Widersprüche. Am deutlichsten ausgesprochen noch in der Literatur, die nicht gerade selten gegen die gesellschaftlichen Zustände anrennt wie gegen Gefängnismauern.
Die Kritik an den Verhältnissen und die Forderung nach Erneuerung, zur Veränderung der Gesellschaft gehören geradezu zum Credo der modernen Literatur.
Liegt es – vielleicht unbewusst – gerade daran, am immanenten revolutionären Impetus, dass die Sachwalter und (ebenfalls ihrer Natur nach) die Bewahrer der Macht- und Herrschaftsverhältnisse von Hilfsprogrammen für die Wirtschaft in der Corona-Krise geradezu schwärmen und dabei, wenn überhaupt, die Kultur eher kleinlaut und pflichtschuldig nur am Ende erwähnen? Es ist mehr eine Selbstermahnung der Politik. Aber es fehlt ihr die Empathie, das Mitgefühl, das im Gegensatz dazu den vom Scheitern bedrohten Teilnehmern am Handels– und Wirtschaftsverkehr entgegengebracht wird, diese stirnrunzelnde Sorge um die Arbeitsplätze, die Wachstumsraten und die Dividenden. Kunst ist kein originärer Wirtschaftszweig, über die Kunst lässt sich Krisenbewältigung wirtschaftlich nicht mobilisieren.
Kurz: Dem Staat und seinen Organen ist die Kunst nicht geheuer. So sehr sie auch das Gegenteil behaupten. Sie scheuen sich oder nehmen es nicht einmal wahr, verdrängen es: dieses Hemmungslose und Ausufernde und schwer zu Bändigende, das der Kunst elementar eigen ist, es macht die Handelnden unsicher, ist ihnen, den auf Sicherheit und Stabilität Bedachten wesensfremd –, und wenn sie es sich doch einmal bewusst machen, ist ihr Bekenntnis von dieser schwankenden Unsicherheit, ein Bekenntnis zur Kultur ganz allgemein, als gebe es dies: eine von den Künsten abgespaltene Sonderdisziplin, die sich Kultur nennt.
Wenn man befreundete Künstler fragt, wie ihnen konkret geholfen wird, kommt ein Schulterzucken.
Früher, vor der Krise, so die Klage, hieß es, sollte nur eine neue Kita aufgemacht werden: wir haben kein Geld. Und jetzt auf einmal ist von hunderten von Milliarden die Rede, vor allem für die lautesten wie VW und Lufthansa (die sich außerdem vom Steuerzahler, der ihnen hilft, nicht hineinreden lassen wollen und auf den Dividenden und Boni bestehen), aber bei den Künstlern weiß man nicht so genau, wie man ihnen helfen könnte oder schiebt Entscheidungen vor sich her.
Das Schlagwort der Krise ist „Systemrelevanz“. Banken sind systemrelevant, die wirtschaftsbeherrschenden Industrien.
Nur von der Kunst oder den Künsten hört man nichts dergleichen
Dabei ist gerade das seiner Natur nach Systemkritische systemrelevant. Nur am Widerstand wächst das Neue. Alle Entwicklung im Sinne von Fortentwicklung und Verbesserung ist dialektisch, das Neue muss sich am Alten abarbeiten, bevor es sich etablieren kann. Um das zu begreifen, muss man nicht unbedingt Hegelianer sein. Nur unter der kritischen Reflexion des Alten und zwangsläufig mit der Zeit Veralteten wächst der Wille zur Korrektur und Erneuerung. Zur zeitgemäßen Ausrichtung.
Nirgends also mehr als gerade in und durch die Kunst, die die Methode der kritisch-dialektischen Erneuerung geradezu zu ihrem Prinzip erhebt, ist letztlich die Zukunftssicherung zu erwarten. Und zwar im Sinne einer kontinuierlichen Entwicklung und Fortentwicklung. So ist gerade die Kunst das Paradigma des Fortschritts.
Dass die Erkenntnisse der Künste erst in einem vergleichsweise langen Prozess Eingang in das öffentliche Bewusstsein finden und zum Allgemeingut werden, begründet zwar keinen Einwand, ist aber ein weitere Grund für das zögerliche Verhalten der Politik, wenn es um die Unterstützung der Künste geht.
Generell sind die Künste und die Kunstschaffenden ihrer Zeit voraus. Meist auch die Philosophen. An einer Diskussion über Kants kategorischem Imperativ kommt heutzutage eine Ethiktagung ebenso wenig vorbei wie ein Historikerkongress an Hegels dialektischem Geschichtsverständnis. Und dass die vernunftkritischen Ansätze der modernen Philosophie sich insbesondere mit den Auswüchsen und Widersprüchen der ökonomischen Vernunft auseinandersetzen müssen, ist unbestritten.
Dies alles und natürlich noch weit mehr an Innovativem greift die moderne Kunst in allen ihren Sparten auf, verdeutlicht, erweitert es und weist auf die Anwendbarkeit im täglichen Leben hin (füllt es geradezu mit konkretem Leben), setzt es in kritischen Kunstprodukten um, die zwar langsam, jedoch mit der Zeit Eingang ins öffentliche/gesellschaftliche Bewusstsein finden. Kunst ist nicht nur schön, sie ist notwendig.
Und die Kunst ist nicht nur hilfsbedürftig, es ist auch staatliche Pflicht, ihr zu helfen. Die verfassungsrechtlichen Postulate dürfen keine leeren Formeln bleiben.
Die Bayerische Verfassung fordert in ihrem Artikel 140 ausdrücklich:
„(1) Kunst und Wissenschaft sind von Staat und Gemeinde zu fördern.
(2) Sie haben insbesondere Mittel zur Unterstützung schöpferischer Künstler, Gelehrter und Schriftsteller bereitzustellen, die den Nachweis ernster künstlerischer oder kultureller Tätigkeit erbringen.
(3) Das kulturelle Leben und der Sport sind von Staat und Gemeinden zu fördern.“
Kriterium ist freilich die Selbständigkeit. „Selbständig“, so die Auskunft der KSK auf Google, „ist die künstlerische oder publizistische Tätigkeit nur, wenn sie keine abhängige Beschäftigung im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses darstellt.“ Gemeint sind also die besonders unsicheren Einkommensverhältnisse von Künstlern, die keine Ensemblemitglieder in einem Haus mit festen Gehältern sind, sondern von Auftrag zu Auftrag honoriert werden. Und gemeint sind damit vor allem nicht die Stars, die Rücklagen haben, sondern gemeint ist die Masse derer, die gleichsam von der Hand in den Mund leben.
Machen wir uns nichts vor. Die Lage der Künstler ist rechtlich wie tatsächlich fatal. Es gibt zwar eine KünstlerSozialkasse (KSK) und sogar ein Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG), das für Verdienstausfälle eintritt.
Die KSK tritt aber für Verdienstausfälle nur ein, wenn der Verdienstausfall – so die Auskunft einer Künstlerin –, monatlich den Betrag von 3000 Euro erreicht oder übersteigt. Für die Mehrzahl der Künstler ist ein solcher Grenzbetrag eine reine Wunschvorstellung. Was sie brauchen sind Zuschüsse für die monatliche Miete (etwa eines Ateliers) oder die Lebenshaltungskosten. Die Kosten dafür unterschreiten den Betrag von 3000 Euro regelmäßig, so dass diese Künstler leer ausgehen.
Die Bundesregierung, vertreten durch die Staatsministerin Monika Grütters, Beauftragte für Kultur und Medien, kündigt zwar baldige Hilfsmaßnahmen an, Zahlungen sind indessen noch nicht eingegangen.
Baldige Entscheidungen sind dringend erforderlich. In der Zwischenzeit verarmt die Kunst. Viele Künstler wandern in Nebenbeschäftigungen ab, wo ihr Talent verkümmert. Ob sie je zurückfinden, ist fraglich.
Schlechte Aussichten. Die Krise zwingt ohnehin schon jetzt zu Notbehelfen. Die fest angestellten Künstler suchen Alternativen. Kirill Petrenko lässt mit wenigen Orchestermitgliedern der Berliner Philharmoniker Mahlers 4. Symphonie spielen, Daniel Barenboim führt mit einem Teil seines Orchesters die Kleine Nachtmusik auf. Es ergeben sich zwar überraschende Effekte. Skelettartig werden die Strukturen der Werke verdeutlicht, wenn auf einen opulenten Orchesterklang verzichtet wird. Andererseits fehlt es an den Valeurs, der Farbigkeit und der Dynamik des großen Orchesters.
Schlimme Zeiten. Votieren wir für die Künstler, machen wir politischen Druck.
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