Karlsruhe, Badisches Staatstheater Karlsruhe, WOZZECK - Alban Berg, IOCO Kritik, 31.03.2023

Karlsruhe, Badisches Staatstheater Karlsruhe, WOZZECK - Alban Berg, IOCO Kritik, 31.03.2023
Badisches Staatstheater Karlsruhe © Uschi Reifenberg
Badisches Staatstheater Karlsruhe © Uschi Reifenberg

WOZZECK - Alban Berg (1885-1935)

nach Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“

von Uschi Reifenberg

- Kein Ausweg, nirgends -

Wozzeck, der gequälte und leidende Mensch. Symbolfigur für Ausbeutung und Benachteiligung, gefangen im ewigen Kreislauf der Unterdrückung und hilflos jenen Mächten ausgeliefert, die er weder verstehen, geschweige denn beeinflussen kann. Er verfällt nach und nach dem Wahnsinn, der ihn in die Katastrophe führt. Er tötet zuerst seine geliebte Marie, danach sich selbst.

Bei Georg Büchner im 19. Jahrhundert wie bei Alban Berg im 20., aber auch in unserer Zeit, in der sich allmählich wieder ein neues Prekariat herauszubilden beginnt, stellt sich immer wieder die Frage nach dem Zusammenhang von materiellem Elend, äußeren Zwängen und Triebhaftigkeit, die sich im „Falle Wozzeck“ in psychopathologischen Entgleisungen der „armen Leut“ in erschütternder Weise Bahn bricht. Woyzeck gilt als erster Titelheld eines Dramas, der aus dem untersten Stand der Gesellschaft stammt, Büchner formuliert damit in seinem Dramenfragment nicht nur eine scharfe soziale Anklage, sondern zeigt auch den Zusammenhang von Armut, psychischer Krankheit und Kriminalität auf.

Badisches Staatstheater Karlsruhe / WOZZECK hier Szenefoto © Felix Grünschloss
Badisches Staatstheater Karlsruhe / WOZZECK hier Szenefoto © Felix Grünschloss

Der Regisseur Maxim Didenko nahm sich nun am Badischen Staatstheater Karlsruhe, Premiere 25.3.2023, einem der wichtigsten Musiktheaterwerkes des 20. Jahrhunderts an, das an diesem Haus vor 31 Jahren zum letzen Mal zu erleben war, und schuf eine durchweg schlüssige Inszenierung, bildgewaltig, symbolstark und hochspannend.

Justin Brown, der frühere Karlsruher Generalmusikdirektor war für diese Produktion an das Staatstheater zurückgekehrt und wurde zusammen mit der Badischen Staatskapelle für seine herausragende musikalische Leistung vom Publikum stürmisch gefeiert. Geplant und bereits geprobt hatte das Ensemble die Produktion schon im Jahr 2020, die aber aufgrund der Corona Pandemie vorzeitig abgebrochen werden musste.

Man könnte nun mutmaßen, dass sich diese Unterbrechung positiv auf die Umsetzung des Werkes ausgewirkt haben könnte, denn musikalisch wie szenisch blieben an diesem beeindruckenden Premierenabend kaum Wünsche offen.

Der österreichische Komponist Alban Berg komponierte die Oper 1921 in Wien, nachdem er 1914 Büchners Dramenfragment Woyzeck aus dem Jahr 1836 auf der Bühne erlebt hatte, und voller Begeisterung über die sozialkritische Aussage sowie die fatale psychische Entwicklung der Titelfigur, beschloss er, diesen Stoff für seine erste Oper zu verwenden.

Badisches Staatstheater Karlsruhe / WOZZECK hier Birger Radde als Wozzeck © Felix Grünschloss
Badisches Staatstheater Karlsruhe / WOZZECK hier Birger Radde als Wozzeck © Felix Grünschloss

Uraufgeführt wurde das Werk 1925 in Berlin und brachte dem Komponisten -trotz oder wegen der Neuartigkeit seiner freitonalen Tonsprache- den erhofften Durchbruch. Der „Fall Woyzeck“ geht auf eine wahre Begebenheit zurück. 1821 ermordete der Friseur und Militärdienstleistende Christian Woyzeck aus Eifersucht seine Geliebte und wurde zunächst für unzurechnungsfähig erklärt, da er halluzinierte und möglicherweise schizophren war, aber ein psychiatrisches Gutachten erkannte ihn für voll zurechnungsfähig und damit schuldfähig, so dass er drei Jahre später öffentlich hingerichtet wurde.

Berg übernahm Büchners Originaltext, verdichtete die lose und unvollendete Szenenfolge auf drei Akte mit jeweils fünf Szenen und komponierte überleitende Orchesterzwischenspiele mit thematischem Bezug. „Es ist nicht nur das Schicksal dieses von aller Welt ausgenützten und gequälten armen Menschen, was mir so nahe geht, sondern auch der unerhörte Stimmungsgehalt der einzelnen Szenen", schrieb Berg.

Mit seiner Komposition schuf der Komponist eine hochexpressive musikalische Sprache, deren Unmittelbarkeit von immenser Wirkung ist, die den Boden der Tonalität zwar verlässt, aber immer wieder zu ihr zurückkehrt. Bergs Intension war „den geistigen Inhalt von Büchners unsterblichem Drama auch musikalisch zu erfüllen, seine dichterische Sprache in eine musikalische umzusetzen“.

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Er verwendet Zwölftontechniken, wie in Wozzecks Szene mit dem Arzt, oder das „Mahlerisch“ hochromantisch anmutende Zwischenspiel in d-Moll am Ende der Oper. Strukturiert hat Berg sein Werk in strengen Formteilen, die der absoluten Musik entstammen, sich dem Hörer jedoch als solche kaum erschließen. Der 1. Akt ist gegliedert in „Fünf Charakterstücke“, der zweite überschrieben mit „Symphonie in fünf Sätzen“, der 3. beinhaltet „Fünf Inventionen“. Auch gibt es einige Leitmotive, die Menschen und Ereignisse charakterisieren.

Die Stimmbehandlung verlangt den Sängern das Äußerste ab: Vom riesigen Tonumfang über Sprechen auf bestimmten Tonhöhen, Schreien, Belcantogesang, rhythmischem Sprechen, bis zum Singen von einfachen Kinderliedern.

Besetzt ist ein großes Orchester mit ca. 100 Musikern und seltener eingesetzten Instrumenten wie Rute oder Bombardon. Außerdem kommt ein Bühnenorchester zum Einsatz mit Trommeln, Ziehharmonika, Gitarren, Bläsern, Klavier und einer „Heurigenmusik“.

Maxim Didenko verlegt sich in seiner farbintensiven und surrealen Inszenierung ganz auf die seelischen Tiefenschichten der Hauptfigur, zeigt Wozzecks psychopathologische Zustände, „die verwunschenen Gärten seines Inneren“ (Didenko), die ihn in einer Abwärtsspirale immer weiter in die Katastrophe ziehen. „Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinunterschaut“, sinniert Wozzeck, wenn er von Maries Untreue erfährt.

Die vorherrschenden Farben sind grau/schwarz, weiß und rot, am Ende werden wasserblaue Schläuche hereingezogen, in welchen Wozzeck Marie ermordet und dann selbst in deren „Fluten“ versinkt. Hervorragend sind Bühnenbild und Kostüme: Maria Tregubova, ebenso die subtil eingesetzten Videoprojektionen: Ilya Starilov, sowie die Lichtregie: Christoph Pöschko.

Schwarz-weiß ist der schmale Bühnenausschnitt gehalten, in dem Wozzeck den Hauptmann rasiert, in der Mitte ein Videoausschnitt, der ein Männergesicht zeigt. Wozzeck, ein kultivierter Durchschnittstyp in schwarzem Anzug, Krawatte und weißem Hemd, der Hauptmann, eine zwanghafte Figur in weißem Anzug, der Wozzeck als „guten Menschen“ bezeichnet.

Schon in der ersten Szene wird Wozzecks Zerrissenheit deutlich, sein psychischer Ausnahmezustand, das allmähliche Abgleiten in die geistige Umnachtung, die brüchige Realität, in der er längst nicht mehr verankert ist.

Er wetzt das Rasiermesser, hat Visionen, Mordfantasien quälen ihn, er verletzt sich selbst, und plötzlich ist die Bühne in rotes Licht getaucht, ein verzerrtes blutiges Gesicht erscheint als Horrorvision. Rot gekleidete Tänzer*innen, Marie-Doubles, drücken in beeindruckenden Choreografien die Emotionen der Figuren aus.

Badisches Staatstheater Karlsruhe / WOZZECK hier Matthias Wohlbrecht als Hauptmann, Birger Radde als Wozzeck, Vazgen Gazaryan als Doktor © Felix Grünschloss
Badisches Staatstheater Karlsruhe / WOZZECK hier Matthias Wohlbrecht als Hauptmann, Birger Radde als Wozzeck, Vazgen Gazaryan als Doktor © Felix Grünschloss

Ein symbolhaftes Leitmotiv ist der immer wiederkehrende Mond, der übergroß von oben herabschwebt und das Geschehen begleitet, mal näher, dann wieder weit weg; blutrot, als wolle er den nahenden Untergang beschwören, dann wieder rostig, oder grau, kalt und abweisend. „Wie der Mond rot aufgeht! Wie ein blutig Eisen!“ heisst es am Ende, bevor Wozzeck Marie tötet.

Der Doktor, ein überheblicher Wissenschafts-Freak, der den hilflosen Mann zu medizinischen Zwecken missbraucht, behandelt ihn „auf der Couch“ mit Psychoanalyse, in „Freud’scher“ Manier, bis Wozzeck im Irrenhaus auf einem Matrazenlager erwacht. Ein weiß gekachelter, in grelles Licht getauchter Raum, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt, Später wird Wozzeck die Wände einreißen um ins Freie zu gelangen.

Ein schwarzer Sarg wird vom Doktor und dem Hauptmann hereingefahren, dem ein Tänzer mit dem roten Luftballon entsteigt. Ein letzter Zufluchtsort, in den sich Wozzeck hineinlegt, vom Doktor und dem Hauptmann genötigt.

Seine Geliebte Marie, eine lebenshungrige Blondine mit rotem Kleid und roten Schuhen, die sich eine gesicherte Existenz für sich und das gemeinsame Kind wünscht, wird von Didenko stark sexualisiert gezeigt: sie sitzt in der Bühnenmitte, mit zwei überdimensional verlängerten gespreizten Beinen, die den gesamten vorderen Bühnenraum einnehmen. Ein skurriles und treffendes Bild, das für Erheiterung im Publikum sorgt. Der Tambourmajor, ein eitler Blender, mit dem sie sich einlässt und der ihr kurzfristig ein wenig Trost in ihren hoffnungslosen Alltag bringt, korrespondiert farblich mit ihr: Gesicht und Kleidung sind ebenfalls komplett in rot gehalten. Maries Gewissensbisse über ihre Untreue wandelt sie zur Büßerin im weissen Kleid, eine Art Maria Magdalena, die im Glauben Vergebung sucht.

Wozzeck und Maries gemeinsames, „armes Kind“, das die Verfehlungen seiner Eltern hautnah miterlebt, ist ein Wozzeck in Miniaturformat, ebenso gekleidet wie sein Vater, mit Anzug und Hut; am Schluss, wenn das Kind vom Tod seiner Mutter erfährt, singt es ungerührt ein Liedchen „Hopp, hopp …“

Man ahnt den ewigen Kreislauf, den Teufelskreis, in dem sich alles wiederholt, das Schicksal der „armen Leut“, die Geschichte vom unglücklichen Wozzeck.

Justin Brown am Pult der Badischen Staatskapelle hatte Bergs komplexe und schwierige Partitur jederzeit im Griff und entfachte ein wahres Feuerwerk der vielschichtigen Formen und Farben, überzeugte mit transparentem Klang und idealer Balance zwischen Bühne und Graben. Der Dirigent gestaltete die vielschichtigen Zwischenspiele mal fein kammermusikalisch durchgehört, dann wieder spätromantisch pastos, betonte aber auch die atonale Tonsprache Bergs. Das virtuos aufspielende Orchester faszinierte mit wunderschönen Soli, mit Präzision und bewies eine besondere Affinität zu dieser expressiven Musik.

Birger Radde verkörpert den bemitleidenswerten „Antihelden“ Wozzeck absolut glaubhaft, zeichnet eindringlich ein differenziertes Psychogramm des „Opfer-Täters“, dem es nicht gelingt, seine innere Balance wiederzuerlangen und längst abgeglitten ist in innere Bereiche, in denen er für die Außenwelt kaum mehr erreichbar ist. Gefangen in seinen Zwängen, fast mechanisch, absolviert er die erniedrigenden Tätigkeiten, wissend, dass es kein Entrinnen für ihn gibt. Musikalisch erfüllt Radde die immensen Anforderungen dieser Partie großartig und mit beklemmender Intensität. Seine edle Stimme besticht nicht nur durch „Schöngesang“, sondern beeindruckt auch durch eine vielfarbige Ausdruckspalette, klare Diktion und anrührenden Sprechgesang.

Die Marie von Helena Juntunen ist eine zierliche junge Frau mit großer Bühnenpräsenz, die zwischen Liebesanspruch, Mutterpflichten und ihrer Beziehung zu Wozzeck hin- und hergerissen ist. Juntunens raumgreifend dramatischer Sopran leuchtet in der Höhe, die Mittellage ist weich und rund. Mit ihrem betörenden Timbre gestaltet sie anrührend die Szene der Buße.

Ks. Mathias Wohlbrecht als überheblicher Hauptmann, belehrt Wozzeck über Moral und den „guten Menschen“, denunziert seine Geliebte, wohl wissend, dass er Wozzeck damit noch mehr der Verzweiflung ausliefert. Er setzt seinen tragfähigen Tenor mit schneidend-präziser Schärfe ein, und wechselt virtuos zwischen Lyrismen, Sprechgesang und Groteske.

Vazgen Gazaryan, der als Doktor selbst an Profilneurose leidet, und seinen übersteigerten pseudo-wissenschaftlichen Anspruch mit zweifelhaften Versuchen an Wozzeck auslebt, kann seine sadistischen und menschenverachteten Absichten kaum verhehlen. Sein profunder, geschmeidiger Bass klingt bedrohlich, vorbildlich auch seine Diktion.

Als rot bemalter prahlerischer und gewalttätiger Tambourmajor überzeugte Thomas Paul mit Durchschlagskraft und heldentenoralen Qualitäten.

Hervorragend ebenso Nutthaporn Thammathi als Wozzecks Freund Andres mit schönem lyrischen Tenor, Nathanaël Tavernier mit profundem Bass als skurriler und trinkfreudiger 1. Handwerksbursche, der sich in einem Gruselkabinett voller surrealer Gestalten gemeinsam mit dem 2. Handwerksburschen von Merlin Wagner bestens präsentiert.

Die Margret von Jasmin Etminan begeisterte mit voluminösem Alt, überzeugend der Narr von Einar Jónsson sowie Mariens Knabe Jonathan Dicker (Cantus Juvenum), Samuel Kim (Ein Soldat), Sandra Maria Germann (Schauspielerin) und Marius Zachmann (Bühnenklavier).

Bravourös der badische Staatsopernchor unter der Leitung von Ulrich Wagner, die Kinder (Cantus Juvenum) sowie die Tänzer*Innen (Choreografie: Alexander Fend, Sofia Pintzou).

Das restlos begeisterte Publikum spendete lang anhaltenden Beifall, stehende Ovationen und Bravorufe für Sänger, Dirigenten, Orchester und für das Regieteam.

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