Jules Massenet - Visions / Brumaire / Espada / Les Érinnyes, IOCO CD-Rezension, 18.11.2020
Jules Massenet - Royal Scottish National Orchestra - Jean-Luc Tingaud
Visions - Symphonic Poem, Brumaire - Overture, Espada - Suite, Les Érinnyes - Incidental Music, Phèdre - Overture
Jules Massenet Naxos CD 8.574178 - 2020
von Julian Führer
Jules Massenet (1942-1912) war ein ausgesprochener Vielschreiber. 27 Opern, 200 Lieder, dazu Ballette und diverse Schauspielmusiken zeugen von seiner ungebremsten Schaffenskraft. Heute sind nur noch die Opern Manon und Werther bekannt (beide zuletzt am Opernhaus Zürich - siehe Trailer unten - zu erleben), allenfalls noch Thaïs. Vorliegende Aufnahme präsentiert weniger bekannte oder auch ganz vergessene Werke des französischen Komponisten. Mit Jean-Luc Tingaud steht ein ausgewiesener Spezialist für das französische (Opern-) Repertoire des Fin de Siècle am Pult. Aufgenommen wurden diese Stücke am 27. und 28. August 2019 im New Auditorium der Glasgow Royal Concert Hall.
Werther von Jules Massenet mit Diego Florez in Zürich youtube Trailer Opernhaus Zürich [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
1899 veröffentlichte Édouard Noël das weitschweifige Schauspiel Brumaire, das den damals genau ein Jahrhundert zurückliegenden Staatsstreich Bonapartes am 18. Brumaire des Jahres VIII (= 9. November 1799) zum Thema hatte. Massenet komponierte hierzu eine 1901 aufgeführte mitreißende Ouvertüre. Zunächst dräuen Bläser und Pauke, dann folgt in den Streichern ein Seitenthema in Moll, gestopfte Hörner und brummende Bässe künden von drohendem Unheil. Punktierte Rhythmen vor allem der Celli künden von Rastlosigkeit – ein effektvolles Stück Gebrauchsmusik, sicher nicht für die Ewigkeit komponiert. Nach gut der Hälfte des Stückes hört man die kleine Trommel und Trompetenfanfaren aus der Marseillaise („Aux armes, citoyens!“), die von Glocken, Flöten und Harfen abgelöst werden (eine Apotheose von Gounodschem Format kündigt sich an). Die Bläsersätze werden üppiger, von Becken und Trommel untermalt, und münden in einen wahrhaft großen Schluss. So kam Napoleon musikalisch in der Rückschau an die Macht – die Marseillaise freilich ließ er nach seiner Kaiserkrönung 1804 verbieten. Ein effektvoller, gelungener Auftakt.
Massenet : Die Wiederentdeckung eines vielseitigen Vielschreibers Massenet mit unbekannten Stücken auf neuer Naxos CD
Es folgt die symphonische Dichtung Visions von 1891, die eigenhändige Reinschrift der Partitur Foto links. Über lange Zeit dominieren Streicher, besonders im hohen Register (ein Hauch von Brünnhildenfelsen im dritten Akt Siegfried weht über das Orchester), eine rhythmische Flötenmelodie kommt hinzu, von Oboen und Klarinetten übernommen (eine recht deutliche Reverenz an Wagners Waldvogel). Nach sechs Minuten lösen Solovioline, Harfe und Harmonium das Orchester ab (mit viel Nachhall aufgenommen). Erst zweieinhalb Minuten später setzt mit einem ppp-Schlag des Tamtam das Orchester wieder ein, das in den nächsten Takten zu großem Volumen findet, bevor es wieder zur friedlichen Anfangsstimmung zurückfindet. Massenet hat noch einmal eine Solovioline vorgesehen („Ce solo sera choisi par le chef d’orchestre parmi les meilleurs artistes des seconds violons“), eine Sopranstimme (Poppy Shotts) mischt sich mit Vokalisen in die musikalische Stimmung, die den Mittelteil wiederaufnimmt, diesmal aber mit Stützakkorden der Posaunen im pppp, natürlich eine sehr effektvolle Mischung. In den Passagen mit vollem Orchester ist der Einfluss von Franz Liszts symphonischen Dichtungen unüberhörbar.
Die folgenden vier kurzen Stücke sind Auszüge aus der Ballettmusik Espada von 1908 – wie andere Werke Massenets auch von einem spanischen Sujet inspiriert. Instrumentierung (Englischhorn, Kastagnetten) und Molltonleitern erinnern je nach musikalischem Hintergrund entweder an Spanien oder an Bizets Carmen, wobei Massenet bei diesem Handlungsballett natürlich auf illustrative und ‚tanzbare‘ Musik geachtet hat. Toreador und Andalusierin tanzen einen aus der französischen Balletttradition kommenden Pas de deux, Giselles (Ur-)Enkelin hat eine schöne Orchesterpartie – Harfen und Violintriller lassen es erahnen: „Ils se donnent un long baiser.“ Die vier Stücke der Suite enden mit dem Tanz der Mercedes – Schellen, Harfenakkorde, Dreivierteltakt, alles leicht orientalisierend parfümiert. Vielleicht sollte man das ganze Ballett einmal wieder zur Aufführung bringen, das mehr als eine musikalische Kostbarkeit zu enthalten scheint.
Charles Marie René Leconte de Lisle (1818-1894) war einmal Schulautor – diese Zeiten sind vorüber, seine Werke wohl vergessen. Er gehörte zu den Parnassiens, einer französischen Schule, zu der auch Théodore de Banville und der Wagner-Verehrer Théophile Gautier gehörten. Seine Werke waren von formaler Strenge geprägt und behandelten oft antike Stoffe, so auch Les furies, von Massenet als Les Érinnyes in Musik gesetzt. Die Erinnyen (bei Aischylos und anderen auch Eumeniden) sind drei Rachegöttinnen der Antike. Massenet schrieb zunächst eine Version für Streicher, die er 1876 für volles Orchester erweiterte. Das Vorspiel quasi alla funebre schreitet im Marschtempo voran. Ein Mittelteil Allegro con fuoco mit Tamtam geht einer Reprise des Trauerkonduktmotivs im ppp voran. Mit relativ einfachen musikalischen Mitteln ist Massenet hier ein sehr stimmungsvolles Stück gelungen. Die folgende Invocation beginnt sehr ruhig mit Harfen und Flöten. Dem kultischen Charakter des Bühnengeschehens angemessen, bleibt die Musik in einem ruhig fließenden Tempo, bis ein Solocello einen elegischen Gesang anstimmt (während auf der Bühne Elektra ihr Opfer darbringt). Danach wird die musikalische Anfangsstimmung der Stimmung wiederholt. Es folgt ein ebenfalls sehr elegisch gehaltener Entr’acte, in dem einzig ein Unisono der Violinen etwas hellere Färbungen aufkommen lässt. Diese Zwischenmusik klingt in düsterem Moll mit Posaunen aus. Die folgenden drei Divertissements hingegen sind deutlich lebendiger, das erste (Allegro) mit Terzenketten der Flöten, die jeweils unterschiedlichen Stimmungen des restlichen Orchesters gegenübergestellt werden. Das zweite Divertissement im Andante, in den Noten mit „La Troyenne regrettant la patrie perdue“ überschrieben, verwendet wieder Molltonleitern, die uns fremd oder alt vorkommen. Recht üppige Harfenarpeggien werden einer repetitiven Taktstruktur vorangestellt (vier Achtel – Sechzehnteltriole – punktierte Viertelnote). Abschließend (Allegro très décidé) ein letztes Divertissement, wieder über die Molltonleiter Fremdheit herstellend, doch mit dem spätromantischen Orchester und viel Einsatz der Harfen liebliche und schnellere Passagen gegenüberstellend. Der effektvolle Schluss ist nicht alles, was Massenet hierzu geschrieben hat – auf dieser CD ist die Bühnenmusik zu Les Érinnyes mit ca. 30 Minuten das längste Stück, es sind aber noch mehr Stellen dieses teilweise als Melodram komponierten Werks in Musik gesetzt worden, vor allem große Chorpassagen.
Das letzte Stück auf dieser CD ist die Ouvertüre zu Jean Racines Tragödie Phèdre von 1873. Die Atmosphäre ist von Anfang an lastend, die knapp zehn Minuten lange Ouvertüre setzt Motive in Beziehung, aber es bleibt der Eindruck, dass Massenet hier nicht seine ganze kompositorische Energie eingesetzt hat und dass in diesem Fall das Schauspiel doch profunder ist als die vorangestellte Musik. Es mag auch an der Aufnahmetechnik liegen, dass dieses Stück nicht sehr differenziert wirkt; technisch sind Espada und Erinnyen besser gelungen.
Die vorgestellten Stücke, vor allem die Musik zu Les Érinnyes, verdienen mehr Aufmerksamkeit. Massenet sollte nicht nur auf der Opernbühne, sondern auch im Konzertsaal – und im Ballett! – wiederentdeckt werden. Diese CD leistet ihren Beitrag dazu.
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