Hellerau, Festspielhaus, Capell-Compositrice Olga Neuwirth - Sächsische Staatskapelle, IOCO Kritik, 20.04.2023
Capell-Compositrice Olga Neuwirth - Portraitkonzert
- faszinierende Bandbreite modernen kammermusikalischen Schaffens -
von Thomas Thielemann
In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts gründete der Lebensreformer und Möbelfabrikant Karl Schmidt (1873-1948) am Rande von Dresden die Gartenstadt Hellerau und die „Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst“.
Seinen Beschäftigten wollte Schmidt ein einheitliches Konzept von menschenwürdigem Wohnen und Arbeiten bieten. Der Reformarchitekt Heinrich Tessenow (1876-1950) entwarf in der Gartenstadt im Jahre 1909 ein Schulgebäude für die „Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus“ des Komponisten Émile Jaques-Dalcroze (1865-1950) um dessen Ideen einer Einheit von Musik und Bewegung praktizieren zu können. Über die im Laufe der Jahrzehnte unterschiedlichsten Nutzungen des Gebäudes von Internat, Lehrerwohnungen und Schulkomplex mit einem Saal, unter anderem auch als Kaserne, wurde er 2004 zum „Europäischen Zentrum der Künste Hellerau“ kreiert und umfangreich umgestaltet.
Das Haus eignet sich besonders für Veranstaltungen mit einem lockeren Umgang zwischen Publikum und Agierenden. So auch für die zum Teil experimentellen und umfangreichen Porträt-Präsentationen der Capell-Compositeure der Sächsischen Staatskapelle. Am 19. April 2023 wurden mit dem Porträt-Konzert der Olga Neuwirth im Festspielhaus Hellerau die 31. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik eröffnet.
Als Capell-Compositrice der Saison 2022/23 ist Olga Neuwirth bei der Sächsische Staatskapelle engagiert. Die 1968 in Graz geborene Komponistin hatte sich zunächst in „Komposition, Malerei und Film“ ausbilden lassen, bevor sie in der Zusammenarbeit mit Elfriede Jelinek mit ersten Erfolgen aufwarten konnte. Zunehmend hat sie durch Einbeziehung elektronischer Klänge, visueller Elemente sowie neuer Raumkonzepte ihre Ausdrucksmittel erweitert und, unbeeindruckt von Stil- bzw. Genregrenzen, ihr künstlerisches Potential erweitert, ohne dabei die gesellschaftliche Komponente aus dem Blick zu verlieren. Deshalb wäre es grundfalsch, ihr Wirken auf Rebellion mit Verspieltheit zu reduzieren. Sie ist ein freier Geist mit Verantwortungsgefühl.
Bei einem elitären Publikum hat Olga Neuwirth 2019 in der Wiener Staatsoper mit einer Opernversion von Virginia Woolfs Roman Orlando einen gewaltigen Erfolg erzielt, indem sie eine Zeitreise durch gesellschaftliche Prozesse und die Musik unterschiedlichster Stilrichtungen gestaltete.
In den Veranstaltungen der Kapelle war sie mit der deutschen Erstaufführung ihres einsätzigen Orchesterstücks „Dreydl“ im 5. Symphoniekonzert bisher nur bescheiden präsent.
Im Porträtkonzert am 19.4.2023 erhielten wir die Gelegenheit, die faszinierende Bandbreite ihres kammermusikalischen Schaffens ausführlicher zu erkunden. Den Abend eröffneten der Trompeter Sven Barnkoth, der Posaunist Jonathan Nuß, die Schlagzeuger Simon Etzold und Christian Janker, der Pianist Alexander Bülow, der E-Gittarist Alexey Potapov sowie die Cellistin Teresa Beldi mit der 2006 entstandenen Musik zum experimentellen Stummfilm „Diagonal-Symphonie“ von 1924 des Schweden Viking Eggeling.
Mit ihrem „horizontal/vertikal“ benannten Werk nahm Olga Neuwirth die wechselnden Bewegungen sowie Erweiterungen abstrakter Figuren des Filmes auf und ließ die Strukturen mehrfach mit neuen Motiven zyklisch wieder entstehen. Die komplexe Verarbeitung ihres kreativen Materials weckt derart viele Vorstellungen, dass eine Aufführung den Film nicht erforderte.
Minimale Differenzierungen, kaum Reibungen und feine Schattierungen lenkten mit dem Klang der Violinen von Anselm Telle, Yuna Toki sowie der Holztrommel Simon Etzolds die Empfindungen des das „….ad auras…in memorian H..“ Hörenden in sein Inneres. Die von der minimal gegeneinander verschobenen Stimmung der beiden Violinen erzeugte Unschärfe hatte zur Folge, dass selbst der rhythmisch streng geregelte Ablauf der Musik die Verschachtelungen und Überblendungen der Klangereignisse aufspaltete, so dass mehr als ein Lufthauch in der Harmonik entstand.
Als Besonderheit waren die Noten des Stückes auf acht in Reihe stehenden Notenpulten verteilt und die beiden Streicher bewegten sich beim Spiel entlang der Reihung. Das Stück war vom ersten und vierten Satz des Streichquartetts g-Moll op. 10 von Claude Debussy (1862-1918) eingerahmt. Auch wenn sich im Werk Olga Neuwirths kaum Verbindungen zur französischen Musik finden lassen, ist ihre musikalische Denkweise durchaus mit der des französischen Impressionisten vergleichbar. Im ständig präsenten Spannungsfeld aus dem Zerstören von Strukturen und wieder Ordnung schaffen sind beide durchaus kompatibel.
Im Konzert spielten Paige Kearl und Yuna Toki (Violine), Marcello Enna (Viola) sowie Teresa Beldi (Violoncello) die g-Moll-Sätze von Debussy.
Mit ihrem Flötenkonzert „Aello-ballet mécanomorphe“ näherte sich Olga Neuwirth mit stark verfremdeten Zitaten auf etwas ironische Art dem vierten Brandenburgischen Konzert Johann Sebastian Bachs. Mit einer weiteren Bearbeitung „Magic Flu-idity“ ihrer ohnehin extremen Bach-Fassung erfreuten uns Solisten der Staatskapelle, die Flötistin Sabine Kittel und der Schlagzeuger Simon Etzold, diesmal mit unterschiedlichen Flöten und einer mechanischen Reiseschreibmaschine, indem das Spiel mit den Verweisen auf den Thomaskantor Bach in das Äußerste getrieben war.
Von Sabine Kittel waren unterschiedliche Spieltechniken zu präsentieren, um die kapriziös, drängenden lyrischen Passagen zu einem musikalischen Fluss zu führen. Der unerwartbare Einsatz Simon Etzolds mit den Schreibmaschinen-Anschlägen führte zu einer gewissen Unordnung und Ungestümtheit, konnte aber nicht das Organische in Neuwirths ungewöhnlicher Klangentfaltung zerstören. Eingespielte Schwebungen unterstützten die Komplexität. Die Lösung der ungewöhnlichen Gleichung musste sich letztlich der Hörer aus sich selbst finden.
Die griechische Mythologie bleibt auch für Olga Neuwirth eine Inspitationsquelle. So regte sie die Geschichte um den Satyr Marsyas, einem halbgottähnlichen Wesen mit Eselsbeinen und einem menschlichem Oberkörper, der dem trommelschlagenden Gefolge der Göttin Kybele angehörte, zu „Marsyas II“ für Flöte, Klavier, Viola und Violoncello an.
Der Satyr Marsyas hatte von der Göttin Athene die von ihr erfundene Doppelrohrblattflöte, einen sogenannten „Aulos“ übernommen. Weil der Aulos als unspielbar galt, übte er, bis er das Spiel mit Perfektion beherrschte. Von seinem Können überzeugt, forderte er Apoll, den Gott der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs, zum musikalischen Duell. Zunächst schien Marsyas der Überlegene, bis Apoll mit seinen Möglichkeiten als Sänger seine Darbietung ergänzte und deshalb den Sieg zugesprochen bekam. Für die Kühnheit, den Gott der Künste herausgefordert zu haben, ließ Apoll dem Marsyas bei lebendigem Leib die Haut schinden.
Diese Überlegung aus der Antike, dass man im Duell mit Göttern nur verlieren wird, sie nicht herausfordern solle, verarbeitete Olga Neuwirth zunächst in einem Klavierstück, dem im Jahre 2004 das virtuose Quartett „Marsyas II“ folgte. Andreas Kißling (Flöte), Alexander Bülow (Klavier), Marcello Enna (Viola) und Teresa Beldi (Violoncello) interpretierten das imposante Kammermusikstück.
Die unterschiedlich eingestimmten Instrumente erzeugten ein nebulöses Klangbild, unter dem bereits die Vorboten der sich entwickelnden Katastrophe aufblitzten. Die Stimmen der Violine, des Cellos sowie der Flöte waren am Beginn des Stückes derart raffiniert gesetzt, dass sie das Klangbild einer ätherisch wirkenden Doppelflöte erzeugten. Doch die Idylle währte nur kurz. Rabiate Umbrüche entwickelten mit ständigen klanglichen Perspektivwechseln eine vielfach gebrochene Dramatik und führten letztlich zum dramatischen Ende. Es wird unterstellt, dass „Marsyas II“ für Olga Neuwirth die Quintessenz des Künstlerdaseins beinhaltet. Ob die Nähe des Marsyas zur „Großen Mutter Kybele“ noch andere Deutungen der Komposition Olga Neuwirths zulässt, wäre noch zu ergründen.
Einen Versuch, das Schaffen Olga Neuwirths mit der Wiener Klassik in Verbindung zu bringen, stellte der Einschub des Kopfsatzes von Johannes Brahms (1833-1897) Streichquartett Nr. 2 a-Moll op. 51, Nr. 2 in das Porträt-Konzert dar.
Die Zeit der Konzertverbote während der Corona-Pandemie waren für Olga Neuwirth Anlass als eine Art Selbstvergewisserung sechs Stücke unter der gemeinsamen Überschrift „coronAtion“ zu schreiben. Während die Menschen hinter den Fallzahlen und den Auflistungen der Verstorbenen verschwanden, therapierte sich die Komponistin mit einem gewissen Trotz. Bei Spaziergängen mit dem Hund durch Wald und Wiesen, bei der Pflege des Gartens nahm sie die Geräusche auf und skizzierte ihre Befindlichkeiten. Nicht zuletzt Frösche und Vögel inspirierten zu „Ach, ich bin verwundet“; „Einen sterbenden Funken weitertragend“ und „No“, den Überschriften von Protokollen aus 249 Tagen Generalpause.
War es eine voreilige Fehleinschätzung der Olga Neuwirth, dass bereits 2020, also vor den folgenden Pandemiewellen, mit dem „coronAtion V:Spraying Sounds of Hope“ neun Blechbläser und drei Schlagzeuger die Klänge der Hoffnung ihre immensen, hypnotischen Klänge in die Welt hätten schicken sollen?
Die Hornisten Zoltán Mácsai, Andreas Langosch und Julius Rönnebeck, die Trompeter Sven Barnkoth, Sebastian Böhner und Andreas Jainz, die Posaunisten Jonathan Nuß und Carlo Grandi, derTubaist Dominik Nuß mit den Schlagzeugern Simon Etzold, Christian Janker und Björn Stang spielten unter der Leitung Alexander Bülows zum Abschluss des Abends das imponierende „coronAtion V“.
Die neun Blechbläser waren im Raum verteilt. Alexander Bülow hatte nur die Tuba und die beiden Posaunen direkt vor sich und je eine an den Rändern des Podestes aufgestellte Trompete im Blick. Die anderen Bläser überschütteten den Raum von der Rückwand mit den signalartigen Klängen und Stakkato-Motiven. Irgendwie hatte man den Eindruck von einem sich einstimmenden Fanfarenzug vergangener Zeiten, bis sich das Klangbild aus den energischen Phasen verabschiedete und in versöhnende Bereiche zurückzog.
Die Besucher im gut gefüllten Saal des Helleraues Kulturzentrums feierten die agierenden Musiker der Sächsischen Staatskapelle sowie Gäste für ihre Leistungen unter außergewöhnlichen Bedingungen.