Hannover, Staatsoper Hannover, Dialoge der Karmelitinnen - Francis Poulenc, IOCO Kritik, 02.07.2018
DIALOGE DER KARMELITINNEN - Francis Poulenc
Libretto Georges Bernanos, nach Die Letzte am Schafott von Gertrud von le Fort
von Karin Hasenstein
- Singend in den Tod -
Ein Ausflug in die niedersächsische Landeshauptstadt zur dortigen Staatsoper lohnt sich immer, so die Erfahrung der Rezensentin. Ein überaus engagiertes Ensemble, ein großartiger Chor und Extrachor sowie das Niedersächsische Staatsorchester Hannover machen den Opernbesuch dort zum Erlebnis. So fiel auch die Entscheidung zum Besuch einer Vorstellung der Dialoge der Karmelitinnen rasch und erwies sich einmal mehr als lohnend.
Die Dialoge der Karmelitinnen wurden am 26. Januar 1957 im Teatro alla Scala, Milano uraufgeführt; an der Staatsoper Hannover ist diese Produktion von 2018 eine Erstaufführung. Die Vermutung der leitenden Dramaturgin, das Stück sei vielleicht „zu katholisch” gewesen, lässt die Besucher im protestantischen Hannover schmunzeln. In der Tat wirkten drei Katholiken an der Entstehung der Karmelitinnen mit. Der Komponist Francis Poulenc, der Autor des Dramas Georges Bernanos sowie die Dichterin der Novelle, Gertrud von le Fort waren alle gläubige Katholiken.
Die der Handlung zugrunde liegende Geschichte der 16 Nonnen von Compiègne, die ohne ordentliche Gerichtsverhandlung zum Tode durch die Guillotine verurteilt wurden, ist in der Tat historisch verbürgt - die Hauptfigur der Blanche de la Force aus der Novelle Die Letzte am Schafott jedoch entspringt der Phantasie der Dichterin.
Der große Topos der Oper ist Angst.
Die Angst Blanches vor ihrem Vater, der sie daran erinnert, dass ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben ist, Angst vor ihrem Bruder, der sich um seine Schwester sorgt, sich ihr aber wohl mehr als nur brüderlich nähert, Angst vor dem Leben an sich. Ihr Wunsch ist es, ins Kloster eintreten zu dürfen, weil sie sich dort sicher fühlt. Der Vater gewährt ihr diesen Wunsch.
Im Kloster Karmel von Compiègne bei Paris bittet Blanche um Aufnahme in die klösterliche Gemeinschaft. Auch die Warnung der gestrengen Priorin, das Leben als Nonne werde schwere Prüfungen für sie bereithalten, hält sie nicht von ihrem Vorhaben ab. In einer kleinen, aber berührenden Szene nimmt die Priorin Blanche ihr Stoff-Häschen ab, einzig ein Löffel bleibt ihr als persönlicher Gegenstand. Aus Blanche de la Force wird „Blanche von der Todesangst Christi”, und mit der Wahl ihres Ordensnamens manifestiert sie ihre Ängste, die sie doch im Kloster bezwingen wollte.
Der Zuschauer ahnt bereits angesichts der wuchtigen Häuserzeile, die sich hinter ihr schließt, dass dieser Weg nicht zu Seelenfrieden und Befreiung von der Angst führt. Aber nicht allein Blanche hat Angst. Die alte Priorin fürchtet ihren nahenden schweren Tod.
Einen Gegenpol zu all der Angst stellt die junge Novizin Constance dar, die ohne zu zögern ihr Leben für das der Priorin geben würde. Ihre Überzeugung ist, wenn das Leben fröhlich ist, muss doch auch der Tod ein fröhlicher sein. Erschreckender noch für Blanche: Constance glaubt fest daran, dass sie und Blanche jung und am selben Tag sterben werden. Sie wird Recht behalten.
In der Inszenierung von Dietrich W. Hilsdorf findet die Französische Revolution auf der Seitenbühne statt. Keine Jakobiner, keine Sansculotten, keine Barrikaden. Nur 16 Nonnen. Diese tragen auch keinen Habit, sondern Alltagskleidung, um ihre Individualität und Identität zu unterstreichen und die Personenregie sichtbar zu machen (Bühne: Dieter Richter, Kostüme: Renate Schmitzer). Die Kostüme passen mit ihrer 50er-Jahre-Mode (des 20. Jahrhunderts) in die Zeit, in der die Musik entstanden ist.
Ein Einheitsraum stellt sowohl das Haus der Familie de la Force dar als auch das Kloster und schließlich das Gefängnis, in dem die Nonnen auf ihre Hinrichtung warten. Zunächst hängt über der Tür das Porträt Voltaires, im Kloster ersetzt durch ein Kruzifix. Der Sessel von Blanches Vater wird zum Sessel der Priorin; alles Edle jedoch, die kunstvoll geprägte Tapete, die dunkle Holzvertäfelung, wird grün-grau übermalt.
Als Poulenc von Ricordi den Kompositionsauftrag erhielt, soll er gezögert haben, diesen anzunehmen. Eine Oper ohne Liebeshandlung, viele und lange Dialoge, keine Ensembles, zahlreiche Rezitative - konnte das funktionieren? Anderseits verstanden sie in Italien doch so viel von der Oper, dass er im Vertrauen darauf, es werde schon funktionieren, den Auftrag annahm.
In der Tat sind die Karmelitinnen ausgesprochen textlastig, was es stellenweise etwas anstrengend macht, dem Verlauf zu folgen, insbesondere, wenn man des Französischen nicht auf muttersprachlichem Niveau mächtig ist. Das Mitlesen der sehr gut gelungenen und passgenau eingespielten Übertitel lenkt dann leider doch etwas vom Bühnengeschehen ab, andererseits ist es wichtig, will man dem Inhalt der Dialoge folgen. An eigentlicher Handlung passiert nicht viel, jedoch sind es die kleinen aber mitunter sehr feinen Gesten der Nonnen, die jeder einzelnen ihre persönlichen Charakterzüge verleihen und die Beziehungen der Schwestern untereinander verdeutlichen.
Das Instrumentarium weist mit 10-8-6-6-4 einen mittelgroßen Streicherapparat auf. Zwei Harfen, in der Mitte des Orchestergrabens platziert, drei Flöten, drei Oboen, drei Klarinetten, drei Fagotte, vier Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen, Tuba und Schlagwerk sorgen für einen satten symphonischen Klang, ergänzt von Klavier bzw. Celesta. Die Musik ist sehr französisch, stark impressionistisch, bleibt aber immer noch tonal.
Im Finale hat Poulenc das Fallen des Beils als naturalistisches Geräusch in die Partitur hineingeschrieben. Die Zeitpunkte der 16 Hinrichtungen sind exakt - dennoch auf unterschiedlich betonten Zählzeiten - vermerkt. Der Komponist hatte sich dafür eine „ghigliottina“ gewünscht, und mancher Zuschauer fragte sich gespannt, wie die Staatsoper diese Vorgabe wohl umsetzen mochte.
Auch die Enthauptungen werden auf der Bühne nicht inszeniert. Hilsdorf benötigt keine rollenden Köpfe oder andere Ekel-Effekte, um zu beeindrucken oder Spannung zu erzeugen. Nachdem die neue Priorin das Angebot der Polizei, auf die Verfassung zu schwören und damit dem Tode zu entgehen, ablehnt, werden die Nonnen gefangen genommen und warten auf ihr Ende.
Der Legende nach sollen die Nonnen singend zum Schafott gegangen sein. Als die Zeit gekommen ist, stimmen sie ein Salve Regina an, welches immer gesungen wird, wenn eine Schwester zu Grabe getragen wird. Der 16-stimmige Gesang wird mit jedem Fallen des Beils immer weiter ausgedünnt, wodurch sich eine beklemmende Stimmung vermittelt.
Der Chor ist nicht auf der Bühne, aus dem ersten Rang klingt eine Revolutionshymne herüber, während die Nonnen, eine nach der anderen, zu der am hinteren Ende der Bühne gelegenen Ausgangstür je nach Persönlichkeit erhaben schreiten oder rennen. Die Tür öffnet sich, die Delinquentin tritt über die Schwelle in gleißendes Licht und mit einem markerschütternden Knall fliegt die Tür des Lebens zu. Es braucht keine Guillotine, auch so verursacht diese Lautmalerei beim Publikum gesträubte Nackenhaare und bei Einzelnen ist das Entsetzen offenbar so groß, dass sie an dieser Stelle höchster Spannung und Dramatik tatsächlich den Zuschauerraum verlassen.
Die Dramaturgin hatte in der Einführung angekündigt, gleich wie viele Fassungen dieser Oper der Zuschauer gesehen hätte - an das Ende würde man sich stets erinnern; sie sollte Recht behalten. Das Schicksal der Nonnen, die lieber ihr Leben lassen, als ihr Gelübde zu brechen, mag uns in der heutigen Zeit vielleicht etwas fremd anmuten. Obwohl sich Märtyer-Tode ja in Zeiten des religiösen Fundamentalismus durchaus einer gewissen Beliebtheit erfreuen. An dieser Stelle gilt der besondere Dank der Rezensentin Regisseur Hilsdorf dafür, dass die Handlung nicht in ein Ausbildungslager des IS verlegt wurde und statt Nonnen schwarzgekleidete Selbstmordattentäter in den Tod geschickt hat.
Der Stolz, mit dem die Frauen nacheinander singend zum Schafott gehen, muss hingegen berühren, erst recht wenn diese Szene so eindringlich dargestellt wird, wie bei Hilsdorf. Diese Bilder werden Maßstab jeder weiteren Inszenierung sein, die die Rezensentin besuchen wird.
Eindruck hat jedoch nicht nur die Inszenierung der Schlussszene hinterlassen. Die Karmelitinnen sind eine „Frauenoper“. Die fünf großen Frauenpartien sind allesamt beeindruckend und rollengerecht besetzt. In der Rolle der Blanche konnte Dorothea Maria Marx mit großer Gestaltungskraft und beeindruckender darstellerischer Leistung überzeugen. Die in Trier geborene Sopranistin gehört seit der Spielzeit 2006/07 zum Ensemble der Staatsoper Hannover und war dort bereits u.a. als Lucia di Lammermoor, Gilda, Gretel, Mimì, Sophie, Agathe und in vielen großen Mozart-Partien wie Blondchen, Konstanze, Pamina, Königin der Nacht, Fiordiligi, Donna Anna und Vitellia zu erleben. Darüber hinaus wirkte sie als 1. Tochter in der Uraufführung Lot mit.
Der Blanche verleiht sie mit ihrem warmen farbenreichen Timbre immer neue Facetten zwischen Todesangst und unerschütterlichem Glauben an das abgelegte Gelübde. Sie überzeugt nicht nur stimmlich sondern auch darstellerisch absolut in der Rolle der Gequälten, von ihren Angststörungen Getriebenen. Ihre Stimme weist in der tiefen Lage eine große mezzohafte Wärme auf und ist in der Höhe stets sicher geführt und von großer Strahlkraft.
Mère Marie wurde von Almuth Herbst gesungen, die sehr kurzfristig für die erkrankte Monika Walerowicz eingesprungen war. Eine große Leistung, sich so kurzfristig nicht nur in die Rolle, sondern auch die Inszenierung hineinzuversetzen. Die Mezzosopranistin kommt vom Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und wäre keine Ansage gekommen, niemand hätte gemerkt, dass sie kein ständiges Mitglied der Besetzung ist.
Die Sopranistin Kelly God ist seit der Spielzeit 2006/07 Ensemblemitglied der Staatsoper Hannover. Sie war dort bereits als Feldmarschallin in Der Rosenkavalier, Elisabeth in „Tannhäuser“, Freia im „Rheingold“ oder Sieglinde in der „Walküre“ zu erleben. Ihr jugendlich-dramatischer Sopran passte hervorragend zur Rolle der Madame Lidoine, die nach dem Tode von Madame de Croissy die neue Priorin wird. Sie verlieh dieser Rolle den nötigen Respekt, aber auch viel Wärme und liebevolle Fürsorge. Sehr berührend, als sie den Schwestern nach der ersten überstandenen Nacht im Gefängnis erneut das Opfergelübde abnimmt und bedauert, dass sie die Schwestern nicht retten konnte. So ermahnt sie sie zur Pflicht zum Gehorsam. Sie sorgt sich um Blanche, die in den Wirren der Revolution das Kloster verlassen und Zuflucht im Hause des mittlerweile hingerichteten Vaters gesucht hat, sich dann jedoch weigert, in Sicherheit gebracht zu werden. Constance glaubt fest daran, dass Blanche noch zurückkommen wird.
Ania Vegry, ebenfalls Ensemblemitglied der Staatsoper Hannover, verleiht der Constance mit ihrem lyrischen Sopran jugendliche Frische und vermittelt glaubhaft die Zuversicht bis zuletzt. Sie hat im Traum gesehen, dass Blanche in die Gemeinschaft zurückkehren wird. Als sie als letzte der Schwestern übrig geblieben ist, entdeckt sie Blanche, welche ihren Gesang fortsetzt.
Sie geht zum Tisch und betrachtet ihren Löffel, den sie einst bei ihrem Eintritt ins Kloster mitgebracht hat. Dieser Löffel steht zum einen für das Band zu ihrem früheren Leben, ist aber auch der einzige weltliche Besitz. Er zeigt, dass sie Teil der Klostergemeinschaft ist und von dieser ernährt wird. Der Löffel steht aber ganz generell für die lebensnotwendige Tätigkeit des Essens und war der individuelle und kostbare Besitz eines Menschen. Derjenige, der den Löffel abgibt oder weglegt, schließt sich aus der Tischgemeinschaft aus. Das Ende des Lebens wird somit als das Ende der Nahrungsaufnahme beschrieben. Blanche ist in die klösterliche Gemeinschaft zurückgekehrt, ihre Lebens- und Tischgemeinschaft besteht jedoch nicht mehr. Mithin benötig sie auch ihren Löffel nicht mehr.
Sie legt den Löffel nieder, dreht sich um, löst im Gehen ihr Haar und folgt Constance durch die Tür in den Tod. Ein 16. Mal schlägt die Tür des Lebens zu. Dem Knall folgen noch einige kleine Terzen in den Streichern, ein letztes Pizzicato im Pianissimo - dann herrscht Stille. Stille im Orchestergraben und im Zuschauerraum, bis sich die Spannung löst und die Zuschauer sich wieder zu atmen trauen.
Fast möchte man wie nach einem Requiem nur still aufstehen, um die Leistung von Ensemble und Orchester anzuerkennen, jedoch muss sich die angestaute auch körperliche Anspannung irgendwie entladen und das geschieht in lang anhaltendem Applaus und vereinzelten Bravi für die Hauptrollen.
Besondere Erwähnung verdient an dieser Stelle Renate Behle als alte Priorin, Madame de Croissy. Die Kammersängerin kann auf eine vier Jahrzehnte währende Karriere zurückblicken, die sie 1982 an die Staatsoper Hannover führte, welcher sie trotz zunehmender internationaler Bekanntheit 15 Jahre als Ensemblemitglied treu blieb. Behle sang als dramatischer bis hochdramatischer Sopran alle bedeutenden Rollen ihres Fachs an zahlreichen großen Opernhäusern in Europa und den USA, unter anderem an der Metropolitan Opera New York. 2007 zog sie sich von diesem Repertoire zurück und singt mittlerweile vorwiegend Partien für dramatischen Mezzosopran. Mit großer Souveränität verlieh sie der Priorin strenge aber stets mütterliche Züge, ihre warme farbenreiche Stimme und ihr zutiefst berührendes intensives Spiel machten diese Aufführung der „Karmelitinnen“ zu einem ganz besonderen Erlebnis.
Das Niedersächsische Staatsorchester unter der Leitung von Cameron Burns ist den Solisten stets eine sichere Basis. Es ist sowohl behutsame Untermalung der zahlreichen langen Dialoge als auch lautmalerische Gestaltung der Hinrichtungsszenen. Doch auch in den kurzen Intermezzi vermittelt sich die Dramatik von Poulencs Musik. Von den zarten Flötensoli bis zu den großen Ausbrüchen im Blech zeigt sich die ganze Bandbreite an Dynamik und Klangfarbe, die manches Mal an Filmmusik erinnert, ohne jedoch jemals banal zu werden.
Ein Abend, der lange nachwirken wird
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