Hamburg, Opera Stabile, "CHARMS", Kammeroper von Leon Gurvitch

von Wolfgang Schmitt
Hamburg, Opera Stabile:„CHARMS“, 7. 3. Uraufführung
Daniil Charms(1905-1942) war ein hierzulande wenig bekannter russischer Schriftsteller, der mittlerweile zu den bedeutendsten Vertretern der russischen Avantgarde gezählt wird und der ein interessantes Beispiel für die Verbindung von Poesie, Prosa und Theater in der literarischen russischen Moderne ist.

Daniil Charms (1905 - 1942)
Zu seinen Lebzeiten blieb Daniil Charms weitgehend unbekannt, denn sein literarisches Werk konnte nicht ohne Schwierigkeiten veröffentlicht werden. In den 1930er Jahren geriet er zunehmend in Konflikt mit den politischen Behörden der Sowjetunion. Die politische Repression unter Stalin machten es einem Schriftsteller wie Charms, dessen Arbeiten als 'formalistisch' und 'subversiv' angesehen wurden, ziemlich unmöglich, im literarischen Leben der Sowjetunion Fuß zu fassen.
Erst im Zuge der Perestroika nach 1986 wurden viele seiner Werke veröffentlicht, die von einem seiner Freunde über die Jahrzehnte bewahrt und einer breiteren Öffentlichkeit, inzwischen auch international, zugänglich gemacht werden konnten.
Charms' Werke sind nunmehr bekannt für ihren surrealistischen Stil, ihren scharfen Humor und die oft absurde Logik. Er schrieb Gedichte, Kurzgeschichten und Theaterstücke, die sich um Themen wie den Tod, die Identität und die Schwierigkeiten des Lebens unter der politischen und sozialen Realität des sowjetischen Regimes drehten. Oftmals sind seine humorvollen, absurden und grotesken Geschichten geprägt von einer minimalistischen Sprache und einem unvermittelten Wechsel zwischen Wirklichkeit und Phantasie.
LEON GURVITCH, Copyright Wolfgang Radtke
Der in Hamburg lebende, auch international immer bekannter werdende Komponist und Pianist Leon Gurvitch hat sich dieses russischen Dichters angenommen und eine etwa 80minütige Kammeroper, „Charms“, für eine Singstimme, Piano, Violine, Klarinette, und Saxophon komponiert – mit einer Ouvertüre und mehreren Zwischenspielen –, wobei er acht Texte und Gedichte von Daniil Charms vertonte und auch selbst als Rezitator einiger skurriler, heiterer und auch frivoler Texte eine Verbindung zwischen den einzelnen Liedern herstellte, jedoch ohne daß sich hieraus eine fortlaufende Handlung ergab.
Sowohl in den Liedern als auch in den gesprochen Texten wird der Einfluß des Absurden und des Surrealismus offenbar. Dies ist ein bemerkenswertes Element in den Werken von Daniil Charms, in denen sich eine Welt widerspiegelt, die von Chaos, Unsinn und existentieller Verzweiflung in der damaligen Sowjetunion nach der Oktoberrevolution 1917 geprägt war.
Gesungen wurden die acht Lieder in russischer Sprache (die deutschen Übersetzungen gab es im Programmheft) von Svetlana Mamresheva mit ausdrucksvollem wandlungsfähigem Mezzosopran, ergreifend interpretiert zwischen Melancholie und dezenter Heiterkeit gleich im ersten Lied „Gott erwachte“ und mit schön klingender Mittellage, ebenso bei „Leise küssen“ und später bei „Ich kann nicht fließend denken“, stets einfühlsam begleitet von Leon Gurvitch am Flügel.
Amüsant und leicht frivol geriet der Dialog zwischen Leon Gurvitch und Svetlana Mamresheva, der dann in die Erzählung von „Ivan Ivanovic“ mündete, einer besonders gelungenen Komposition, in der die Sängerin in einer Mischung aus Sprechgesang und wunderbaren Vokalisen brillieren konnte.
Svetlana Mamresheva, Leon Gurvitch, Copyright Wolfgang Radtke
Mit seiner Kammeroper „Charms“ orientiert sich Leon Gurvitch kompositorisch offenbar an den Musikstil der 1920er und 1930er Jahre, also der Zeit, als Daniil Charms sein literarisches Schaffen vollführte.
Gurvitchs Musik bewegt sich hier zwischen zarter Melancholie und folkloristischer Fröhlichkeit, so bei „Aus großer Höhe“. Anklänge an Kurt Weills Stilistik drängen sich auf, besonders auffällig in dem Lied „Es ging ein Mensch aus seinem Haus“. Aber auch Einflüsse damaliger zeitgenössischer Tanzmusik und Jazz-orientierte Rhythmen fließen in die Kompositionen der vertonten Charms-Gedichte ein, und dieses gilt insbesondere auch für die Zwischenspiele, deren beschwingte Rasanz in der Kombination von Klavier und Saxophon fast Ragtime-artig herüber kamen. Durch den Einsatz der Melodika bei „Tage fliegen, Schwalben gleich“ erlangte dieses Lied einen Hauch französischen Fluidums.
Leon Gurvitch, ein phantastischer Pianist, interpretierte seine Komposition höchst stimmungsvoll in einer unerschöpflichen Palette von melodiöser Sanftmut über melancholische Tristesse bis hin zu aufwühlender dramatischer Attacke, jeweils dem Inhalt der entsprechenden Textvorlage angepasst.
Tatkräftig unterstützt wurde Leon Gurvitch durch zwei weitere hervorragende Musiker: Christian Seibold am Saxophon und auch an der Klarinette, mit der er gleich während der Ouvertüre 'Klezmer-musikalische' Glissandi zauberte.
Auch André Böttcher bewies hier wieder einmal mehr, was für ein exzellenter Violinist er ist, ob in den Zwischenspielen gemeinsam mit Piano und Klarinette, wo er auch mal schräge dissonante Töne beizusteuern hatte, oder als gefühlvoller Begleiter der Singstimme u.a. wie bei „Winde wehten“.

Svetlana Mamresheva, Christian Seibold, André Böttcher, Copyright Wolfgang RadtkeCoC
Mit seiner Kammeroper würdigt Leon Gurvitch diesen herausragenden Dichter und Dramatiker Daniil Charms, der heutzutage als ein Meister der absurden Literatur geschätzt wird und dessen Werke zu seinen Lebzeiten in der damaligen Sowjetunion, bis auf einige Kinder- und Jugendliteratur, nicht veröffentlicht bzw. ganz verboten wurden. Mehrfach wurde er verhaftet wegen seiner „Beteiligung an einer antisowjetischen illegalen Vereinigung von Literaten“.
Er verstarb am 2. Februar 1942 im Leningrader Gefängnis, 36jährig, vermutlich an Unterernährung.