Hamburg, Elbphilharmonie, Oslo Philharmonic Orchestra - Sibelius-Zyklus, IOCO Kritik, 12-06-2022
Oslo Philharmonic und Klaus Mäkelä - Sibelius-Zyklus
- 3. und 5. Sinfonie - 1. Juni 2022 - Gastspielabschluss in der Elbphilharmonie
von Michael Stange
An drei aufeinanderfolgenden Abenden, vom 30.5. - 1.6.2022, präsentierten Klaus Mäkelä und das Oslo Philharmonic Orchestra sämtliche Sinfonien von Jean Sibelius in der Elbphilharmonie.
Sibelius ist neben Gustav Mahler der Sinfoniker, der die Konzertlandschaft der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts grundlegend bereichert und geprägt hat. Beide haben auf ihre Weise die Sinfonik fortentwickelt und lebendig gehalten, was unter anderem das Schaffen des Bulgaren Emil Tabakov belegt. Mahlers monumentale Werke erklingen, wie die faszinierenden geheimnisvollen Kompositionen von Jean Sibelius, heute noch weltweit auf den Konzertpodien der Welt. In den Charts klassischer gemapflichtiger Live-Aufführungen ernster Musik mit Orchester belegten Sibelius 5. Sinfonie und seine Karelia-Suite im Jahr 2020 die Plätze 5. und 7. Auch dies unterstreicht den Rang, den der 1957 Verstorbene heute noch hat.
Beide Komponisten gingen bei der Transformation der romantischen Sinfonie in das zwanzigste Jahrhundert unterschiedliche Wege. Sibelius lehnte Mahlers programmatische Ideen ab. Für ihn war die Musik ein eigener Kosmos, der weit über das Sagbare hinausging.
Beide haben ihren Visionen wohl nicht vollendet. Mahler verstarb früh; Sibelius verstummte zwanzig Jahre vor seinem Tod. Gegenüber Mahler hatte Sibelius den Vorteil der gesicherten Existenz und der damit einhergehenden Zeit für sein Schaffen. In Finnland wurde er als Botschafter einer nationalen identitätsstiftenden Musik anerkannt und gefeiert. Dies ging mit erheblicher finanzieller Unterstützung einher und in späteren Jahren erzielte er zudem hohe Einnahme aus den Aufführungstantiemen seiner Werke.
Bei der Verbreitung ihrer Kompositionen wurden Beiden in Europa zahllose Steine in den Weg gelegt. Antisemitismus, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und eine gewisse Arroganz Mahler gegenüber verhinderten in Europa lange, dass er den ihm gebührenden Platz im Repertoire und auf Tonträgern einnahm. Auch Sibelius wurde nach dem zweiten Weltkrieg kritisch beäugt. Zunächst begann Anfang des letzten Jahrhunderts Sibelius Siegeszug in Deutschland. Einen wesentlichen Beitrag leisteten dazu schon zu seinen Lebzeiten die Berliner Philharmoniker. Ihrer Heimatstadt war Sibelius durch Studium und häufige Besuche zutiefst verbunden. Sein 70. Geburtstag wurde 1935 in Deutschland pompös mit Konzerten, unter anderem einer Aufführung seiner 7. Sinfonie in Berlin unter Leitung von Wilhelm Furtwängler, begangen. Sibelius waren aber die Entwicklungen seiner Zeit, die im Nationalsozialismus und den Kriegen kulminierten, ein Gräuel. Schon Anfang der dreißiger Jahre war er kompositorisch nahezu verstummt und vernichtete später Kompositionen aus dieser Zeit. So überlebte der Mensch Sibelius den Komponisten um fast dreißig Jahre.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurden Sibelius seine Glorifizierung im Dritten Reich zum Verhängnis. Ohne sein Zutun oder abgelegte ideologische Bekenntnisse ordnete die Politik und später die Musikwelt ihn als nordisch nationalistischen Komponisten ein. Zudem brandmarkte der Philosoph Theodor W. Adorno ihn als unmodern und uninteressant. „Hält ein Zeitgenosse ganz und gar mit den tonalen Klängen haus, wie Sibelius, so tönen sie ebenso falsch wie als Enklaven in atonalem Gebiet”, hieß es bei Adorno in der Philosophie der Neuen Musik. Für Adorno repräsentierte die Ästhetik der Schönberg-Schule den “Fortschritt” in der Musik. Unbeachtet ließ er diejenigen, die sich “ans Alte” gehalten hat, oder von den Nationalsozialisten als Waffe gegen den “Kulturbolschewismus” missbraucht wurden.
Im Kern hallten seine Vorwürfe lange in der deutschen Konzertgestaltung und Kritik nach, so dass er skeptisch beäugt wurde. Wichtig waren daher für seine Reputation und Rehabilitation auch die heute noch hörenswerten Einspielungen mehrerer Werke von Sibelius durch Herbert von Karajan.
Die Vorbehalte wurden später durch die Musikwissenschaft und die Begeisterung des Publikums für Sibelius gründlich revidiert. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus sah beispielweise in der 4. Sinfonie eine Idee, die musikalisch durchaus Sinn hat und die die Festigung einer rhapsodischen, d.h. einer frei gedichteten Musik ohne Bezug auf Bisheriges zum Ziel hatte und dabei Strukturen verwendete, die unter der Schicht des Motivisch-Thematischen liegen. So leistete Dahlhaus in Deutschland inen wesentlichen Beitrag zur vorurteilsfreien Würdigung von Sibelius durch Kritik und Musikwissenschaft. Zuvor wurde er, wie häufig auch Grieg, Ciurlionis, Nielsen oder Dvorak, ohne fundierte Auseinandersetzung mit den Werken in eine Art regionaler Schubladen gesteckt und so gleichsam als zu vernachlässigende Folklore qualifiziert. Wie tief die Spuren von Sibelius sind, beweisen unter anderem die Werke von Giuseppe Sinopoli und Peter Rucizka, die gleichfalls formale Freiheit aber auch tonale Elemente in sich tragen.
In Hamburg wurde Ende Mai ein vollständiger Sibelius-Zyklus mit dem finnischen Dirigenten Klaus Mäkelä und dem Oslo Philarmonic aufgeführt.
Klaus Mäkelä im Gespräch über seinen Sibelius-Zyklus youtube Elbphilharmonie Hamburg [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Mäkelä hat mit seinen siebenundzwanzig Jahren schon erhebliche Karrierestufen erklommen. Seit 2020 ist er Chefdirigent beim Oslo Philharmonic und seit 2021 beim Orchestre de Paris. Vor wenigen Tagen gab das Concertgebouw Orchestra bekannt, dass Mäkelä mit einem zehnjährigen Engagement ab der Saison 2022/23 als künstlerischer Partner und ab 2027 als Chefdirigent in das Orchester eintreten wird. Zudem hat er Exklusivvertrag mit dem Label Decca. So ist er in der Riege höchst begabter junger Nachwuchsdirigenten der Jüngste und derjenige, der am raschesten wichtige Positionen erklommen hat und medial mit der meisten Aufmerksamkeit bedacht wird.
Das Attribut des „Shooting-Stars“ scheint er gelassen und charmant zu ertragen. Mit seinem Sibelius Zyklus belegt er, dass die Begeisterung gerechtfertigt ist und er als Dirigent schon heute Bedeutendes geleistet hat. Mit seinem Sibelius-Zyklus war er gut beraten. Als Finne ist er seit seinen Kindestagen mit dessen Kompositionen vertraut und hat sich mit ihm intensivst auseinandergesetzt. Die Corona-Zwangspause für öffentliche Konzerte des Orchesters schenkte den Musikern zusätzliche Zeit, für eine längere Probenphase, was die Resultate noch gesteigert haben dürfte. Mäkeläs Interpretationsansatz ist auf den Tonträgern wie im Konzert, wo sich die Wirkung nochmals intensiviert, von beeindruckender Durchdringung der kompositorischen Strukturen. Inwendige und meditative Momenten, ein jugendlicher Sturm und agogikreiche Kontraste fesseln vom 1. Takt und manchmal meint man, man erblicke im Konzert die Bilder der finnischen Landschaft oder des Himmels, die Sibelius vor Augen gestanden haben mögen. Diese mitreißende interpretatorische Tiefe zeugt von einer in dieser Paarung seltenen große Emphase, Leidenschaft Begabung und Kommunikationsfähigkeit Mäkeläs. Mit dem Orchester hat er auf Tonträgern und im Konzert einen Zyklus auf höchstem Niveau vorgelegt. In der Aufführung war zwischen Musikern und Dirigenten ein gleichsam elektrisch geladener ständiger Dialog. Durch seine Bewegungen und Zeichengebungen und Blicke versetze Mäkelä Musiker und Publikum in eine spannungsgeladene Konzentration und Begeisterung.
Das Konzert begann mit der 3. Sinfonie. Schon zu Beginn merkte man, dass Maestro und Orchester eine festgefügte Einheit bildeten. Auf das energisch straffe Dirigat reagierten die tiefen Streicher mit geheimnisvoll dunklem Klang federnder Rhythmik, energisch aufreizendem Ton und uhrwerkgleicher Präzision. Die später einsetzenden Hörner korrespondierten in ihrer Verhaltenheit ausgezeichnet mit dem übrigen Orchester und bildeten einen fein gewobenen Klangteppich. Dieser transparent ausgewogene Klang war neben dem präzisen Spiel eine der großen Stärken des Konzerts. So gelangen mitreißend die Kontraste zwischen den quirligen Figuren des Beginns des 1. Satzes und auch die Interpretation des in der Folge eintretenden Stillstandes. Der satte Satzschluss wurde federnd dynamisch genommen. Für das Walzerhafte des 2. Satzes legte Mäkelä den Taktstock aus der Hand und entwickelte einen beschwingt feurigen Klang Die gleichsam meditativen Akkorde des 3. Satzes kostet er inwendig aus und überzeugte sowohl in den abgründigen Momenten des auslotenden Beginns des 3. Satzes und auch im farbenreich feurigen Finale mit differenzierten, nuancierten sowie leuchtenden Klängen.
Nach der Pause wurde Sibelius 5. Sinfonie aufgeführt. "Heute sah ich 16 Schwäne. Einer der größten Augenblicke meines Lebens", schrieb Jean Sibelius. Dieses Erlebnis verarbeitete er im "Schwanenthema", das die 5. Sinfonie durchzieht. "Wieder weit unten. Aber ich kann schon den Berg sehen, den ich mit Sicherheit besteigen werde. Gott wird die Tür für einen Augenblick öffnen und sein Orchester wird die Sinfonie Nr. 5 spielen." Diese Zeilen schrieb Jean Sibelius im Weltkriegsjahr 1914 an einen Freund. Die Uraufführung an Sibelius 50. Geburtstag war ein phänomenaler Erfolg und die endgültige Betätigung als musikalische Leitfigur Finnlands. Dennoch überarbeitete der Komponist die ursprünglich viersätzige Sinfonie bis 1919 noch dreimal, bis sie ihre endgültige, dreisätzige Form erhielt.
Schon beim Anfertigen der Ursprungsfassung schien Sibelius allerdings einige der glücklichsten Eingebungen seines künstlerischen Lebens gehabt zu haben: „Dass ich, ein armer Kerl, so reiche Momente erleben darf! Die Herbstsonne scheint. Die Natur leuchtet in Abschiedsfarben. Mein Herz singt wehmütig und die Schatten werden länger", schrieb er kurz vor der Uraufführung.
Der Musikwissenschaftler James Hepokoskis vertrat für die 5. Sinfonie die These, dass sie eine Rotationsform aufweise und es eines neuen Vokabulars bedürfe, um die musikalische Entwicklung zu beschreiben. Sibelius erlaube in vielen seiner Werke dem musikalischen Material, sich selbst eine Form zu wählen, und zwar aus der Notwendigkeit der Musik selbst heraus und nicht nach vorgeformten Normen des 18. oder 19. Jahrhunderts. Er benutze eine zirkuläre Form von Rotation oder Strophe, die die verschiedenen Abteilungen des Materials durchziehe und sich währenddessen weiterentwickle.
Mäkelä holt im ersten Satz Atem aber zog beim Scherzo beträchtlich an. Die Ruhe und Wärme des zweiten Satzes kostet er aus ohne aber das Tempo zu ruhig oder gemächlich fließen zu lassen. Den dritten Satz verlieh er Feuer und gestaltet einen atemberaubenden Übergang zum Finale. Das beherrschende Schwanenthema mit seinen Hörnern und der elegischen Melodie der Streichern und Holzbläsern kostete er differenziert aus. Bei den sechs Akkorden der Schlusskadenz ließ er sich Zeit und erzeugte auch durch die zeitliche Variation der Pausen eine faszinierende Spannung.
Als bejubelte Zugabe gaben die Musiker Sibelius´ Suite "Lemminkäinen zieht heimwärts".
Mäkelä verfügt über einen phänomenalen Zugang zur Musik, eine grandiose Gestaltungsfähigkeit und ein überbordendes Talent Proportionen zu setzen und so den des Aufbau und die Strukturen der Werke Sibelius offenzulegen. Starke Dissonanzen, die typischen langen Orgelpunkte und die zahlreichen musikalischen Effekte sind bei ihm in den besten Händen. Ihm gelingt es durch seinen zupackenden mitreißenden Interpretationsansatz und auch durch den fließenden Lauf der Musik dem unbefangenen Hörer einen nachhaltigen Zugang zu Kompositionen zu eröffnen. Dies macht die Musik Sibelius eingängig und eröffnete auch Ersthörern den Zugang zur Welt des Komponisten.
In Hamburg werden wir auch in der nächsten Saison in der Elbphilharmonie neben Klaus Mäkelä eine Vielzahl von Ausnahmedirigenten erleben. Andres Orozco Estrada, der mit seinen Aufnahmen beim Label Pentatone internationale Begeisterung entfacht hat und derzeit die Wiener Sinfonikern leitet, wird neben vielen anderen großen Interpreten wieder zu Gast sein. Der Bremer Generalmusikdirektor Yoel Gamzou wird zudem in der Hamburgischen Staatsoper Bizets Carmen leiten.
Klaus Mäkelä ist ein faszinierender Maestro mit beachtlicher Wirkung auf dem Podium. Seine Leistung war eine vielversprechende Ankündigung auf Kommendes. In den kommenden Jahren wird sich weisen, wie sein Weg weiter geht und wohin er das Publikum noch entführen wird.
Ein phänomenales Konzert. Ein atemloses, konzentriertes Publikum jubelte.
Klaus Mäkelä in der Elbphilharmonie, weitere Termine 14.11.2022, 18.3. und 19.3.2023.
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