Hamburg, Elbphilharmonie, Hamburger Philharmoniker - Beethoven, Schostakowitsch, IOCO Kritik, 10.02.2022
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Hamburger Philharmoniker - Kent Nagano - Till Fellner
Beethoven: Klavierkonzert Nr. 5 Es-Dur op. 73 - Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 14 g-moll op. 135
von Thomas Birkhahn
„Aber der Tod ist kein Anfang, er ist das absolute Ende. Es wird nichts weiter geben. Nichts“, so spricht Dmitrij Schostakowitsch in seinen Erinnerungen über seine 14. Sinfonie. Das 1969 uraufgeführte Werk für Sopran, Bass, Streicher, Schlagwerk und Celesta war dem schon damals von Krankheit gezeichneten Komponisten so wichtig, dass er seine vorangegangen Werke als Vorbereitung auf diese Sinfonie ansah.
Seit er 1962 Modest Mussorgskys „Lieder und Tänze des Todes“ orchestriert hatte, trug Schostakowitsch sich mit dem Gedanken, ein eigenes Werk über das Thema Tod zu schreiben. Schostakowitsch störte sich daran, dass andere Komponisten den Tod verklärten und „schön redeten“: „Man muss der Wahrheit direkt ins Gesicht sehen. Manchmal reicht den Komponisten dazu nicht der Mut.“
Die 14. Sinfonie ist ein Liederzyklus, bestehend aus elf ins Russische übersetzten Gedichten von vier der Autoren: Garcia Lorca, Appollinaire, Küchelbecker und Rilke.
Die absolute Konsequenz, die bittere Ausweglosigkeit, mit der Schostakowitsch sich musikalisch dem Thema Tod widmet, hinterlässt beim Hörer tiefe Spuren. Er zwingt den Zuhörer, sich ganz auf diese Thematik und seine musikalische Umsetzung einzulassen. Die Tonsprache dieser Musik ist hochexpressiv und Schostakowitsch verlangt von den Streichern ein hohes Maß an Virtuosität.
Seine Instrumentation ist sehr eigenwillig. Nicht nur die Beschränkung auf ein kleines Streichorchester (insgesamt 19 Musiker) und der Rückgriff auf reichhaltiges Schlagwerk (6 Musiker) ist ungewöhnlich, sondern auch die oftmals solistische Behandlung der Instrumente. So ist zum Beispiel der vierte Satz über weite Strecken ein Dialog zwischen Sopran und Solocello. Hier singt Sopranistin Katarina Konradi in Guillaume Appollinaires „Der Selbstmörder“ von drei Lilien, die ihr Grab schmücken („Sie wachsen und blühen auf meinem vereinsamten Grab.“). Die filigrane Zartheit und die tiefe Trauer ihres Vortrags gehen unter die Haut, ebenso wie das einfühlsame Spiel von Thomas Tyllack, dem Solocellisten der Hamburger Philharmoniker.
Doch schon der Beginn dieser Sinfonie ist einzigartig: Wer erwartet, dass Schostakowitsch in Garcia Lorcas Gedicht „De profundis“ („Aus der Tiefe“) mit Celli und Kontrabässen beginnt, sieht sich getäuscht: Eine einsame Geigenlinie zieht in luftiger Höhe langsam und in sich gekehrt vorüber, ohne Richtung, ohne Ziel. Später gesellen sich noch Kontrabässe dazu, aber es fehlt die Mitte. Auf einen vollen Orchesterklang, der beim Zuhörer so etwas wie Wohlgefühl auslöst, wartet man vergeblich in diesem ersten Satz. Dirigent Kent Nagano und Bassist Alexander Vinogradow betonen das Filigrane, das Verlorensein dieser Musik. Die ausweglose Einsamkeit wird spürbar, wenn Vinogradow von den „Einhundert heiß Verliebten“ singt, die - wir wissen nicht, warum – in der trockenen Erde Andalusiens begraben liegen. Das ist in Musik gesetzte Heimatlosigkeit.
Vinogradow und Konradi sind großartige Gestalter dieser tiefernsten Musik. Die Wandlungsfähigkeit ihrer Stimmen stellen sie im dritten Satz, Appollinaires „Loreley“, unter Beweis. Es ist ein Gespräch zwischen der verzweifelten Loreley, die sterben möchte, bevor sie noch weitere Männer in den Tod zieht, und dem Bischof, der ihr den Freitod verwehren und sie ins Kloster schicken will. Während Konradi "Loreleys" Flehen, ihre Getriebenheit vom eigenen Schicksal und ihre Sehnsucht nach Liebe sehr glaubwürdig verkörpert, verleiht Vinogradov seiner Stimme die unerbittliche Autorität und Härte, die sie für die Rolle des Bischoff haben muss.
Loreleys Flucht auf den Felsen verlangt vom Orchester eine Raserei ohne Rücksicht auf Verluste. Und an dieser Stelle hätte man sich vom Orchester etwas mehr Risikofreudigkeit gewünscht. Hier gilt es, sich ohne angezogene Handbremse kopfüber in die rasenden Läufe zu stürzen.
Dass Konradi, Foto oben, über eine große Bandbreite an Ausdruckskraft verfügt, zeigt sie in Appollinaires „Sehen Sie, Madame“. Sie scheut sich nicht, ihrer Stimme hier eine großartige Hässlichkeit zu verleihen, wenn sie in sarkastisches Lachen ausbricht („Und ich lache laut, um die Liebe, die dort für den Tod gegeben.“). Hier zeigen auch die Hamburger Philharmoniker die Palette ihrer Klangfarben und begleiten die Sängerin mit einer Härte im Klang, die weh tut.
Auch Vinogradov beweist die Wandlungsfähigkeit seiner Stimme. Appollinaires „Antwort der Zaporoger Kosaken an den Sultan von Konstantinopel“ ist eine wütende Anklage an einen Gewaltherrscher. Es ist schwer vorstellbar, dass Schostakowitsch hier nicht an Stalin gedacht hat, der so viel Leid über die Sowjetunion gebracht hat. Vinogradov identifiziert sich komplett mit Musik und Text. Die wüsten Beschimpfungen gegen den Sultan („Arsch der Stute, Schnauze vom Schwein“) schreit er geradezu heraus. Und hier hat auch das Orchester seine stärksten Momente: Die große Ausdruckskraft seines Spiels erhöht noch die aufgeladene Stimmung und hitzige Aggressivität dieses Satzes.
Wenn es überhaupt helle oder tröstende Momente in der 14. Sinfonie gibt, dann in Wilhelm Küchelbeckers „An Delwig“. Es keimt so etwas wie Hoffnung auf, wenn Vinogradov von der Unvergänglichkeit des Geistes singt. Ist vielleicht doch nicht alles verloren? In dieser Musik können die Streicher endlich einmal ihr „Kerngeschäft“ betreiben und längere melodische Bögen ausspielen, auch wenn die Intonation hier nicht immer lupenrein ist.
Erst in Rilkes „Schlussstück“ - gleichzeitig auch der Schluss der Sinfonie – singen beide Singstimmen gemeinsam. Noch einmal erzählen die beiden Solisten mit eindringlicher Prägnanz vom Tod und wie er in uns weint. Kurz darauf bricht die Musik einfach ab, sie bleibt quasi unvollendet, genau wie das Leben der Millionen Opfer des Stalinismus, an die der Komponist beim Schreiben dieser Sinfonie mit Sicherheit gedacht hat.
Unser heutiges Bild von Ludwig van Beethoven ist immer noch mit Klischees überladen. Allzu oft sehen wir vor unserem inneren Auge einen Komponisten, der beim Schreiben seiner Werke mit grimmiger Miene und geballter Faust einen heroischen Kampf gegen das Schicksal seiner Ertaubung führt.
Dass dieses Bild Beethovens alles andere als zutreffend ist, führt nach der Pause der Pianist Till Fellner mit Beethovens 5. Klavierkonzert vor. Dieses letzte Klavierkonzert Beethovens trägt in der englischsprachigen Welt den Beinamen „Emperor Concerto“, was sicherlich den heroischen Charakter dieser Musik besonders betonen soll. Aber Fellner zeigt, dass noch viel mehr in dieser Musik steckt.
Er lässt sein Klavier in den ausgedehnten lyrischen Passagen des ersten Satzes herrlich singen. Wo nötig, begleitet er das Orchester mit misteriösem Piano, so als wolle er die Geheimnisse dieser Musik lieber für sich behalten. Die Schönheit und Anmut dieser großartigen Musik kann sich bei ihm voll entfalten. Dabei hat er in Kent Nagano und den Hamburger Philharmonikern gleichwertige Musizierpartner. Vor allem die Holzbläser bestechen in den lyrischen Passagen durch einfühlsam vorgetragene Soli. Aber Fellner kann auch anders. Das wütende Stampfen – um das Wort heroisch zu vermeiden - welches ebenfalls den ersten Satz durchzieht, packt er mit der nötigen Kraft an.
War der erste Satz noch eine Mischung unterschiedlicher Emotionen, mutet der folgende langsame Satz wie ein einziger Engelsgesang an. Die schlichte, anrührende Melodik wird von Fellner und den Philharmonikern wunderbar ausgesungen, Solist und Orchester musizieren mit hingebungsvoller Innigkeit. Dabei verfallen sie jedoch nicht in Sentimentalität. Die Tempobezeichnung ist zwar Adagio, doch Fellner und Nagano halten die Musik am fließen, sie gerät nie ins Stocken. Nur am Schluss des Satzes, aber das ist ja vom Komponisten so vorgesehen: Alles kommt zum Stillstand und es ist, als müsse der Pianist erstmal überlegen, wie es jetzt weiter geht. Soll er diese friedliche Welt des Adagios hinter sich lassen? Zwei Mal probiert er quasi aus, ob ihm das Rondo-Thema des Schlusssatzes gefällt, bis das jubelnde Finale beginnt, in dem Beethoven so sonnig daher kommt wie selten sonst.
Der begeisterte Schlussapplaus für ein zu Herzen gehendes Konzert war allen Beteiligten in der sehr gut gefüllten Elbphilharmonie sicher
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