Genf, Grand Théâtre de Genève, TURANDOT - Giacomo Puccini, IOCO Kritik, 03.07.2022
TURANDOT - Giacomo Puccini
TURANDOT - die Wandlung einer göttergleichen Priesterin in leuchtender Rüstung zur ......
von Adelina Yefimenko
Giacomo Puccini hat seine letzte Oper Turandot, sein letztes Vermächtnis nicht vollenden können. Die Premiere von Turandot hat der Komponist nie erlebt. Puccini starb 1924, nachdem er die Szene von Lius Tod im dritten Akt beendete. Das fehlende Finale wurde von Franco Alfano auf der Grundlage von Puccinis Skizzen für die bevorstehende Premiere an der Mailänder Scala im Jahr 1926 verfasst. Die erste Turandot-Aufführung unter der Leitung von Arturo Toscanini (1867-1957) stoppte der Maestro nach Lius Todes-Szene. „Qui muore Puccini“ – drehte sich der Maestro zum Publikum und sprach diese Worte nach dem letzten düsteren Akkord der unbeendeten Turandot-Oper. Puccinis extreme Anstrengung, seine Oper zu beenden, weist jedenfalls darauf hin, wie wichtig ihm ein Ende für dieses Werk war.
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Die spätere finale Version von Franco Alfano (1875-1954) ist mittlerweile obsolet geworden, weil sie oft angegriffen wurde und mehr Nachteile als Vorteile mit sich bringt. Erstens ist Alfanos originäre 150-taktige Originalversion viel zu lang, orchestral überladen, deshalb bei den Neuinszenierungen oft zurecht gekürzt, zweitens wird Alfanos Abschluss als einer kritisiert, der der konservativen Routine aller Finalszenen seiner Zeit entspricht und drittens wirkt sein triumphierendes Finale nach Lius Tod bei jeder Inszenierung unpassend, unlogisch und sogar oberflächlich. Der Regisseur der Neuinszenierung Turandot in Genf Daniel Kramer hat diesbezüglich sehr treffend bemerkt: „Alfanos bombastische Version drückt mehr Disney-Sentimentalität aus als Calafs Herrschaftsübernahme auf Augenhöhe mit Turandots Macht“. Der Verleger Ricordi engagierte im Jahr 2001 einen Spezialisten für elektronische Musik, Luciano Berio, der Zweifel an Turandots Happy End hatte und deshalb bei der Bearbeitung von Puccinis Werk andere Akzente setzte. Als weiteren Autor neuer Abschlüsse von Turandot, der an Puccinis Musik erfolgreich anknüpfen konnte, muss eventuell noch der Italiener Salvatore Sciarrino erwähnt werden.
Zwanzig Jahre nach Turandots Premiere mit Berios Abschluss traf das Grand Théâtre de Genève eine glückliche Entscheidung damit, diese selten gespielte Version zu aktualisieren. Die Neuinszenierung in Genf hat bewiesen, wie wertvoll und richtig Berios Bearbeitung von Puccinis Werk ist. Auch die Entscheidung Berios Abschluss-Version in der fulminanten Inszenierung des britischen Regisseurs Daniel Kramer mit der japanischen Künstlergruppe teamLab zu verknüpfen, war klug. Intendant Aviel Kahn sorgte auch dank einer guten Besetzung für die erfolgreichste „Turandot“-Produktion des Jahres.
Musikalisch wurde mit gründlicher Sachkenntnis eine feste Brücke zwischen Berio und Puccini gebaut. Der Experte für italienisches Repertoire, Antonino Fogliani schätzte Luciano Berio als einen der bedeutendsten italienischen Komponisten der Nachkriegszeit. Er hat eine rückwirkende Vision geschaffen. Dieses Finale hat sich für den Dirigenten zweifellos gelohnt. Berios Bearbeitung von Puccinis Partitur ist viel gründlicher und beweist viel mehr eigene Schöpferkraft des Komponisten als Alfanos Finale. In Berios Bearbeitung hört man eine persönliche Herangehensweise an Puccinis musikalische Dramaturgie, Orchestrierung und Klangfarbe. Herausgekommen ist eine respektvolle, keinesfalls epigonale, dabei aber absolut freie Kompositionsarbeit, die sich aus Puccinis Anweisungen treu ableiten lässt, dabei aber die kompositorische Authentizität Berios nicht ausblendet. Antonino Fogliani hat überdeutlich gezeigt, dass Berios Abschluss, auch dann nicht aufhören würde, Berio zu sein, wenn der Komponist sich mit Puccini völlig identifizieren würde. Dem Orchester de la Suisse Romande gelang es großartig, die Modernität in Puccinis letztem Werk heraus zu arbeiten. Die sensible Verbindung von Soli und Tutti und eine Orchesterführung im Wechsel zwischen Exotismus und europäischer Modernität der Jahrhundertwende ließ sowohl die diffizilen Puccinischen Klangmischungenals auch subtile Assoziationen mit der Musik von Schubert, Debussy, Wagner, Strawinsky deutlich erkennen.
Nach der Aufführung blieb jedoch etwas Ungelöstes und Rätselhaftes. Zweifellos ging Puccini damals durch eine Krise, in der er mit dem Problem konfrontiert wurde, etwas ganz Neues und Bedeutungsvolles zu schaffen. Nach Lius Liebes-Opfer bezweifelte Puccini selbst, einen bewegenden Epilog über die Versöhnung und Vereinigung von Turandot und Calaf zu schaffen.
Daniel Kramer stellt eine Frauen-Figur vor, die er nicht mit dem exotisch Märchenhaften, sondern dem Symbolhaften und Psychoanalytischen kreuzt. Puccini stellt eine Frau vor, die die Liebe ablehnt, weil sie zügellose Freiheit einfordert, was eine Andeutung des Feminismus des 20. Jahrhunderts ist. Wer ist die neue Hauptdarstellerin: eine starke Persönlichkeit oder ein Bösewicht, eine Rächerin und Mörderin?
Die Idee des Regisseurs, des Direktors der English National Opera, Daniel Kramer und des japanischen teamslab ist Metamorphosen und Andeutungen von Phallus-Symbolen eines Phantasielands zu zeigen: eines mit Blumen geschmückten und dann geernteten, schönen Choreographie (Tim Claydon) des Opfer-Ritus eines persischen Prinzen, das blutig und brutal endet. Bei dem Ritus des Enthauptens eines der tausenden Helden, die Turandots Rätsel nicht erraten, werden diese im Rahmen eines Bühnenritus auf dem Opferfelsen kastriert, ihm Phallus, mit Blumen geschmückt, gnadenlos entrissen. An diesem Ritus hat das ganze Volk teil, das durch den Chœur du Grand Théâtre de Genève dargestellt wird und als Monolith eine Bindungskraft verkörpert, die mächtiger wirkt als selbst die Prinzessin Turandot.
Die Frauen sind in dieser quasichristianisierten Gesellschaft von Männern streng getrennt. Als Nonnen in weißen Chormänteln oder Furien in schwarz-roten blumigen Kostüme gekleidet, sehen die Frauen der bedrohlichen Verführerinnen oder dem Karmelitinen ähnlich. Auch Liu ist eine von ihnen. Diese Frauen sind in transparenten Plexiglaskäfigen gesperrt und singen auf der obersten Bühnenebene. Die Männer, düster, in schwarz gekleidet, dürfen nur die untere Fläche für sich haben. Eine Tanzgruppe muskulöser Henker mit schwarzen Federn führt seine makabre Choreographie um die Hauptpersonen aus, die auf dem Opferfelsen handeln.
Eine erstaunliche Metamorphose erlebt dabei Turandot, die zuerst als hohe Priesterin göttergleich in einer strahlenden edelsteinähnlichen Kugel am Himmel leuchtet, dann herabsteigt, sich aus der vergoldeten, metallisch glänzenden Rüstung langsam befreit und in eine einfache, zur Liebe fähigen Frau verwandelt. Eine lyrische Turandot ist in der Opernpraxis eher eine Seltenheit. Aber genau so eine Gestalt passt zur Berios Abschluss, wie es die schwedische Sopranistin Ingela Brimberg auf der Bühne erfolgreich bestätigen konnte. Zum Schluss wird ihr weißes Nachthemd mit Lius weißem Gewand identisch. Turandot kann sich von den Schuldgefühlen gegenüber Lius Opfer nur dann befreien, wenn sie wie Liu das Zeichen der Liebe auf sich nimmt und die Liebe Lius zu Calaf erbt. Die Italienerin Francesca Dotto sang Liu sehr subtil, berührend, schön, obwohl stimmlich nicht an allen Stellen perfekt. In der letzten Szene schneidet sich die im Plexiglaskäfig hängende Liu ihre Pulsadern auf. Timur, stabil und sicher gesungen vom chinesischen Bass Liang Li folgt ihr in den Tod. Der Regisseur zeigt eine kritische Sichtweise auf die heutige entchristlichte Zeit. Seine Regiearbeit ist frisch und zeitgemäß. Der Regisseur hat seine eigene Dramaturgie entwickelt, um die starken Charaktere zum Leben zu erwecken und aufzurütteln. Dabei war die Rolle des Calaf vom rumänischen Tenor Teodor Illincai dargestellt worden, seine Bühnenpräsenz aber konzeptuell unklar. Die Gestalt des intelligentesten aller Helden, der als Einziger alle drei Rätsel Turandots gelöst hat, spielte trotz alledem neutral, niemals wirklich leidenschaftlich und stimmlich angespannt. Die Nebenrollen waren qualitativ gut besetzt von Alessio Arduini, Sam Furness, Julien Henric (Ping, Pang und Pong), Mandarin (Michael Mofidian) und Altoum (Chris Merritt). Es wurde überzeugend gesungen und phantasievoll gespielt.
TURANDOT - die Produktion in der Entstehung - die Kostüme youtube Grand Theatre de Geneve [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Der Regisseur erzählt Turandots Geschichte neu. Sie wird mit Laser aller Art, Lichtprojektionen visuellen, fantasievollen, bunten Blumen, Meereswellen und Wolken kunstvoll, ohne Übertreibung, so wie es bei der Münchner Turandot der Fall war, subtil, geschmackvoll farbig geschmückt. Damit wird in Genf die brillant gelungene Turandot-Version und nicht die Regie in den Mittelpunkt gestellt, stattdessen die Szenographie, für die das teamLab – die japanische Gruppe visueller Künstler verantwortlich zeichnet mit ihren bombastisch spektakulären Digital-, Licht- und Laserinstallationen, die vom Intendanten Aviel Kahn eingeladen wurde. Da das teamLab-Artkollektiv für seine visuell abwechslungsreiche, aber nie übertriebenen, mannigfaltigen Shows auch von Festivals, Konzerten und Museen schon bekannt war, erwies sich die neue Szenographie als ein gutes Beispiel par excellence für innovative visuelle Mittel in der Theaterwelt. Die Bühne war schon immer ein Ort der Wunder. Damit bleibt sie es. In diesem Fall wurde das Publikum mit auffälligen Neuheiten konfrontiert, aber vor allem mit einer Dramaturgie der Bilder, bei der Laser ihre Grafiken zeichnet oder Farben wie Wasser auf der Leinwand fließen lässt.
Ein wunderbarer, an Überraschungen reicher Opernabend, dem nicht nur eine zeitgemäße Visualisierung der Oper gelingt, sondern damit auch die Musikpräsentation auf ein höheres Niveau hebt. Antonino Fogliani ließ das Publikum Berios Fähigkeiten genießen: seine vielen geschlagenen Brücken über die Zeit, seine stilistische Mannigfaltigkeit, die raffinierte Klangmalerei und dessen Umsetzung von Giacomo Puccinis Vorahnung der neuen Musik des 20.Jahrhundets.
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