Frankfurt, Oper, HERCULES-Oratorium, IOCO
HERCULES - Oper Fankfurt: Der Komponist widmet Hercules, einem typischen, statischen Helden, nur drei Arien. Dejanira bekommt doppelt so viele. Darüber hinaus übertrifft Händel sogar die romantischen Dramen des späten 19. Jahrhunderts ...
Georg Friedrich Händels Hercules-Oratorium eröffnete die Opernsaison 2024/25 der Oper Frankfurt
von Adelina Yefimenko
Während der Rückblick auf die Eröffnung der Frankfurter Opernsaison noch auf seine Veröffentlichung wartete, erhielt die Frankfurter Oper die renommierteste deutsche Auszeichnung für das Opernhaus des Jahres. Der Preis wird jährlich von der Fachzeitschrift Opernwelt auf der Grundlage einer Umfrage unter deutschen Musikkritikern vergeben. Die Oper Frankfurt hat diese Auszeichnung bereits zum achten Mal erhalten und auch in anderen Kategorien überzeugt. Besonders stolz ist man in Frankfurt auf die Auszeichnungen für den Chor des Jahres, die Regie des Jahres (Lydia Steyer für ihre Inszenierung von Verdis Aida), den Sänger des Jahres (John Osborne) und die Inszenierung des Jahres (Wagners Tannhäuser unter der Regie von Matthew Wilde).
Bühnenproduktionen von Georg Friedrich Händels (1685-1759) Oratorien werden in der Welt der Oper als ein natürliches Phänomen wahrgenommen. In seinen Opern und Oratorien erforschte der Komponist die psychischen Grenzzustände des Menschen. Er nannte seine Oratorien „musikalische Dramen“ („New Musical Drama“). Barrie Kosky, ein australischer Regisseur und weltbekannter Meister des musikalischen Blockbusters, beruft sich auf diese Eigenschaft, die im Allgemeinen nicht typisch für das Oratoriengenre ist. Er hält Händels Oratorien für theatralischer als Opern und ist überzeugt, dass Händel mit seinen Oratorien eine radikale Form des Musiktheaters geschaffen hat. Erstens sind die Handlungen seiner Oratorien viel komplexer als die der Opern. In den Inszenierungen von Händels Oratorien - Saul beim Glyndebourne Opera Festival (2015), Semele an der Komischen Oper Berlin (2018), Hercules an der Oper Frankfurt (ein Kooperationsprojekt mit der Komischen Oper Berlin) - gelang es dem Regisseur, die „Samen“ des dramatischen Konflikts des Werks erfolgreich zu „säen“ und „keimen“ zu lassen und ein endloses Feld kontrastierender Charaktere zu zeigen. Zweitens verschiebt Barrie Kosky die Akzente in der Entwicklung der Hauptfiguren, insbesondere in der Figur der Dejanira begründet der Regisseur von Anfang an psychologisch den Untergang der Heldin des Oratoriums Hercules bis hin zur Zerstörung der eigenen Seele. So steht nicht der mythologische Halbgott, Jupiters Sohn, sondern seine Frau Dejanira im Mittelpunkt von Händels Musikdrama Hercules. In der Tat kann man dieses Oratorium von Hercules getrost in „Dejanira“ umbenennen. Zunächst einmal wäre dies vom Standpunkt des Musikdramas aus gesehen logisch: Der Komponist widmet Hercules, einem typischen, statischen Helden, nur drei Arien. Dejanira bekommt doppelt so viele. Darüber hinaus übertrifft Händel sogar die romantischen Dramen des späten 19. Jahrhunderts, indem er die berühmte Szene (keine Arie!) von Dejaniras Wahnsinn einführt. Für seine Zeit war Händels Oratorium Hercules, das auf den Werken von Ovid, Sophokles und Seneca basiert, mit seinen lakonischen Arien, gefühlvollen Rezitativen und groß angelegten Chören tatsächlich zu revolutionär. Deshalb scheiterte die Uraufführung, die 1745 in London im Royal Theatre am Haymarket stattfand.
Händel hält sich jedoch an die für die Gattung des Oratoriums charakteristische Entwicklung der Handlung: Vom Konflikt und dem Leiden der Figuren führt der Weg zum Finale, in dem die göttliche Überwindung der Tragödien und die Kultivierung hoher menschlicher Tugenden stattfinden. Bekanntlich sind Moral, ein belehrender Ton und der Glaube an die göttliche Ordnung sowohl in Barockopern als auch in Oratorien durch das Auftreten des Deus Ex Machina festgehalten. Anders als in der Oper ist der Hauptprotagonist eines Oratoriums jedoch ein Chor, der aktiv handelt, kommentiert und bekannte Wahrheiten verkündet. Im Hercules-Oratorium wird unter anderem über die Bedrohung durch die Eifersucht gelehrt, die die Liebe, den Frieden, die Zukunft und das menschliche Leben vernichtet.
Der Hauptfeind von Dejanira ist nicht eine Person, nicht ein Mann, nicht eine Frau, nicht eine Nation, sondern die Eifersucht. Ihr Problem ist ihre Unfähigkeit, sich selbst, ihre Psyche und ihre Handlungen zu kontrollieren. Trotz ihres Wissens um Wahrheit und Moral wird sie wahnsinnig, verliert lange vor der Szene des Wahnsinns den Verstand und treibt nach und nach alle Protagonisten - ihren Mann Hercules, ihren Sohn und den gefangenen Iole - in eine Sackgasse.
Die Behandlung einer charismatischen, aber innerlich zerrütteten Persönlichkeit ist in diesem Oratorium von Händel einzigartig und erweitert dessen Gattungsmerkmal des neuen Musikdramas um das psychologische Drama. Dejanira ist von Anfang an eine seelisch gebrochene Persönlichkeit. Gleichzeitig sind ihre Gefühle durchaus verständlich, wenn sie sich Sorgen macht, ob ihr Mann lebend aus dem Krieg zurückkehren wird. Nachdem der Krieg zu Ende ist, stürzt die triumphale Rückkehr von Hercules Dejanira in einen Zustand der Benommenheit. Nach einem kurzen Moment der Freude findet sie neue Gründe für die Explosion ihrer psychischen Exzesse und hemmt bewusst ihre Freude und ihren Glauben an das Leben durch Eifersucht. Dafür gibt es keine offensichtlichen Gründe. Die Frau des Helden hätte ohne Eifersuchtsprobleme ein glückliches Leben. Aber Dejanira ist grundlos eifersüchtig auf Hercules' Gefangene, Prinzessin Iole. Giulia Semenzato, eine charmante Italienerin mit leichtem, lyrischem Sopran, singt und spielt die Iole als keine schwache lyrische Figur. Denn sie leidet in der Gefangenschaft, aber auch leistet Widerstand und hasst Hercules – den Mörder ihres Vaters, und seinen Sohn Hyllus. Aber der zerbrechliche, lyrische, äußerst flexible und in Ensembles sensible Tenor Michael Porter (Hyllus) wird am Ende des Dramas das Herz von Iole gewinnen.
Es ist klar, dass die lästigen Vorwürfe der eifersüchtigen Ehefrau den majestätischen Hercules erzürnen. Das Liebesboot ist in den Alltag gekracht. Der große, strukturierte, körperlich und klanglich imposante Anthony Robin Schneider, ein österreichischer Bass neuseeländischer Abstammung, verkörperte wahrhaftig das Bild eines starken, aber einfältigen Kriegers, der immer noch stolz auf seine Heldentaten und nicht auf sein soziales Leben ist. Es scheint, als sei er an Frauen überhaupt nicht interessiert. Doch Dejanira versucht, ihre letzte verrückte Hoffnung zu erfüllen, die verlorene Liebe ihres gutaussehenden Mannes zurückzugewinnen. Sie schenkt ihm den Mantel (weißes Hemd) eines Zentauren, den Hercules zuvor erbarmungslos getötet hatte. Bevor er starb, gelang es dem Zentauren Nessos, Dejanira zu versichern, dass sein Blut magisch sei und die Liebe entfache. Nessos' ausgeklügelter, raffinierter Racheplan geht in Erfüllung. Hercules nimmt den mit Nessos' Blut vergifteten Mantel von Dejanira an und stirbt unter schrecklichen Qualen, steigt dann aber nach den Gesetzen des lieto fine (italienisch für glückliches Ende) in den Himmel zu seinem Vater Jupiter auf. Die endgültige Apotheose des Hercules wird von einem Jupiter-Priester (dem transparenten, warmen afrikanischen Bariton Sakgive Mkozana) begleitet. Dejanira wird wahnsinnig, nachdem sie ihre Schuld erkannt hat. Am Ende des Oratoriums ist die Hoffnung auf das Glück von Hyllus und Iole jedoch noch lebendig.
Die Rolle der Dejanira ist psychologisch tiefgründig und komplex und wurde von Paula Murrihy, Barrie Koskys Lieblingsmezzosopranistin, eindrucksvoll interpretiert. Die Sängerin erwies sich als eine unübertroffene Schauspielerin. Sie ist die zentrale Figur des musikalischen Dramas, ständig auf der Bühne mit einer großen Hercules-Statue anstelle eines echten Mannes. Sie singt, schreit, seufzt, rennt über die Bühne, umarmt die Statue und nimmt all ihre Kraft zusammen, um den narzisstischen Helden nach Hause zu bringen, zumindest in ihren Träumen. Murrihy gelingt es, die ständigen Stimmungsschwankungen einer psychisch labilen Persönlichkeit glaubhaft zu vermitteln. Der für die Barockoper im Allgemeinen untypische Psychologismus der Heldin überzeugt uns davon, dass Händel als Vorläufer des Verismo und der expressionistischen Dramen gelten kann.
Die Besetzung mit sechs traditionellen Opera-Seria-Protagonisten ist sehr gut gewählt. Alle Sängerinnen und Sänger sind in der Lage, flexibel zwischen stimmlicher Perfektion und dramatischer Wirkung hin und her zu wechseln. Die psychischen Probleme seiner Mutter hat Hyllus (Michael Porter) geerbt, der eigentlich im Schatten der Heldentaten des Hercules aufgewachsen ist, aber ohne Vater, umgeben von Statuen des Helden. Interessanterweise führte Barrie Kosky eine neue Figur in Hercules' Familie ein - seine jüngere Schwester Lichas (Kelsey Lauritano) -, die ihren Bruder unterstützt und einen Teil seines Leidens auf sich nimmt, während Händels Lichas nur die Verkündung eines Außenseiters darstellt.
Im Bühnenbild von Hercules manifestiert Barrie Kosky den Minimalismus als Spiegel der Psyche der Protagonisten. Eine besondere Rolle spielt das helle Licht (von Joachim Klein) in einem engen, durch einen leichten Tüllvorhang abgetrennten Raum (Bühne und Kostüme: Catherine Lea Tag). Das Licht scheint die Emotionen von Schreien, Entsetzen, Verzweiflung und deren Ausdruck zu verstärken. Barrie Kosky bemerkte, dass dieser Effekt eine Art Klaustrophobie der Sinne erzeugen soll: Niemand kann das Licht ausschalten, um dem Schrecken der Verfolgung durch das Schicksal zu entgehen. Die Handlung spielt sich auf einer leeren Bühne ab, ohne jegliche Requisiten.
Die Statue des Hercules wird vom Chor, dem kollektiven Helden des Oratoriums, vergöttert. Barrie Kosky kontrastiert das Drama von Dejaniras Einsamkeit mit der gewaltigen Dynamik der Chorszenen. Der Regisseur hat die Rolle des Chors auf unterschiedliche Weise interpretiert. Er ist eine spontane Menschenmenge, ein organisiertes oder ekstatisches Volk, das den Helden preist, ein mystischer Schatten, ein Kommentator und moralischer Zensor im Stil der griechischen Tragödie (Chorleiter Tilman Michael). Gleichzeitig gelang es Laurence Cummings, einem britischen Oratoriendirigenten und Barockexperten, nicht nur, diesen Reichtum an Stimmungen und Stilkontrasten im Orchester an der Grenze zwischen epischem Oratorium und psychologischem Drama zu erhalten (das Frankfurter Opernorchester spielte auf historischen Instrumenten). Dem Orchester gelang es auch, barocke Prätentionen zu vermeiden, einzelne Charaktere zu schärfen und die Tempi unaufdringlich anzupassen, um die Kolorierungen der Sänger zu unterstützen, die zu den komplexesten unter Händels Oratorien gehören.
Die Neuinszenierung des Hercules ist zweifellos ein Erfolg und das beste Geschenk der Frankfurter Oper an das Publikum zur Eröffnung der Opernsaison 2024/25. Der symbolische Kartenpreis von 20 € für die erste Vorstellung der Saison ist eine sensationelle soziale Aktion, die es ermöglicht hat, ein neues Publikum für dieses Opernfestival zu gewinnen und zu begeistern.