Eine kurze Geschichte der Oper - Hans-Klaus Jungheinrich, Buch Besprechung, 29.04.2021
"Eine kurze Geschichte der Oper in 35 Bildern"
Buch von Hans-Klaus Jungheinrich, mit einem Nachwort von Wolfgang Molkow, zweite, erweiterte Ausgabe, Wolke Verlag 2020. 292 S., ISBN 978-3-95593-254-1, 26,00 €.
besprochen von Julian Führer
Opernführer gab es früher in großer Zahl, sie standen in vielen Haushalten und sind heute oft in ehemaligen Telefonzellen zu finden, in denen Bücher mit mehr Pietät als im Altpapier entsorgt werden können und mitunter neue Leser finden. Vorliegendes Buch erlebte unter dem Titel „Hohes C und tiefe Liebe. 33 Versuche, (k)einen Opernführer zu schreiben“ 2010 eine Erstauflage und wurde jetzt in einer um zwei Beiträge erweiterten Form und mit neuem Titel publiziert. Anders als in klassischen Opernführern gibt es hier keine längliche Inhaltsangabe und dann ein paar mehr oder weniger geistreiche Bemerkungen zum musikalischen Charakter oder besonders bekannten Arien und Chören eines Werkes – eine Gattungsgeschichte im engeren Sinne stellt dieses Buch aber auch nicht dar.
35 Bilder werden uns versprochen – das Buch enthält streng genommen nur ein einziges, nämlich das Umschlagbild mit einer Szene aus der Dresdener Inszenierung von Gounods Faust von 2010, einer Oper, um die es im Buch dann gar nicht geht. Worum geht es also? Zunächst um Grundsätzliches: Die Aufführung einer Oper ist eine komplexe Angelegenheit. Es gibt die Musik, wie sie in der Partitur niedergelegt ist, es gibt den gesungenen Text, es gibt die Darstellung auf dem Theater (die Inszenierung mit Bühnenbild, Licht, Bewegungsabläufen etc.) und die an jedem Abend unterschiedliche musikalische und szenische Wiedergabe. Was die szenische Umsetzung angeht, nimmt der Verfasser eine vermittelnde Position ein (S. 11):
„Natürlich ist das „Regietheater“ in der Oper heute auch ein von Profilneurose, Scharlatanerie oder eklektizistischer Mittelmäßigkeit heimgesuchtes Terrain, aber ein wirklicher Opernfreak sollte nicht in den Chor jener angeblichen Opernfreunde einstimmen, die sich unbeeindruckbar ans Altgewohnte halten […] oder an einer überzogenen, der Partiturtreue analogen Werktreue-Orthodoxie festbeißen.“
Der 2018 verstorbene Verfasser hatte eine vielfältige, enge und sehr lange Beziehung zur Oper (innerlich lebhaft zustimmend las der Rezensent auf S. 269: „Natürlich interessierte mich Oper damals viel mehr als Schule“), er war Musikkritiker der Frankfurter Rundschau, aber auch Librettist und, das ist jeder Zeile dieses Buches anzumerken, ein profunder Kenner der Musik. Eine besonders enge Beziehung verband ihn mit der Oper Frankfurt, aber auch die Oper Stuttgart ist mit ihren prägenden Gestalten und ihrem Repertoire der letzten Jahrzehnte stärker repräsentiert als andere Häuser.
Die „Geschichte der Oper“ als solche nun geht chronologisch vor und beginnt, wie kaum anders zu erwarten, mit Monteverdi (allerdings nicht mit L’Orfeo, sondern mit L’incoronazione di Poppea). Die weiteren Schritte sind zunächst wenig überraschend: Gluck, Mozart, Beethoven und Wagner werden thematisiert, aus der italienischen Oper (nur) Verdi und Puccini, aus Frankreich Les Contes d’Hoffmann, Ariane et Barbe-Bleue von Paul Dukas, Poulenc und Messiaen; natürlich erfahren wir, worum es in etwa geht, aber viel mehr interessieren den Verfasser die musikalischen Konstellationen und wo sie an anderer Stelle zu finden sein könnten. In nur einem Satz kommt er so (S. 37) von Bemerkungen zur Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte zu einer Interpretation eines Blechakkords in Pfitzners heutzutage aus dem Konzertleben praktisch verschwundenem Violinkonzert. Dieses assoziative Vorgehen bringt immer wieder überraschende Einsichten mit sich, manchmal ist die Assoziationskette aber auch sehr lang, und es stellt sich wie bei jedem Schreiben über Musik das Grundproblem, dass man sich mit Sprache und Gedrucktem über Musik und Gehörtes zu verständigen hat.
Die gut 30 Opern, die näher vorgestellt werden, stehen mitunter repräsentativ für ihren Urheber oder ein Genre, mitunter werden aber auch Stücke aus der Versenkung hervorgeholt – Weinbergers Schwanda, der Dudelsackpfeifer zum Beispiel, Wolfs Der Corregidor oder Peter Cornelius‘ hinreißender Barbier von Bagdad. Das Repertoire, so stellt Hans-Klaus Jungheinrich fest, hat sich durch den (schmal gewordenen) Strom der Uraufführungen stets erweitert, womit natürlich andererseits andere Stücke der Vergessenheit anheimgefallen sind. Wenn von 30 präsentierten Stücken mit Die Frau ohne Schatten, Intermezzo und Capriccio allein drei von Richard Strauss stammen und mit Humperdincks Königskinder, Pfitzners Palestrina und Schoecks Penthesilea weitere Beispiele für die kreative Auseinandersetzung mit dem übergroß prägenden Richard Wagner enthalten sind, werden gewisse Vorlieben des Verfassers deutlich – auf der anderen Seite fehlt die Grand Opéra völlig, die doch für das 19. Jahrhundert lange Zeit das dominierende Vorbild war und ebenso Verdi wie Wagner beeinflusste.
Für die Anfang des 21. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum vorherrschende Repertoirepolitik bemerkt der Verfasser einen Kern von 30-50 immer wieder auf die Bühne gebrachten Werken wie Carmen und Die Zauberflöte, um den herum letztlich ein breiterer Stückekanon gezeigt wird als noch vor wenigen Generationen, da inzwischen die Barockoper ebenso wie Neukompositionen über eine gewisse Präsenz verfügen, natürlich je nach den Möglichkeiten eines Hauses, den Vorlieben der Intendanz und den verfügbaren Solisten unterschiedlich. Man hätte auch die in den letzten Jahren sich andeutende Renaissance der Operette thematisieren können, aber in diesem Buch ist der Platz begrenzt, und zu einer vom Verfasser geplanten Erweiterung auf 49 Stücke ist es nicht mehr gekommen.
Der oft assoziative Charakter und die enorme Breite des musikalischen und literarischen Wissens, die hier ausgebreitet werden, erfordern erhebliche Aufmerksamkeit beim Lesen und vor dem Lesen eine bereits vorhandene Kenntnis möglichst vieler Opern, aber auch von möglichst vielen Symphonien, Klavierstücken, Quartetten, Liedern und Romanen. Doch auch wenn man nicht jeder Verästelung der Gedanken Jungheinrichs folgen mag oder kann, liest man jedes Kapitel mit Gewinn. Teilweise gelingen ihm Sätze, die die Essenz eines Stückes oder einer Konstellation brillant auf den Punkt bringen, so wie hier (S. 128f.) im Kapitel zu Puccinis Madama Butterfly anhand des Dolore, des dreijährigen Kindes von Cio-Cio-San und Pinkerton,
„wie die meisten Kindererscheinungen in Opern ein hochpathetisches Ereignis (man denke an Maries und Wozzecks Kind am Schluss der Bergoper), hier aber nicht zu überbieten als das lebende Mahnmal, ja Menetekel einer Gefühlskatastrophe, die höchste Glückserwartung in Verzweiflung abstürzen macht. Das Kind, die stumme, anklagende Monstranz einer verratenen Liebe, muss auf den der Handlung sich hingebenden Zuschauer hier wie ein Schrei wirken, lautlos und unerträglich, hervorgehend aus der numinosen kreatürlichen Unwissenheit über das Leid der Welt, das er doch so markerschütternd verkörpert wie nichts sonst.“
Die Reisen, auf die uns der Autor mitnimmt, sind manchmal unberechenbar, aber stets belehrend: Wenn im Kapitel zu Wagners Die Meistersinger von Nürnberg über die Tonart C-Dur gehandelt wird, so erfahren wir bei dieser Gelegenheit (S. 51), wie Theodor W. Adorno (im Versuch über Wagner, der Verweis fehlt hier) aus der Perspektive des Schülers von Arnold Schönberg ein Misstrauen gegenüber Harmonien und insbesondere dieser Harmonie formuliert, die mit Seitenblicken auf Mozarts „Jupitersymphonie“ KV 551, Schuberts „große“ C-Dur-Symphonie D 944 und Hans Pfitzner charakterisiert wird; man hätte gern gewusst, wie Hans-Klaus Jungheinrich den Schluss von Gustav Mahlers 7. Symphonie gedeutet hätte, und man ahnt, welch ungeheurer Wissensschatz mit dem Tod des Autors verlorengegangen ist.
Wer demnächst an einer ehemaligen Telefonzelle oder einer der anderen inzwischen zahlreichen „Bücherboxen“ vorbeigehen sollte, der bleibe stehen und betrachte die Bücher, oft aus einer anderen Zeit. Sollte ein Opernführer dabei sein – die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering –, nehme man ihn und blättere darin. Man wird staunen, welche Stücke darin als wichtig oder als bekannt gelten, anderes wird man vermissen. Wer dort zunächst verstohlen nachliest, worum es in Pfitzners Palestrina geht (immerhin einmal eines der meistgespielten Stücke auf deutschen Opernbühnen), wird die facettenreichen Ausdeutungen in Jungheinrichs Buch erst richtig schätzen lernen. Man lese beides!
---| IOCO Buchbesprechung |---