Dresden, Semperoper, Sächsische Staatskapelle - Silvesterkonzert 2022, IOCO Kritik, 01.01.2023
SÄCHSISCHE STAATSKAPELLE - SILVESTERKONZERT 2022
- Beethovens Botschaft - aus der Zeit gefallen? -
von Thomas Thielemann
Es war fast wie eine Flucht, als der 25-jährige Friedrich Schiller (1759-1805) im April 1785 vor den Verfolgungen eines gehörnten Offiziers und den Nachstellungen seiner Schuldner von Mannheim nach Gohlis, einem Vorort von Leipzig, zum Freundeskreis um Christian Gottfried Körner (1756-1831) reiste. Der Konsistorialrat Körner und der Schriftsteller Ludwig Ferdinand Huber (1764-1804), waren mit den Töchtern eines Kupferstechers, Minna Stock (1762-1843) sowie Johanna Dora Stock (1759-1832) liiert.
Mit den autoritären Vätern der Söhne großbürgerlicher Familien führte das zu Auseinandersetzungen. In Schillers bürgerlichem Trauerspiel Luise Millerin fanden die vier jungen Leute Parallelen zu ihrer Situation und hatten Verbindung zum Dramatiker gesucht, ihn nach Sachsen eingeladen.
In der Euphorie in diesem Freundeskreis und mit reichlich Rotwein kreierte der Dichter das Versmaß und sang: „Freude sprudelt in Pokalen, der Traube goldnem Blut trinken Sanftmut Kannibalen, Die Verzweiflung Heldenmut- Brüder fliegt von euren Sitzen, wenn der volle Römer kraißt, Laßt den Schaum zum Himmel spritzen: Dieses Glas dem guten Geist.“
Da Schiller mit den Mannheimern ohnehin gebrochen hatte, ging er im September 1785 mit den Körners nach Dresden und lebte bzw. arbeitete er bis 1787 auf deren Loschwitzer Weinberg.
Aus der Freundes-Hymne für Gottfried Keller entstand, durchaus über Zwischenschritte, die seriöse Ode an die Freude, die im Jahre 1812 ihren Weg in das Skizzenbuch des Ludwig van Beethoven (1770-1827) fand. Dort stehen auch erste Notenzeilen und die Anmerkung:“ Freude schöner Götterfunken-Ouvertüre ausarbeiten“ und Satzfetzen, wie „Fürsten sind Bettler- nicht das Ganze“.
Offenbar beschäftigte sich Beethoven längere Zeit mit der Idee, die „Sturm- und Drang-Gedanken“ des schon vor sieben Jahren verstorbenen Dichters in Musik zu fassen.
Um 1817 bat der Beethoven-Schüler Ferdinand Ries (1784-1838) im Auftrag der Londoner „Royal Symphonic Society” den Komponisten um zwei Symphonien. Die achte Symphonie war bereits 1812 abgeschlossen worden und er komponierte zu dieser Zeit vor allem Werke der „kleineren Form“. Beethoven skizzierte deshalb zunächst nur Themenentwürfe. Während seiner Sommeraufenthalte in Baden bei Wien begann der Komponist ab 1821 intensiver mit der Arbeit an seiner neunten Symphonie. Die Entscheidung für ein Chor-Finale ist vermutlich erst 1823 gefallen. Auch standen mehrere Text-Vorlagen zur Auswahl, bis im Dezember die Entscheidung zu Gunsten des Schiller-Gedichtes fiel. Beethoven war mit seiner Arbeit nicht im Reinen, so dass er selbst nach der Uraufführung den Austausch des Chorfinales gegen einen instrumentalen Schluss-Satz in Erwägung zog.
Wiener Musikfreunde setzten, bevor die Partitur nach London geliefert werden sollte, für den 7. Mai 1824 eine Uraufführung unter Leitung des Komponisten durch. Die 2.400 Plätze des Theater am Kärntnertor waren, abgesehen von den Logen des Hofes, nahezu komplett besetzt, als der 53-jährige Komponist mehr als sechs Jahre nach seinem letzten Konzertauftritt an das Dirigierpult trat. Beethoven hatte inzwischen nahezu alle Reste seines Gehörs verloren, so dass er lediglich zu Anfang der Sätze das Tempo vorgab und die Musiker den Anweisungen des seitlich hinter dem Tonschöpfer postierten erfahrenen Dirigenten Michael Umlauf (1781-1842) folgten. Nach unartikuliertem, hilflosem Dirigieren musste Beethoven nach dem Scherzo auf einen kraftvollen Zwischen-Beifall erst aufmerksam gemacht werden, damit er sich zum Publikum umdrehe. Dass er die Schlussovationen verpasst habe, ist allerdings eine der Fälschungen Anton Schindlers (1795-1864).
Schon der zweiten Aufführung der d-Moll-Symphonie war kein Erfolg beschieden.
Wie eine Klammer verbindet die „Neunte“ eine emotional geprägte, unpolitische, romantische Eingebung der Sturm- und Drangzeit mit einem hochpolitischem Werk der nachrevolutionären Restauration Metternich´ scher Prägung.
Dazwischen lagen aber Jahrzehnte mit wahnwitzigen, widersinnigen, wertestürzenden Ereignissen, in denen Europa gegen sich selbst einen Kreuzzug führte, indem statt der Waffen der Vernunft die Vernunft der Waffen regierte. Was Schiller als liebevoll enthusiastische Umfassung der Welt hinausgejubelt hatte, machte Beethoven zu einem beschwörenden Einigungsruf: der Chor, der so singt, werde zum Vorbild der Einigkeit der Welt.
Für Beethoven war das Werk ein Apell, eine Sehnsucht nach Verbrüderung, nach einer Welt ohne Krieg und Zerstörung, schließlich nach der Utopie eines Weltfriedens. Diese Textstruktur stieß auf Unverständnis.
Jahrzehnte hat das Bürgertum gebraucht, um die Enttäuschung der frühen Aufführung von 1824 in Weihegefühle zu verwandeln und den Weg vom verschlossenen Kunstwerk zum überwältigenden öffentlichen Ereignis zu beginnen.
Inzwischen hat sich die „Neunte“ aber viel gefallen lassen müssen.
Beginnend mit Richard Wagner (1813-1883), der das Werk im Zusammenhang mit dem Dresdner „Palmsonntagskonzert 1846“ zur „Erschließung neuer Klangräume“ mit einem bombastischen Chor einstudierte und sich dabei auch an der Partitur verging. Mit dem Text habe er sich erst 1849, als bereits in der Stadt die Barrikadenkämpfe begonnen hatten, identifiziert.
Wer wollte, wer konnte hat sich nach ihrer „Erweckung“ der Neunten bedient und das Chorfinale für seine Zwecke gedeutet. Unabhängig von der politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Rezeption wird die „Ode an die Freude“ als Allzweckwaffe genutzt, um irgendwelche Anliegen zu artikulieren oder zu vertuschen. Der Missbrauch des Meisterwerks Beethovens ist ungebrochen.
Auch in unserer Zeit wird die Symphonie für jede denkbare Gelegenheit regelrecht benutzt. Da werden Olympiaden mit ihren Klängen eröffnet, das Ende der DDR gefeiert, die Unabhängigkeit des Kosovo im Februar 2008 bejubelt, um einige Beispiele zu nennen.
Auch wurde aus dem ursprünglichen Trinklied 1972 das offizielle Symbol des vereinigten Europas, indem das Vorspiel zur „Ode an die Freude“ im vierten Satz von Beethovens Symphonie zur „Europäischen Hymne“, zum „Song of Joy“ erklärt wurde.
Inzwischen stört es kaum noch, dass die Botschaft von der Brüderlichkeit aller Menschen eine Utopie geblieben ist. Weltweite Kriege, Flüchtlingsströme, wachsende soziale Ungerechtigkeiten, Folgen der Umweltzerstörungen lassen das Pathos des Finales bei bewusstem Hören ziemlich hohl klingen und den Götterfunken nicht zünden.
Die Tradition der Silvesterkonzerte mit der „Neunten“ wurde in Leipzig nach dem ersten Weltkrieg von dem Redakteur des Feuilleton der Leipziger Volkszeitung Rudolf Franz (1882-1956) angeregt, der gemeinsam mit dem Chor-Dirigenten und Musikchef des Arbeiterbildungsinstituts Barnet Licht (1874-1951) den damaligen Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch (1855-1922) für eine Aufführung gewann. Am Silvesterabend des Jahres 1918 gab wenige Minuten vor 23 Uhr Arthur Nikisch in der Albert-Halle den Einsatz, so dass das Jahr 1919 mit dem Schluss-Chor begrüßt werden konnte. Bis zum Jahre 1933 organisierte Barnet Licht neben preisgünstigen Gewandhaus- Konzerten die Silvesteraufführungen.
Erst nach dem zweiten Weltkrieg entwickelten sich die ab 1946 traditionellen Gewandhaus-Silvesterkonzerte zunehmend zu Kultveranstaltungen.
Ich bekenne, dass wir seit 1957 diesen Kult über Jahrzehnte mit gelebt haben: da wurden die Abweichungen der Aufführungszeit von den 74 Minuten der legendären Furtwängler-Einspielung von 1942 gemessen sowie diskutiert und die Opulenz des Schluss-Chores befeuert. Hatten Franz Konwitschny noch 73 Sängerinnen und Sänger des Rundfunkchores gereicht, so wurden in den letzten Jahren 150 Singende aufgeboten. Vor allem musste man sich im Silvesterkonzert sehen lassen und Ergriffenheit zeigen!
Ich bin über die Entscheidung, dass die Sächsische Staatskapelle, in einer Zeit, in der sich die Welt von der Beethoven´schen Utopie auf das extremste entfernt hat, nach zwanzigjähriger Abstinenz den Jahreswechsel wieder mit dem, ob seiner Historie problematischem Werk, begeht, etwas verunsichert. Ich sehe den gebührenden Platz der neunten Symphonie d-Moll von Ludwig van Beethoven inzwischen ausschließlich im Konzertrepertoire.
Im Konzert am Silvesterabend 2022 wurde von der Sächsischen Staatskapelle und ihrem Chefdirigenten eine beeindruckend solide, konservative Interpretation des Beethoven-Werkes mit einigen Auslegungsfreiheiten geboten. Gegenüber unserer letzten „Neunten“ mit Christian Thielemann im Repertoire-Konzert am 5. September 2021 hat er einige außergewöhnliche Pausenverlängerungen und interessante Tempi-Veränderungen vorgenommen ohne das Gesamtkonzept seiner Interpretation in Frage zu stellen.
Die wunderbaren Streicher ließ der Dirigent im etwas ruppigen Kopfsatz aggressiver, fahler daherkommen, während mit den streng im Zeitmaß gehaltenen Bläsern die Abkehr vom Wohlklang betont war. Der konsequent disponierte Satz mit seinen Depressionen und geheimnisvollen Explosionen vermied damit Anklänge an die Euphorie des Finalsatzes und deutet auf den Beginn eines längeren Weges.
Das Scherzo mit seinen rasanten Stimmen führte, nicht ohne Raffinesse, zu einer wohlklingenden, temperamentvolleren Entwicklung des Symphoniegeschehens.
Mit variierten, teils stillstehenden, dann plötzlich antreibende Tempi, sowie zahlreichen Details und Facetten führte der langsame Satz wie ein Brückenbogen zum Finalsatz.
Nach Art eines klassischen Kapellmeisters leitete Christian Thielemann den Schluss-Satz bescheiden, fast zögerlich mit einer ordentlichen Anlaufzeit ein, straffte das Tempo und führte die aufgelockerten Aussagen der ersten drei Sätze zu einer wieder hergestellten Werkstruktur zusammen.
Das „Freudenthema“ wurde behutsam angefasst und präzise bereiteten Violoncelli und Kontrabässe auf das eindrucksvolle Bass-Solo Georg Zeppenfelds vor.
Für das Sopransolo konnte in letzter Minute Elena Stikhina mit ihrer prachtvoll leuchtenden Stimme, ihrer makellosen Artikulation und imponierenden Diktion gewonnen werden. Sie ergänzte sich wirkungsvoll mit der exzellenten, warmen Alt-Stimme von Christa Mayer.
Passend dazu der lyrische Tenor Klaus-Florian Vogt, bei dessen Gesang, ob man wollte oder nicht, immer seinen wundervollen Lohengrin im Ohr hatte.
Der von André Kellinghaus hervorragend vorbereitete Sächsische Staatsopernchor hatte sich vollendet in die Wogen des Orchesters eingegliedert, glänzte mit homogener Intonation, ausgefeilter Dynamik und essenziellem Pathos.
Langanhaltende stehende Ovationen, bis der Chefdirigent das Ensemble ins Neue Jahr verabschiedete.
---| IOCO Kritik Sächsische Staatskapelle Dresden |---