Dresden, Semperoper, Sächsische Staatskapelle - Daniele Gatti, IOCO Kritik, 24.10.2022
Sächsische Staatskapelle Dresden - Daniele Gatti
3. Symphoniekonzert - Robert Schumann - Johannes Brahms
von Thomas Thielemann
Zwei seltener gespielte Ouvertüren des Zwickauer Meisters sowie je ein Monumentalwerk von Robert Schumann (1810-1856) und Johannes Brahms (1833-1897) hatten die Konzertplaner Daniele Gatti, ab 2024 Nachfolger von Christian Thielemann, in das Programm des dritten Saison-Symphoniekonzertes 2022 der Sächsischen Staatskapelle geschrieben, damit dieser seine Kompetenz dieser Komponisten demonstrieren konnte.
Das Schaffen Robert Schumanns für die Bühne ist recht übersichtlich. Neben einigen Schauspielmusiken hat er nur eine Oper, und zwar das Eifersuchts-Drama Genoveva geschaffen. Angeregt vom Trauerspiel „Leben und Tod der heiligen Genoveva“ des Ludwig Tieck (1773-1853) aus dem Jahre 1799 und Friedrich Hebbels (1813-1863) Tragödie „Genoveva“ von 1841 begann Schumann 1847 die Arbeit an einem Werk, mit dem er die deutsche Oper eigentlich reformieren wollte.
Friedrich Hebbel als Autor des Textbuches zu gewinnen, schlug fehl, so dass der Komponist mit seinem Dichter-Freund Robert Reinick (1805-1852) selbst Hand anlegte. Leider waren der Musiker und sein Co-Autor keine Bühnenpraktiker, so dass ein undramatisches Libretto, mit nur auf das Innerliche bezogene, bis zur Grübelei subjektiv arbeitende Bühnenfiguren entstanden, eigentlich wie es Schumanns Charakter entsprach.
Die Handlung verfügte über alle Elemente eines Opernerfolges: Liebe, Begehren, Eifersucht, Mord, Rache sowie dramatische Zeitumstände. Aber es fehlten lebendige, scharf ausgeprägte Charaktere, die sich äußern, was sie wollen. Arien, Duette und Ensembles, die Beifall heischen und Charaktere oder Situationen ausloten, waren durch Arios-Rezitativisches ersetzt. Schumann war über seine Persönlichkeitsstruktur gestolpert.
Da half nicht, dass der Komponist alle ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten einbrachte und eine motivisch strukturierte Partitur mit musikalischem Einfallsreichtum, dichten symphonischen Klängen und choralartigen, prachtvollen Chören schuf. Den Singenden wurden keine großen Gesten, sondern ein feinfühliger, differenzierter Ausdruck, ähnlich dem Liedgesang, abverlangt. Der intime Zwiegesang ist Treiber des Geschehens und gibt ihm seine bösen oder erlösenden Wendungen.
Damit war „Genoveva“ eine „schöne, aber letztendlich unrettbare Opernleiche“ und als das angestrebte „Hauptwerk der deutschen Opernromantik“ zerronnen. Zwei Aufführungen der Vierakt-Oper hat das Stadttheater Leipzig im Juni 1850 durchgestanden, bevor das Werk auf das Konzertpodium verbannt und auch da leider nur sehr selten aufgeführt wurde. Nur Unerschrockene holten die „krude Story“ Genoveva gelegentlich auf die Opernbühne.
Daniele Gatti interpretierte die Ouvertüre 175-Jahre nach ihrer Entstehung beeindruckend progressiv und nutzte die kühne Instrumentation. Die grellen Dissonanzen, die schrille Intonation sowie seine flotten Tempi, nahmen der Musik jedwede Betulichkeit, trieben die freudig spielenden Musiker der Staatskapelle durch die extreme Stimmführung
In seiner Düsseldorfer Schaffensperiode zog Robert Schumann noch einmal in Erwägung, sich an ein Bühnenwerk zu wagen und ein Singspiel zu Johann Wolfgang Goethes (1749-1832) lyrisches Dichtung „Hermann und Dorothea“ zu schreiben. Eine Episode aus der Salzburger Protestanten-Vertreibung, die von Goethe in die Napoleonische Zeit transformiert und eine bürgerliche Idylle der Liebe inmitten des Flüchtlingselends zur Zeit der französischen Revolution zum Inhalt hat, war zunächst Basis der Überlegungen. Später hat Schumann den Fötus einfach dem Goethe-Gedicht aus den Jahren 1796/1797 voran gestellt.
Das markanteste an Gattis Interpretation der recht undramatischen Ouvertüre waren die geschickte Verbindung des etwas kuriosen „Hermann-Themas“ mit den mehrfach eingebundenen thematischen Zitaten der französischen Revolutionshymne, der Marseillaise. Vergeblich blieb der Versuch, den „Dorothea-Seitenthemen“ etwas lyrische Breite zu geben. Da bot die Komposition Schumanns einfach keine Ansatzmöglichkeiten. Am Ende der Ouvertüre war die Erwartung geweckt, gleich müsse sich der Vorhang öffnen und die Oper beginnen.
Nach dem überwältigten Erfolg seiner 1841 komponierten und von Felix Mendelssohn Bartholdy im gleichen Jahr in Leipzig uraufgeführten „Frühlingssymphonie“, der Symphonie Nr.1 B-Dur und der Entscheidung des jungen Paares Clara und Robert für ein Künstlerleben voller Tatendrang und Schaffenseifer, schuf er voller Emotionen eine „Symphonische Phantasie in d-Moll“.
Die radikale Andersartigkeit des Formkonzepts, weg von der viersätzigen Form und hin zu einer sich weiterentwickelnden Struktur blieb nach der Gewandhaus-Uraufführung am 6. Dezember 1841 unter Ferdinand David (1810-1873) in Leipzig ohne Resonanz. Die zahlreichen Themenverknüpfungen zwischen den Sätzen befremdeten, so dass Schumann die Partitur nicht veröffentlichte.
Wie oft er in den folgenden Jahren die „Symphonische Phantasie“ in der Hand gehabt hat, ist wahrscheinlich nicht mehr nachzuprüfen. Als er nach der Übersiedelung nach Düsseldorf von den Rheinländern freudig empfangen und mit seiner "Rheinländischen, der 3. Symphonie Es-Dur“ Erfolg hatte, ließ er sich von der Begeisterungsfähigkeit anstecken und nahm sich die d-Moll-Fassung von 1841 wieder vor. Durch die Veränderungen der Orchestrierung und der Tempi, zusätzliche Verdoppelungen sowie eine Wiederholung im Kopfsatz verlor die Symphonie ihre Luftigkeit und Durchlässigkeit. Johannes Brahms, der die Erstfassung immer verteidigt hatte, meinte, Schumann habe mit der Revidierung der Symphonie ein schweres Kleid umgehängt, so dass sie nicht mehr tanzen könne.
Trotzdem blieb die 4. Symphonie Schumanns wichtigster Beitrag, die Komponisten seiner Generation aus dem Schatten der Beethoven-Symphonien heraus zuführen.
Gern hätte ich endlich einmal die Urfassung von 1841 im Konzert erlebt. Aber der Konzertplaner blieb traditionell und ich bleibe ich auf den CD-Spieler und YouTube angewiesen.
Mit gewohnter Präzision, voller Begeisterung setzten die Musikerinnen und Musiker die engagiert-akzentuierte Zeichengebung Daniele Gattis mit ihren interessanten Tempoverschiebungen zu einem prachtvollen farbenreichen Musikerlebnis um.
Zwischen die Schumann-Arbeiten hatte die Programm-Planung die „Variationen über ein Thema von Haydn“ op.56a von Johannes Brahms eingeschoben.
Johannes Brahms besaß zwar eine umfangreiche Autografensammlung, in der sich auch Nachlass von Joseph Haydn (1732-1809) befand. Das Thema für sein Opus 56a fand er allerdings in den 1870-er Jahren beim Stöbern im „Wiener Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde“. Der mit Brahms befreundete Archivar- Musikwissenschaftler Carl Ferdinand Pohl (1819-1887) zeigte ihm in einer Haydn-Ausgabe die als Feldparthien bekannten „Sechs Divertimenti für zwei Oboen, drei Fagotten, zwei Hörnern und Serpent, einem historischen Bass-Blechblasinstrument“, und machte ihn auf das 6. Divertimento mit dem Choral St. Antonii, der auf ein Wallfahrtslied zurück ging, aufmerksam.
Dass die beiden versierten Musikhistoriker nicht über die erst nach 1770 übliche Bläser-Oktett-Besetzung gestolpert sind, und damit Haydn als Urheber des Themas unwahrscheinlich war, ist schon verwunderlich. Bis heute konnte der Autor des gefälligen Werkes nicht ermittelt werden.
Drei Jahre hatte Brahms das Thema mit sich herumgetragen, bis er im Sommer 1873 in Tutzing am Starnberger See seine „Variationen für Orchester über ein Thema von Joseph Haydn“ komponierte und noch im gleichen Jahr in Wien zur Uraufführung brachte. Das eröffnente, eingängige Choralthema dirigierte Daniele Gatti angenehm frisch und mit Elan. Die acht klangschönen Variationen wurden mit großer Klarheit, allgegenwärtiger Transparenz und beherzter Gestaltung intoniert. Die Tempi waren lebhaft, aber an keiner Stelle überhastet. Jeder der Variationen wurde der ihr vorgegebene Charakter auch differenziert zugestanden.
Gatti und die Musiker meisterten die Brahms´schen technischen Hürden und begeisterten vor allem in der fünften Variation mit der Beherrschung deren brutaler rhythmischer Verschiebungen. Wenn dem Begriff der „Variationen“ oft der Charakter etwas Beliebigen, Unzusammenhängenden anhaftet, so ist das bei den „Haydn-Variationen“ nicht im Entferntesten der Fall.
Organisch schloss Gatti mit der flott dargebotenen hell strahlenden Passacaglia jenes Werk ab, mit dem sich der Symphoniker Johannes Brahms der folgenden Jahre ankündigte.
---| IOCO Kritik Sächsische Staatskapelle Dresden |---