Dresden, Semperoper, RICHARD-STRAUSS-Tage 2024, IOCO
Dresden - Sempeoper: Als „genetischem Thüringer“ sind die Namen der beiden Komponisten des Konzertes Richard Strauss (1864-1949) und Max Reger (1873-1916) eng mit der „Meininger Hofkapelle“ verbunden ......
Dresdner Strauss-Tage 2024: Max Reger - „Mozart-Variationen“ - Richard Strauss - „Don Quichote“
von Thomas Thielemann
Als „genetischem Thüringer“ sind die Namen der beiden Komponisten des Konzertes Richard Strauss (1864-1949) und Max Reger (1873-1916) für mich eng mit der „Meininger Hofkapelle“ verbunden. Für deren Entwicklung hatte die Persönlichkeit des Theaterherzogs“ Georg II. (1826-1914) eine wichtige Bedeutung.
Der auf Betreiben des Preußischen Reichskanzlers Otto von Bismarck (1815-1898) im Jahre 1866 zum regierenden Herzog von Sachsen-Meiningen ernannte Georg II. ist in der heutigen Betrachtung wegen seiner Reformen der Liberalisierung des Rechtswesens, des Schulsystems und des Gemeindewesens anerkannt. Vor allem seine Förderungen von Kunst und Kultur als Mäzen an der Spitze des Hoftheaters sowie die Entwicklung der Meininger Hofkapelle zu einem Spitzenorchester seiner Zeit hatten ihm den Titel des „Theaterherzogs“ eingebracht.
Die 81 Gastspielreisen des Hofschauspielerensembles durch Deutschland und Europa im Zeitraum ab 1874 mit des Herzogs Inszenierungen und den szenischen Bühnenbildern haben geschätzte zwei Millionen Zuschauer erleben können. Mein in einer Exklave „Eisenberg“ des Herzogtums im Jahre 1872 geborener Großvater hat das Wirken des Herzogs mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht so positiv gesehen. Denn als Drittgeborener von fünf Söhnen des Bauern Friedrich-Wilhelm Thielemann (1831-1901) musste Hugo 1895 mit seinen Brüdern Reinhold, Friedrich und Hermann am gleichen Morgen, als das Anwesen dem ältesten Sohn Gustav-Hermann übertragen wurde, das Dorf Wichmar verlassen. Nachdem sie Jahrelang lediglich für Kost und Logis im Anwesen mit geschuftet hatten, wurden sie mit einem geringen Zehrgeld auf Wanderschaft geschickt und durften sich ein Jahr dem Heimatort nur bis zu einer Meile nähern. Nur dank dieser drastischen Erbregelungen und brutal agierender Steuerbeamter konnte die Leistungsfähigkeit der Agrarwirtschaft in der 280.000-Bewohner-Monarchie erhalten werden und die Leidenschaften ihres Herzogs finanzieren.
Zu Fuß waren die Brüder nach Leipzig gelangt und ergänzten den Arbeitskräfte bedarf der industriellen und gesellschaftlichen Entwicklung in der Stadt. Politisch orientierte oder kirchliche Gruppierungen unterstützten die Zuwanderer bei der Wohnungs- sowie Arbeitssuche und beim Zurechtfinden. Zunehmend holten sie ihre dörflichen Bräute nach und gründeten Familien. Mir hat diese Entwicklung ermöglicht, in der Stadt aufzuwachsen und deren Möglichkeiten zu nutzen. Aber die Erzählungen des Großvaters über seine Jugend klangen noch in den 1940er Jahren bitter.
Der Spätromantiker Max Reger übernahm im Jahre 1911 die Leitung der Meininger Hofkapelle und wurde 1913 auch deren Generalmusikdirektor. In dieser Zeit reifte auch die Idee zu den Variationen über ein Thema Wolfgang Amadeus Mozarts (1756-1791), obwohl Reger in seiner Jugend die Sonaten des Salzburgers als zu einfach empfunden hatte. Die Wahl fiel auf das Thema des ersten Satzes der wahrscheinlich bekanntesten Mozart Klaviersonate Nr. 11 A-Dur KV 331, mit dessen Versetzung in neue harmonische Umgebungen Reger wechselnde Stimmungen schaffen wollte. Zunächst schien es ein absurdes Vorhaben, dass sich der verschwenderisch mit Harmonien umgehende Reger an die karge Klarheit des Mozart-Themas heranwagte. Aber vor allem wollte er mit den Variationen die differenzierte Instrumentierungskunst der Meininger Kapelle, die „Quintessenz seiner Meininger Erfahrungen“, demonstrieren.
Antonio Pappano und die Staatskapelle Dresden modellierten uns einen eindrucksvollen Rückblick auf das frühe 20. Jahrhundert, auf einen Mozart, der, dank Regers ständig präsenter Variationskunst sowohl zarter als auch kraftvoller zu hören war, als heute üblich. Beeindruckend, wie Pappano die Musiker der Staatskapelle die außergewöhnlichen Mutationen des Mozart-Themas spielen ließ. Zum Anfang leitete die so herrlich warm klingende Oboe des Französischen Gastsolisten Armand Djikoloum zu einem reizvollem Wechselspiel zwischen Holzbläsern und Streichern über, die das Thema mit Wehmut, wie eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten, anreicherte. Einige Male von kontrastierenden Stimmen „klassisch umspült“, legte es zunehmend seine Lieblichkeit ab. Bereits die dritte Variation erklang kammermusikalisch-verfremdet, während sich die beiden Mittel-Variationen am weitesten von Mozart entfernten. Mehr Rhythmus und heiteres Hörempfinden in der Folge, bis letztlich die siebte, mit Blech bewehrt, als schneidiger Marsch daherkam. Als Endpunkt räkelte sich die Mozart-Vorlage als achte Variation in der Schwüle des Beginns des 20. Jahrhunderts.
Mit der abschließenden Fuge blieben dem Dirigenten und dem Orchester nichts anderes übrig, als diese am Charakter des Mozart-Themas doch ziemlich vorbeikomponierte Entwicklung sich dem Vorbild wieder, so dezent als möglich, zu nähern. Dazu war Antonio Pappano der richtige Musiker, der auf Durchsichtbarkeit im Orchester abzielte, aber zugleich dem klaren Ton betörende romantische Aspekte zuzuschreiben verstand. Der raffinierte Einfallsreichtum der Fuge war mit Klarheit und Wärme deutlich gemacht. Die Details waren gewissenhaft, aber nicht pedantisch beachtet. Die Harmonie war ebenso wichtig wie der Kontrapunkt, was uns zu Mozart zurückführte. Wie von Reger beabsichtigt, stellte Pappano das Orchester wie ein Musiklexikon noch einmal vor: er ließ die Streicher dezent-seidig loslegen und erlaubte mit jedem Einsatz einer neuen Instrumentengruppe oder eines der Blasinstrumente, deren eigene Möglichkeiten zu entfalten. Das war beeindruckend.
Ein körperlicher und seelischer Zusammenbruch während einer Konzerttournee im Februar 1914 unterbrach Regers Arbeit an den Variationen und führte zu einem Sanatoriums-Aufenthalt in Martinsbrunn bei Meran. Vom April bis zum Juli 1914 entstanden die Manuskripte des Reger-Opus 132. Allerdings fühlte sich Reger den Aufgaben der Leitung des Hoforchesters mit dessen reger Gastspieltätigkeit nicht mehr gewachsen, auch wollte er mehr Zeit für die Weiterentwicklung seines kompositorischen Schaffens gewinnen, so dass er im Juli 1914 Meiningen verließ. Er übersiedelte in das nahe Jena, prägte seinen „freien Jenaischen Stil“ und behielt, neben gelegentlichen Konzertreisen, nur noch seine Lehrtätigkeit am Leipziger Konservatorium. Im Alter von 43 Jahren verstarb Max Reger in Leipzig an Herzversagen.
Eine Nebensächlichkeit: Das Konzert begann etwa fünf Minuten später, da die Reger-Partitur des Dirigenten fehlte und schwer aufzufinden war.
Nach der Konzertpause folgte „Don Quixote-Fantastische Variationen über ein Thema ritterlichen Charakters“ op. 35 von Richard Strauss:
Der „Erste Hofkapellmeister am Königlichen Hof- und Nationaltheater München“ Richard Strauss arbeitete im Frühjahr des Jahres 1897 gleichzeitig, so eine Tagebucheintragung vom 15. April, an zwei Tondichtungen: die eine beschrieb einen nicht näher definierten Helden, der sich gegen echte oder eingebildete Widersacher, zum Beispiel Musikkritiker, auflehnte. Ein Held, der liebte, kämpfte, aber letztlich der Welt entsagte. Die andere Arbeit betraf die tragische literarische Figur der Heldengeschichten des Miguel de Cervantes (1547-1616) Don Quixote, der in seiner Demenz eingebildete Abenteuer bestand. Ob der überlieferte Wunsch des 34-jährigen Komponisten ernsthaft war, dass sein Opus 35 Don Quixote und das Ein Heldenleben op. 40 stets gemeinsam aufgeführt werden sollten, müsste man bezweifeln. Denn irgendwann hätte jemand Überdeckungen zwischen „dem Helden“ und Don Quixote auffallen müssen. Nicht ohne Grund machte die scharf beobachtende Cosima Wagner den jungen Strauss auf den Cervantes-Stoff aufmerksam, als er ihre Wünsche, ihr Schwiegersohn zu werden, durch geschaffene Tatsachen abwehrte.
Mit Pappanos Dirigat gestaltete sich die etwas spröde Tondichtung zu einem sinnlichen Fest der Orchesterkultur der auf Richard-Strauss-Musik geradezu fixiert zu scheinenden Dresdner Staatskapelle. Don Quixote war für ein großes Orchester, allerdings mit vielen kammermusikalischen Einschiebungen, komponiert worden. Antonio Pappano hatte offenbar größte Freude an der Gestaltung mit einem Orchester, das aus Spitzenmusikern besteht.
Der außergewöhnlich seidige Klang seiner Streicher prägte das Orchesterkolorit entscheidend und dominierte zu einem gewissen Grade den Höreindruck. Die Bläser traten weniger als separate Gruppe in Erscheinung, sondern färbten mischend den Gesamtklang. Pappano verstand es meisterhaft die Dynamik zu kontrollieren und volles Volumen mit feinster, luftig eingeordneter Kammermusik zu verbinden. Die Liebe zum Detail war erkennbar und die häufigen Höhenflüge mit ihrer Fülle von Ideen und Ereignissen passten zum Thema. Nie tönte das Orchester lärmig.
Zwei Solo-Instrumente dienten der Verlautbarung der Protagonisten: das Cello der des Ritters und die Bratsche der des Knappen Sancho Pansa. Norbert Anger mit seinem Cello aus der Neapeler Werkstatt Alessandro Gaglianos (1665-1732) aus dem Jahre 1720 und der Bratschist Florian Richte, beide Konzertmeister der Sächsischen Staatskapelle ihrer Instrumentengruppen, trugen mit ihren virtuosen Soli erheblich zum Gelingen dieser Interpretation bei. Sie fügten sich in das Klangbild ein, ohne dabei in den Vordergrund zu drängen, und behielten trotzdem Präsenz. Die Aufmerksamkeit der Besucher gehörte besonders dem warmen Spiel des Cellos, sobald Anger den Bogen ansetzte, um mit technischer und emotionaler Brisanz die wunderbar anmutigen Gesangslinien des Don Quixote zu spielen. Seine rezitativischen Partien wirkten auch ohne Äußerlichkeiten, zumal sie erstaunlich hervorragend durch die Sonorität der Viola Florian Richters ergänzt wurden, wenn er die schwerfälligen Linien des Knappen kontrastreich nachvollzog. Ihr Ansatz, keine Karikatur, sondern Humor und Ironie wirkten durch die Musik, nie durch Mimik, Gestik oder Übertreibung. Die Chemie des Duos in den eng miteinander verflochtenen Abenteuern machte die Längen des Werkes besonders reizvoll, zumal ihnen Pappano ausreichend Raum zur Entfaltung sicherte.
Richard Strauss hatte die Tondichtung als eine Themen- und Variationsform gestaltet. Pappano dirigierte das närrisch Gewordene und Uneigentliche der Einleitung geistvoll, eher nuanciert, als heroisch. Dabei schaffte es Pappano, bei der Vorstellung der Protagonisten nie die Spannung und Intensität zu verlieren, Musiker und Publikum bei der Stange zu halten. Immerhin musste das streitsüchtige Thema zehn fantastische Variationen mit ritterlichem Charakter durchlaufen. Abwechslungsreich ließ er die Instrumentalisten die von Strauss vorgegebenen unkonventionellen Techniken intonieren und das Illustrative geschickt einbinden. So nutzten mit verblüffender Wirkung die Holz- und Blechbläser ihre Dämpfungen, um das Blöken der Hammelherde in der zweiten Variation, den Kampf gegen die Schafherde, bestens durchhörbar zu gestalten. Sensibel aufeinander abgestimmte Register ließen Streicher und Bläser im Wechsel markant klingen.
So verblüffte in der vierten Variation bei der unglücklichen Begegnung mit der Büßerprozession das Pianissimo der Bläser. Die Vision von der Dulcinea, der Wahnvorstellung des Don von der idealisierten Frau, fügte dem Geschehen in der sechsten Variation eine weitere Originalität mit dem Violine-Solo der Konzertmeisterin Yuki Janke hinzu. Der Einsatz einer Windmaschine weckte die Fantasie beim imaginären Flug des Helden durch die Luft in der siebten Variante. Eine gefährliche Bootsfahrt brachte die Helden in den Bereich des Mühlrades einer Wassermühle. Das Wasser, was nach der Rettung durch den Müller aus ihrer Kleidung tropfte, wurde von den Streichern mit Pizzicato-Zupfen intoniert. Keine der Episoden wirkte oberflächlich. Das Finale war zur besonders berührenden Musik geworden, als Don Quixote Abschied aus der Geschichte und dem Leben nahm und die Cellostimme, nicht durch Ablenkungen belastet, die letzten Atemzüge des Ritters mit einem Abgleiten begleitete.
Sollten die Abenteuer des Don Quixote ein Gleichnis für unsere ständigen Kämpfe im täglichen Leben gewesen sein? Sollte uns die Metapher weisen, das Leben so zusehen wie es ist, und nicht wie es sein sollte.