Dresden, Semperoper, LA SONNAMBULA - Vincenzo Bellini, IOCO Kritik, 25.03.2023
LA SONNAMBULA - Vincenzo Bellini
- Belcanto auf höchstem Niveau - Bühnengeschehen in einem modernen Zauberberg -
von Thomas Thielemann
Wie bei jedem halbwegs erfolgreichen Sujet reichen die Quellen der Handlung von Vincenzo Bellinis (1801-1835) Oper La Sonnambula weit zurück und die Zahl derer, die am mageren Knochen der Handlung nagten, ist vielfältig. Die literarische Verarbeitung von durch nicht erkannte Schlafwandler hervorgerufene Verwicklungen und Kuriosa sind seit Dante Alighieri (1265-1321) kaum zu zählen.
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In den Programmheften zur Bellini-Oper wird als Quelle von Felice Romani (1788-1865) für das Libretto vor allem die 1827 aufgeführten Ballett-Pantomime „La Somnambule ou L´Arrivée d´un nouveau Seigneur“ von Eugen Scribe (1791-1861) und Jean-Pierre Aumer (1774-1833) aufgeführt. Wahrscheinlich haben dem Librettisten die Komödien „Die beiden Bräute“ von August Heinrich Julius Lafontaine (1758-1831) sowie die Schlafwandler-Opern von Luis Alexandre Piccinni (1779-1850), Luigi Ricci (1805-1859) und Ferdinando Paër (1771-1839) zur Verfügung gestanden. Mit Sicherheit kannte er das 1827 im Théâtre des Variétés aufgeführte Vaudeville „La Villageoise somnambule ou Les deux fiancées“. Auch hatte sich Romani bereits längere Zeit vor seiner Arbeit für Bellini mit dem Sujet des Übersinnlichen beschäftigt.
Vincenzo Bellini, 1801-1835, der als bedächtiger und behutsamer Komponist bekannt war, bekam nur neun Wochen Zeit von der Übergabe der ersten Texte Romanis Anfang Januar 1831 bis zur Uraufführung am 6. März 1831. Deshalb war er erfreut, dass er Material eines aufgegebenen Projekts einbinden und seine Belcanto-Arien den Sängern direkt auf die Stimme schreiben konnte. So wirken die Arien der Amina stellenweise recht tief, weil die damalige Gastsängerin der Scala Giuditta Pasta (1797-1865) über eine Sopran-untypische breite Tiefe in der Stimme verfügte.
Die Handlung der Oper ist unkompliziert und wenig komplex: Die La Sonnambula Amina und Elvino verloben sich, aber Lisa entdeckt La Sonnambula im Schlafrock eines anderen Mannes. Folglich entlobt sich das Paar und Elvino nähert sich wieder seiner früheren Liebsten Lisa. Rodolfo und Theresa klären aber die Umstände auf und die Hochzeit könnte gefeiert werden.
Ob die Verortung der Handlung in ein abgelegenes Schweizer Bergdorf auf eine Sehnsucht, Abstand von den politischen und sozialen Verwerfungen der Zeit zu bekommen, zurückzuführen war, oder ob sie auf einen simplen Verständigungsfehler zwischen Librettisten und Komponisten beruhte, müsste die Bellini-Forschung noch erkunden.
Zumindest konnte die Operninterpretation die pastorale Idylle der Schweizer Berglandschaft zum Verfremden der Naivität der von der globalen Entwicklung abgeschnittenen Dorfgesellschaft nutzen, siehe Foto.
Das Bühnenbild Johannes Leiackers stellte das Bühnengeschehen für den Regisseur Rolando Villazón in einen modernen Zauberberg, in eine Art Reha-Klinik oder in ein Hotelvestibül. Die Kostüme von Brigitte Reiffenstuel waren beziehungsreich und führten direkt in die Handlung. Die neun Türabgänge der kahlen Fassade ermöglichten der Personenführung die interessantesten Bühnenbewegungen.
Eine bizarre Alpenlandschaft im oberen Teil des Bühnenbildes nimmt dank der kreativen Lichteffekte Davy Cunninghams am Hergang im unteren Bühnenbereich teil.
Im Zentrum steht die Dorfgemeinschaft mit ihren festgefahrenen Ritualen, die einerseits die Vorgänge kommentierte und sich andererseits in die Vorgänge einmischte, so dass die Menschen ständig im Raum herumquirlten, dabei für Bewegung sorgten. Der Sächsische Staatskapellen-Chor zeigte musikalisch und szenisch das vielseitige Charakterbild der Gesellschaft. Mit Präzision und Einfühlung wurden hier Menschen porträtiert.
Die Titelfigur Amida, ein wenig gebildetes Waisenmädchen, ist in dieser Dorfgesellschaft eigentlich gut integriert. Sie akzeptiert die Rangunterschiede und bemüht sich, durch eine Ehe mit einem Wohlhabenden ihre Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext zu verbessern.
Aber nur die Quellen des Librettos verraten, dass der junge Graf Rudolfo vor Jahren eine Dorfschöne verführt und sich durch Flucht der Verantwortung entzogen hatte. Amida ist mithin die illegitime Tochter des Grundherren Rudolfo. Und dieser Rudolfo vermittelt Amida, dass es außerhalb der Dorfenge in der weiten Welt mehr zu entdecken, zu erleben gibt und weckt ihre Individualität.
Um die weitere Handlung zu verdeutlichen, hätte Villazón die Parasomnie eigentlich nicht bemühen müssen. Er erzählte aber auf poetisch-feinsinnige Art die nachtwandlerische Plattitüde der Romantik und entwickelte aus der Klischeetragödie des Librettos ein Psychodrama voller Wahrhaftigkeit und sozialer Sprengkraft.
Villazón ermöglicht Amina, diese Sehnsucht nach „etwas Anderem“ durch eine Flucht in parasomnisches Verhalten zu erfüllen, was aber gleichfalls zu Kollisionen mit der Gemeinschaft führen muss. Individuen, die in der Gruppe stark sind, die Druck auf Außenseiter ausüben, bildeten eine Instanz, an der kein Individuum vorbei kommt.
Die Amira der US-amerikanischen Sopranistin Emily Pogorelc wirbelt in der Vorfreude auf die Hochzeit mit ihrem wunderbaren auch in der Tiefe wohlklingendem Gesang und faszinierender Präsenz über die Bühne. Ihre Stimme zelebrierte die halsbrecherischen Koloraturen, die scheinbar mühelos aus ihr hervorströmten. Mit Leichtigkeit wand sich Emily Pogorelc durch die unzähligen technischen Finessen der Rolle, spannte den Bogen zwischen kraftvollen Koloraturen und zerbrechlichen Verzierungen. Ihr Gesang vereinigte innigen Schmelz und zartes Piano mit ihrer Darstellung der scheinbaren Katastrophe, wenn sie mit subtilen Pianissimo an ihrem Schmerz fast zerbricht. In der intensiv durchlebten Finalszene wurde sie freier mit ihren Schlussarien, selbstbewusster als individuelle Persönlichkeit.
Bühnenwirksam gestaltete Emily Pogorolec die an der Schwelle zum Erwachsensein befindlichen Amina als individuelle Persönlichkeit, die unterschwellig empfindet, dass sie andere Vorstellungen vom Leben entwickelte, als ihr die Regeln der Dorfgemeinschaft zubilligen.
Der aus Tula (Russland) stammende Maxim Mironov singt und spielt sein Rollendebüt als Elvino mit schwereloser heller Tenorstimme ohne Anstrengung in den Extremlagen. Er verfügt über verführerischen Schmelz des eleganten Kavaliers-Tenors, ebenso wie über mühelose Höhen.
Seine große Arie im zweiten Akt, ein Höhepunkt des Abends, und in den Duetten mit Amina erlebte man schönsten Belcanto voller Gefühle. Die Entwicklung, des aus höchstem Glück in tiefe Verwirrung fallenden Elvino, der in seiner Liebe voller Empathie aber wenig Standhaftigkeit gegenüber der fordernden Dorfgemeinschaft Amina beinah opferte, führte zwangsläufig zu einer begrenzt sympathischen Bühnenfigur. Bei allem Schönklang der Duette der Hauptfiguren bleibt offen, ob sich der Elvino zu einem kongenialen Partner der starken Amina entwickeln könnte oder ob letztlich das „happy end“ fraglich bleibt.
Eine eifersüchtige und intrigante Wirtin Lisa wurde von der erstmalig im Haus gastierenden Rosalia Cid verkörpert. Für die spanische Sopranistin war das ein Rollendebüt.
Sie gestaltete die Lisa als Gegenentwurf der fragilen, zögerlichen Amina als selbstbewusste Frau. In ihren Gesangspassagen ließ sie bis in die glänzendsten Höhen mit emotionalem, voluminösem Sopran ihre Eifersucht und ihre Verzweiflung über die Zurückweisung durchscheinen. Mühelos ließ ihr heller kristallklarer sinnlicher Sopran die vielen Verzierungen in den Gesangslinien der Rolle leuchten. Ob als eifersüchtige Liebhaberin, als intrigante Wirtin oder enttarnte Intrigantin bot die Spanierin als Schauspielerin Außerordentliches.
Der um die Lisa vergeblich werbende, sie anschmachtende Alessio von Martin-Jan Nijhof ist trotz der wenigen , allerdings hervorragend gesungenen Noten emsig bemüht, sie von ihren Ambitionen auf den vermeintlich wieder freien Elvino abzubringen.
Aminas Stiefmutter Teresa witterte im Handlungsverlauf den Karrieresprung zur reichen Schwiegermutter. Die aus Israel stammende Reut Ventorero gestaltete in ihrem Hausdebüt die Teresa als den Urtyp einer liebenswerten Mutterfigur, die ihre Adoptivtochter mit ihrem weichen Mezzosopran und einer glaubwürdigen Darstellung bedingungslos gegen die Dorfgesellschaft verteidigt. Ihr hätte man gern eine etwas größere Arie gegönnt.
Graf Rodolfo, kehrte aus der Welt zurück in die Berge, um die alte Geschichte um Aminas Herkunft aufzuarbeiten. Georg Zeppenfeld zeichnete mit Eleganz einen belesenen und differenzierenden Adeligen an der Schwelle zur Bürgerlichkeit. Sensibel, wenn er mit seiner dominierenden Stimme Kraft und Sicherheit vermittelt, um die verworrene Situation zu entwirren. Mit profundem, schönem Bass komplettiert er die Ensembleleistung, indem er spannendes Psychodrama dem Schöngesang wie selbstverständlich an die Seite stellt.
Der aus der Höhe der Berge herabsteigende Tenor Gerald Hupach bewirkt mit seiner kurzen Erscheinung als Notar den Handlungsfortgang.
Die Tänzerin Lucile Moulin hatte mit dem „zweiten Ich“ der Amina über weite Strecken die Aufgabe, vom Szenenrand die Handlungen der Titelheldin durch Gesten zu kommentieren. Das bekam aber am Beginn des zweiten Aktes und vor allem mit der Schluss-Szene erklärende Bedeutung.
Denn, als Teresa mit dem Grafen Rudolfo die Verwirrungen aufgelöst und Amina mit Elvino ihre faszinierenden Schlussgesänge absolviert hatten, könnte die Hochzeitsfeier beginnen. Mit den letzten Takten des Opernabends beriet sich stattdessen Amina mit besagtem „zweiten Ich“ und Rolando Villazón ließ uns über das Ergebnis dieser Beratung im Unklaren.
Aus der Musik heraus war die außergewöhnliche Geschichte mit zwingender Folgerichtigkeit anrührend erzählt worden. Souverän geführt von dem umsichtigen wie dynamischen Dirigat des Italieners Evelino Pidò breiteten die Musiker der Sächsischen Staatskapelle einen exzellenten Klangteppich aus. Pidò ließ das Orchester je nach Bedarf auf Hochtouren spielen oder auch konzertante Phasen erzeugen. Das Gleichgewicht zwischen Graben und Bühne stimmte, so dass den Singenden in jeder Phase ausreichend Raum blieb.
Der fabelhaft von Jonathan Becker vorbereitete und von Philippe Giraudeau choreografierte Chor entpuppte sich als der wahre Handlungsprotagonist.
Die intellektuelle Wiedergewinnung einer eigentlich inzwischen unspielbaren Belcanto-Oper erhielt mit der erlebten Aufführung eine Perspektive auf Erkenntnis und die Hoffnung auf ein erfolgreiches Repertoire-Stück.
Nach dem furiosen Schlussapplaus mit „Stehenden Ovationen“ für das Regieteam, beglückt von der umwerfenden Ensembleleistung und einem grandiosen Orchester, trat man als Zuschauer aus der umarmenden Wärme des italienischen Belcantos in den Nieselregen Dresdens.