Dresden, Semperoper, JULIA FISCHER - Solo-Violinsonaten von JS BACH, IOCO Kritik, 10.02.2023
JULIA FISCHER - Solo-Violinsonaten von JS Bach
- Capell-Virtuosin der Dresdner Staatskapelle brilliert mit Bach-Rezital -
von Thomas Thielemann
Die frühen Impulse des Auslotens eines mehrstimmigen Spiels auf der Violine sind von den in Dresden tätigen Geigern Johann Jakob Walter (1650-1717) und Johann Paul Westhoff (1656-1705) ausgegangen. Walter, der über sieben Ecken mit Johann Sebastian Bach (1685-1750) verwandt war, diente von 1674 bis 1680 als „primo violonista da camera“ am Dresdner Hof, während Westhoff von 1674 bis 1697 als Sprachlehrer der sächsischen Prinzen auch in der Dresdner Hofkapelle wirkte.
Beide komponierten und gehörten zu den führende Violinisten ihrer Zeit. Eine 1696 von Westhoff herausgegebene Zusammenstellung von sechs Partititen nahm der von 1712 bis 1755 als erster Geiger und als Hofkapellmeister in Dresden tätige Johann Georg Pisedel (1687-1755) auf und komponierte eine „Sonata a violino solo senza basso“.
Johann Sebastian Bach, der seinen Köthener Fürsten Leopold von Sachsen-Anhalt zu den jährlichen Kurreisen nach Karlsbad begleitete, lernte bei den Reiseunterbrechungen in Dresden die Aktivitäten der hiesigen Violinisten kennen. Bach hatte gewiss in Karlsbad die Bekanntschaft mit den Rosenkranz-Sonaten des Salzburgers Heinrich Ignaz Franz Biber (1644-1704) gemacht, deren Schluss von einer unbegleiteten Passacaglia gebildet war. In Köthen, wo sich Bach als Hofkapellmeister sowie Direktor der Kammermusik richtig wohlfühlte und offenbar seine kreativste Zeit verbrachte, konnte seinem Umgang mit der Violine entwickeln. Mit bis zu siebzehn qualifizierten Musikern, die zum Teil aus der aufgelösten Kapelle des preußischen König Friedrich Wilhelm I. stammten, schuf er neben den sechs Brandenburgischen Konzerten, den „englischen Suiten“ BWV 806-811, dem „wohltemperierten Klavier“ BWV 846-893 , Violinkonzerten 1041 bis 1043 die besagten „Sei Solo a Violino senza Basso accompagnato“, die Sonaten für Violine-Solo BWV 1001 bis 1006.
1720 starb nach dreizehn Ehejahren Bachs Ehefrau Maria Barbara. Die Köthener Heimat- und Bachforschung bezweifelt inzwischen, dass Bach erst nach der Rückkunft aus Karlsbad von ihrem Begräbnis erfahren habe. Denn Frau Maria Barbara ist nachweislich mit „großer Musik zu Grabe getragen worden“. Und wer sollte das in Köthen organisiert haben, wenn nicht Johann Sebastian Bach. Auch sei Fürst Leopold 1720 früher als üblich aus Karlsbad zurückgekommen, weil ihm die Reisekasse ausgegangen war. Das Zitat im Nekrolog Carl Philipp Emmanuels Bachs (1714-1788), das die Bachliteratur beherrscht, ist offenbar einem effekthaschendem Bach-Sohn geschuldet:
"Nachdem er - Bach - mit dieser seiner ersten Ehegattin 13. Jahre eine vergnügte Ehe geführet hatte, wiederfuhr ihm in Cöthen, im Jahre 1720 der empfindliche Schmerz, dieselbe, bey seiner Rückkunft von einer Reise, mit seinem Fürsten nach dem Carlsbade, todt und begraben zu finden; ohngeachtet er sie bey der Abreise gesund und frisch verlassen hatte. Die erste Nachricht, daß sie krank gewesen und gestorben wäre, erhielt er beym Eintritte in sein Hauß".
Aus dieser Zeit stammt Bachs Reinschrift der Partitur der als BWV 1001 bis 1006 bekannten Kompositionen für Violine-Solo, die er als einen Grabstein für die Verlorene betrachtete. Die etwas neidischen Weimaraner, wo Bach von 1708 bis 1717 am Hofe des Herzog Ernst August I. (1688-1748) wirkte, glauben mit Stilvergleichen und Handschriftanalysen belegen zu können, dass er zumindest Frühfassungen der Stücke für Solovioline in seiner dortigen Zeit geschrieben hat.
In ihrem Rezital spielte Julia Fischer aus dem Zyklus der „Sonaten und Partiten für Violine Solo“ die in italienischer Form gestalteten „Sonatas da chiesa“ in g-Moll, a-Moll und C-Dur. Sie demonstrierte mit einer berückenden Leichtigkeit ihre Fertigkeiten des polyphonen Spiels und weckte große Emotionen. Modische Übertreibungen oder oft gehörte hochdramatische Extravaganzen waren nicht ihre Sache. Dafür verfügt die Violinistin über Lösungen, Bachs kompositorische Hürden in den mehrstimmigen Partien zu überwinden.
Ihre Interpretation entwickelte sich von der majestätischen Eröffnung der g-Moll-Sonate zu Bachs Suche nach Trost in der a-Moll-Sonate, bis sich mit der C-Dur-Sonate seine Verzweiflung auflichtete.
Immer blieb das musikalische Geschehen in perfekter Balance. Die Tempi waren leicht und locker, dabei jede Phrase klar strukturiert gestaltet. Die Unaufgeregtheit von Julia Fischer, die spieltechnischen Herausforderungen natürlich und ungezwungen anzugehen, machte es ihr möglich, uns in den musikalischen Hergang sowie in Bachs Gedankenwelt mitzunehmen.
Unterstützt wurde die Wirksamkeit des Spiels der Julia Fischer vom phantastischen Klang ihres Instruments, einer 1742 in der Werkstatt Giovanni Battistas Guadagnini (1711-1786) gebauten Violine.
Mit der Zugabe, der Sarabande aus der zweiten Partia d-Moll BWV 1004 verabschiedete Julia Fischer ein bewegtes Auditorium, das die Semperoper bis zum zweiten Rang komplett gefüllt hatte.