Dresden, Semperoper, INNOCENCE - Kaija Saariaho, IOCO

Dresden, Semperoper, INNOCENCE - Kaija Saariaho, IOCO
Ensemble copyright Sebastian Hoppe

Premiere  15. März 2025

Psychogramm einer gesellschaftlichen Gruppe in einer beklemmenden Oper von Kaija Saariaho

Wie geht eine gutbürgerliche finnische Familie mit der Situation um, dass ihr minderjähriger Sohn mit dem Jagdgewehr seines Vaters an einer internationalen Schule in Helsinki ein Blutbad angerichtet hatte. Zehn Mitschüler und ein Lehrer hatte er umgebracht. Der Amoklauf liegt zwar mehr als zehn Jahre zurück und der Attentäter ist inzwischen aus der Psychiatrie entlassen worden. Aber die Schatten des Ereignisses blieben groß, denn der Bruder des Täters Tuomas war in den Vorbereitungen des Verbrechens involviert gewesen und nur in letzter Minute untätig geblieben. Untätig im doppelten Sinne: er hat zwar selbst nicht geschossen, aber auch seinen Bruder nicht gestoppt. Nun versucht Tuomas ein bürgerliches Leben zu führen und möchte die aus Rumänien stammende Stela heiraten.

Als die aus Tschechien stammende für die Bedienung der Hochzeitsgäste engagierte Tereza erkennen muss, dass sie sich im Haus der Familie des Mörders ihrer Tochter Markéta befindet und der Täter, inzwischen mit einer neuen Identität versehen, in Freiheit ist, bricht das Kartenhaus zusammen. Die Braut Stela ist zwar bereit, die Ausflüchten und Täuschungen der Familie zu tolerieren, aber Tuomas hat erkennen müssen, dass er das Geschehene noch nicht verarbeitet hat: ich liebe meinen Bruder noch immer. Er beendet die Beziehung zu Stela. Auch Teresa lässt sich von der als Vision auftretenden Markéta nur zögerlich trösten, was jeder verstehen wird, der selbst einen Sohn oder eine Tochter an den Tod verloren hat.

Rosalia Cid, Anu Komsi copyright Sebastian Hoppe

Aber auch die das Massaker überlebt habenden Klassenkameraden des Täters haben nicht nur die psychische Last des „überlebt Habens“ zu tragen. Sie waren zum Teil an den Schießübungen beteiligt gewesen oder hatten durch schwere Erniedrigungen der Brüder die Ausraster möglicherweise verursacht, zumindest aber unterstützt. Auch die Lehrer, die Eltern und der Priester müssen sich Vorwürfe machen, die psychischen Veränderungen der Brüder im Vorfeld ignoriert zu haben.

Angeregt von mehreren Gewalttaten an Schulen entwarf die estnisch-finnische Schriftstellerin Sofi Oksanen zwei Versionen eines Stückes in finnischer Sprache. Der Sohn der Komponistin Kaija Saariaho (1952-2023), Aleksi Barrière, hat daraus gemeinsam mit der Autorin der Entwürfe und seiner Mutter zunächst eine multilinguale Fassung des Librettos in finnischer, englischer, französischer und deutscher Sprache erarbeitet. Anschließend erweiterte er mit Hilfe von Muttersprachlern das Libretto um rumänische, tschechische, schwedische, spanische und griechische Textabschnitte auf neun Sprachen. In der Zeit von 2016 bis 2018 komponierte Kaija Saariaho die Oper.

Bei der Dresdner Premiere von „Unschuld“ wurden die Besucher während des Vorspiels von einer Videoinstallation einer fröhlichen finnischen Hochzeitsfeier ordentlich an der Nase herumgeführt. Denn bereits die drastischen Klänge aus dem Graben ließen erwarten, dass die Stimmung kippen musste, wenn nach dem Öffnen der Bildwand überlebende Schüler eines Anschlags stockend oder hastig, jeder im Sprachklang und Rhythmus seiner Muttersprache eindringlich seine Traumata schilderte und die Möglichkeit ausschloss, jemals ein Gefühl von Sicherheit wiederfinden zu können.

Der aus Innsbruck stammende Bühnenbildner Paul Zoller hatte für die differenzierten Ebenen der Dresdner Inszenierung des Schweizer Regisseurs Lorenzo Fioroni das passende Bühnenbild entworfen. Auf einer leicht erhöhten Spielfläche war ein stilisierter Schulraum aufgebaut. Die hell gehaltenen Interieurs waren mit weißen Tüchern wie eine finnische Winterlandschaft gestaltet. An der Rückwand tauchten von Zeit zu Zeit handlungsbezogene Videoinstallationen auf. Wie von Zauberhand entwickelte sich aus der schneebedeckten Vorderkante für die wenigen Gäste einer Hochzeit eine lange und spärlich dekorierte bestuhlte Tafel. In dieser Kombination von schneebedeckter Außenwelt und Hochzeitsfest-Arrangement ließ Lorenzo Fiorini seine Protagonisten in ihrer von der Berlinerin Annette Braun stilsicher gestalteten traditionellen finnischen Festgarderobe, beziehungsweise in den Schüler-Alltagskleidungen agieren. Hier berichteten die Betroffenen von ihren Befindlichkeiten vor, beim, sowie nach dem Attentat. Hier durchlebte die Kellnerin Tereza ihre Trauerarbeit mit ihrer getöteten Tochter Markéta und hier ließ auch Fiorini die Hochzeit scheitern. Dank dieser geschickten Anordnung waren für die weitere Handlung in beiden Bereichen und die Entwicklung der Charaktere keine Umbauten erforderlich. Die Festtafel war so lang, dass die Schülergruppe mit der Lehrerin ihren Zorn über die scheinheiligen Politikerreden auf der Gedenkfeier und zu den Berichten von Journalisten über das Attentat an der den Feiernden abgewandten Seite ausdiskutieren konnten.

Lorenzo Fiorini verstand es, die Spannung des dramatischen Geschehens zu erhalten, Gespräche und Bekenntnisse der Protagonisten zu vernetzen, die Ebenen detailliert und analytisch miteinander zu verknüpfen. Er brachte immer neue Ursachen, Hintergründe und Einzelheiten des Anschlags ans Licht. Hier ging es weniger um Schuld, sondern durch detaillierte Analyse der Charaktere die Ursachen und Hintergründe der Tat aufzudecken.

Mit seiner gekonnten Personenführung ist es Lorenzo Fioroni gelungen, die Sänger-Darsteller in ihrer Bedeutung für den Fortgang derEreignisse, ihre Verstrickung in das Attentat sowie ihre Verdrängungsversuche zu charakterisieren.

Paula Murrihy, Rosalia Cid copyright Sebastian Hoppe

Die irische Mezzo-Sopranistin Paula Murrihy als die Kellnerin Tereza und Mutter der beim Amoklauf getöteten Markéta entwickelte die Kraft, die Familie zu zwingen, der Braut von der Tragödie zu erzählen und brachte dabei das Kartenhaus zum Einsturz. Andererseits wurde sie von der künftigen Schwiegermutter Patricia erinnert, dass ihre Tochter Markéta mit ihren Spottliedern zur Aufheizung der Mobbingsituation beigetragen hatte. Und zwar mit jenen Liedern, die Tereza mit ihrer Tochter vorher eingeübt hatte.

Die Besetzung der als Vision der toten Markéta auf der Bühne agierenden Figur mit der finnischen Volkssängerin Venla Blom war ob ihres außergewöhnlichen am finno-ugrischen Volksliedstil orientierten Gesangs und ihrer berührenden Darstellung auf jeden Fall ein Glücksgriff.

Die rumänische Braut Stela war zunächst geschockt, als Tereza ihr die Familiengeschichte offenbarte. Die seit dieser Saison dem Hausensemble angehörende spanische Sopranistin Rosalia Cid in der Rolle der Stela war aber bereit, Toumas das Verschweigen der Familiengeschichte zu verzeihen, denn die im Waisenhaus aufgewachsene junge Frau war froh, endlich eine liebevolle Familie gefunden zu haben.

Den schwierigsten Entwicklungsprozess hatte Mario Lerchenberg mit der Darstellung des Bräutigams zu bewältigen, wollte sich doch Tuomas mit der Heirat von seiner Vergangenheit befreien. Seine Schuldgefühle waren zwar tief vergraben, aber die Konfrontation mit seiner Beteiligung an der Vorbereitung und seines Versagens beim unmittelbaren Ablauf des Amoklaufs brachte die Erkenntnis an seine psychische Oberfläche. Ihm wurde bewusst, dass er sich seinem Bruder noch immer verbunden fühlte und vor Beginn eines neuen Lebens noch viel aufzuarbeiten habe. Die sängerischen und darstellerischen Aufgaben des Tuomas erfüllte der seit Saisonbeginn im Ensemble engagierte Tenor mit großartiger Intensität. Da Tuomas finnisch-französische Eltern hatte und mit Stela auf Englisch kommunizierte, sang er seinen Part in drei Sprachen. Dazu kam die Herausforderung der schwindelerregenden Falsettpassagen.

Ensemble copyright Sebastian Hoppe

Die Aufgabe des von Schuldgefühlen gequälten Familienvaters Henrik, der sein Heil im übermäßigen Alkoholverbrauch suchte, während die Familie um ihn herum auseinander fiel, hatte Markus Butter übernommen. Seine aus Frankreich stammende Ehefrau Patricia erschien dagegen völlig von der Realität losgelöst. Ihre brillanten, verträumt klingenden Koloraturen wurden von der prachtvollen finnischen Koloratursopranistin Anu Komsi wie ein Schutz gegen den Schmerz in der Liebe zu ihren Söhnen gesungen und gespielt.

Als „die Lehrerin“ beklagte die amerikanische Mezzo-Sopranistin Fredrika Brillembourg ihr Versagen, aus ihren Beobachtungen und der Sichtung der Aufsätze ihrer Schüler die Warnzeichen deren psychischer Veränderungen nicht erkannt zu haben.

Auch der „Priester“, der finnische Bassist Timo Riihonen, erkannte die Defizite in seiner Arbeit, möchte aber durch ein Verzeihen von Unterlassungen und Fehlhandlungen eine gründliche Aufarbeitung gesellschaftlicher Verhältnisse vermeiden.

Die problematischste Figur in Fiorinis Inszenierung war die von der französischen Schauspielerin Nusch Batut dargestellte Komplizin des Attentäters Iris. Offensichtlich die geistige Urheberin des Massakers stellte sich die Schülerin an die sichere Seite und verhöhnt die Traumata ihrer Mitschüler.

Auch bewegte sich auf der Szene in den Hochzeitsszenen ein Fotograf, der offenbar für den nicht eingeladenen Bruder des Bräutigams, dem mit neuer Identität ausgestatteten Attentäters, stand.

Weitere dem Massaker entkommende Schüler, so die Sopranistin Jessica Elevant als schwedische Schülerin Lilly, der deutsch-schwedische Schauspieler Simon Jensen als deutscher Schüler Anton, der Sänger-Darsteller Carlo Nevio Wilfart als der Spanier Jerónimo und die finnische Sopranistin Olga Heikkilä als die aus Griechenland stammende Alexia berichteten mit depressiv-gehetztem Sprechgesang in ihren Muttersprachen von der mehr oder weniger erfolgreichen Aufarbeitung ihrer Angst- und Schuldgefühle.

Die Musik der Kaija Saariaho ist mit ihren unruhigen Harmonien ebenso verstörend, wie die Handlung des Werkes. Die Orchesterbegleitung spiegelte das Geschehen auf der Szene einerseits sphärisch-feingliederig und zum anderen brutal, heftig und erschütternd. Der gelegentlich opulenten sowie auch etwas spritzigen Partitur jenseits ihrer Kernkompetenz hatten sich die Musiker der Staatskapelle engagiert und professionell angenommen. Eine große Perkussionsbesetzung, Klavier, Celesta, Harfe und weitere Techniken im Orchester sorgten für eine breite Farbpalette und drängten die schmale Streichergruppe oft in den Hintergrund. Der musikalische Leiter des Helsingborg Symphony Orchestra Maxime Pascal verband bei seinem Staatskapellen-Debüt das Bühnengeschehen mit einer beklemmend wirkenden Intensität mit der Orchester-Musik. Maxime Pascals Dirigat war vor allem kraftvoll-prägnant und orientierte sich immer an der eindringlichen Handschrift der Komponistin.

Der von Jonathan Becker exzellent einstudierte Chor, obwohl unsichtbar, stellte mit magischem Summen und Vokalisen Verbindungen zwischen dem Orchester sowie der Szene her und fügte dem Orchesterklang zusätzliche Farben hinzu. Wie in einer griechischen Tragödie kommentierte der Chor das Geschehen, untermalte, besänftigte wie ein einfühlsamer Klangteppich. Er erzählte einen Teil der Handlung, zitierte die Namen der Brautleute und der Getöteten, gab einigen der Charaktere eine Stimme. Erst am Ende der Oper verließen die Choristen ihre Plätze und gaben ihre übergeordnete Perspektive auf. Auch wird erst in den letzten Minuten die Musik etwas leichter, wenn das Libretto Hoffnungen auf das weitere Leben der Protagonisten öffnete.

Mit der Oper „Innocence“ sollte kein moralisches Urteil über Gut oder Böse der handelnden Personen gefällt werden. Den Opfern, den Überlebenden und den in den Sog des Ereignisses Hineingeratenen galt die Aufmerksamkeit. Es war ein Psychogramm einer überschaubaren Gruppe entwickelt worden, ohne die Bedeutung der Zunahme der Gewalt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt umfassend zu thematisieren.

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