Dresden, Semperoper, h-Moll-Messe - Johann S. Bach, IOCO Kritik, 14.02.2023
h-Moll-Messe - Johann Sebastian Bach
- Gedenktag 2023 - Philippe Herreweghe gestaltet Bachs Monumentalwerk -
von Thomas Thielemann
Aus heutiger Sicht ist es fast unglaubbar, dass Johann Sebastian Bachs (1685-1750) gewaltige h-Moll-Messe BWV 232 als Collage entstanden war. In seinen letzten Lebensjahren katalogisierte der Thomaskantor zwischen August 1748 und Oktober 1749 sein vokal-instrumentales Schaffen und fügte Rückgriffe bis aus den Jahren seiner Weimarer Zeit 1714 mit wenigen Neukompositionen zusammen.
Bachs Genie ist es zu verdanken, dass wir seine Zusammenstellung von Tondichtungen aus 25 Lebens- und Schaffensjahren als „einen Meilenstein“ der Musikgeschichte betrachten können. Es bleibt unbekannt, ob der protestantische Kantor und Leipziger Musikdirektor einen Auftrag oder eine äußere Anregung für eine katholische Messe erhalten hat.
Gesichert bleibt, dass der in Leipzig mäßig bezahlte Bach sich 1733 mit einer h-Moll-Messe (Missa BWV 232 I) beim katholischen Kurfürsten Friedrich August II. um eine Stellung als Musiker am Dresdner Hof bewarb und nach drei Jahren als „Compositeur“ für den evangelisch verbliebenen Teil des Hofes ernannt worden ist. Dabei verhielt sich der Bürgerkantor eher ironisch dem Dresdner Hofmusikleben gegenüber: „Da wollen wir mal die Dresdner Liedchen hören“ soll er seinem Sohn zugeraunt haben, als beide am 13. September 1731 die Premiere von Johann Adolph Hasses Cleofide im „Großen Opernhaus am Zwinger“ besuchten.
Bach bedankte sich 1736 beim Kurfürsten mit einer Abschrift seiner „Missa Brevis“, die ihrerseits möglicherweise eine Auftragsarbeit für die Wiener „Musikalische Congregation“, einer Bruderschaft von Musikern und adeligen Kunstmäzenen, war. Andere Musikwissenschaftler verorten Bachs Verbindungen nach Wien auf später und bringen sie mit seinem musikalischen Resümee, der Missa h-Moll BWV 232, in Verbindung. Der Bach-Forschung bleiben noch viele offene Fragen.
Die Noten für fünfstimmigen Chor „Kyrie und Gloria h-Moll“ aus dem Jahre 1733 dürfte Bach als Kernstück seiner Anthologie „Missa h-Moll“ genutzt haben. Rückgriffe auf ein bereits 1724 entstandenes lateinisches Sanctus und deutsche Kantatensätze deren Komposition bis 1714 zurückreichen, wurden modernisiert und mit eigenständigen Kompositionen ergänzt. Aus der Weimarer Chor-Passacaglia „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ wird das „Crucifixus“ im Zentrum des Credos, dem Bach die Überschrift „Symbolum Nicenum- Glaubensbekenntnis von Nicäa“ gab. Die 1743 für den Dresdner Hof geschriebene Weihnachtsmusik „Gloria in excelsis Deo“ BWV 191 wurde als Gloria übernommen und Parodien auf Sätze älterer Huldigungsmusiken bildeten die Grundlage für die Vertonung des „Osanna, Benedictus“ im Sanctus und für das „Agnus Dei“. Für das abschließende Chorfinale „Dona nobis pacem“ kopierte er die Musik des „Gratias“ aus im bereits bei Gloria Verwendeten. Neu komponiert wurden offenbar nur die Sätze 13 (Credo in unum Deum), 16 (Et incarnatus) und 20 (Confiteor).
Aus der Verschiedenheit der musikalischen Formen, der Besetzung und Instrumentation ist ein Werk mit beeindruckender innerer Einheit des Bachschen Kosmos entstanden.
In konfessioneller Hinsicht war die katholische Messe für den Protestanten ein heikles Wagnis, so dass gelegentlich von einem Akt früher Ökumene vermutet wird. Weil Bach in der h-Moll-Messe so verschieden Stücke aus unterschiedlichen Lebensphasen vereinte, funktioniert sie als Zusammenfassung seines Schaffens in einer Kirche, wie auch im Konzertsaal gleichermaßen bei Katholiken und Protestanten, wirkt bei Agnostikern und Atheisten. Es ist Geistliches und Weltliches vertreten, alles was Bach für Sänger und Musiker geschrieben hat. Aber es findet sich in der gigantischen Schöpfung kein sogenannten „Ohrwurm“.
Der 1947 im Flandrischen Gent geborene Philippe Herreweghe hatte uns mit dem Collegium Voccale Gent am 13. Februar 2018 mit Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion bereits tief beeindruckt. Nachdem das „Konzert zum Gedenken der Zerstörung Dresdens“ am 13. Februar 2021 von Herreweghe mit Bachkantaten nur als Rundfunkkonzert gestaltet werden konnte, waren wir erfreut, den Barockspezialisten mit seinem lebendigen und authentischen Interpretationsansatz im diesjährigen Konzert wieder erleben zu dürfen.
Das auf seine Initiative im Jahre 1970 gegründete „Collegium Voccale Gent“ begleitete ihn mit seiner schlanken Chorbesetzung auf seinem Weg zum überragenden Bach-Interpreten mit immenser Vielfalt der musikalischen Formen und Stile. Mit seinem textorientierten, rhetorischen Ansatz setzte Herreweghe Bachs Bündelung des Reichtums seiner kompositorischen Möglichkeiten mit dramatischer Spannung um.
Der Dirigent setzte, unterstützt von der mit mittlerer Orchesterbesetzung aufwartenden Sächsischen Staatskapelle auf fein differenzierte leise ausdrucksvolle Töne.
Bereits beim einleitenden Kyrie bestach der Chor in seiner verhaltenen Bitte um Erbarmen, die von der Sopranistin Dorothee Mields und der Mezzosopranistin Sophie Harmsen aufgenommen, weiter geführt wurde. Flehentlich begann auch das Gloria. Ein kraftvoll strahlendes „in excelsis Deo“, das dem Wechsel von Chorpassagen folgte, wurde von den Solisten in einem imposanten Spannungsbogen zu dem unter die Haut gehendem Schluss des „Gloria“ gebracht.
Auch im „Credo“ fand der Chor mit „Et incarnatus est“ angesichts der geheimnisvollen Menschwerdung Gottes und dem Glaubensbekenntnis den angemessen ehrfürchtigen Ton. Wo es hingehörte, erschallten aber die Stimmen kraftvoll und prächtig, jubelten imposant Pauke sowie Trompeten, wenn sie am Ende des Credo mit „Et expecto resurrectionem“ die dramatische Auferstehung Christi mit Triumph bejubeln, dabei Erwartungen auf die kommende Welt wecken. Im Chor imponierten seine feine dynamische Koordinierung der Stimmen und die präzise rhythmische Gestaltung im Spannungsfeld zwischen Ernst und Freude.
Geradezu erhaben, entrückt und überirdisch entwickelte Philippe Herreweghe die Schlussphase seiner Interpretation mit einer faszinierenden gerade in unserer gegenwärtigen Situation so wichtigen Bitte um Frieden.
Ein Glanzpunkt des Konzertes war die Besetzung der Solisten: Mit der Sopranistin Dorothee Mields und der Mezzosopranistin Sophie Harmsen waren starke Sängerinnen mit wundervollen Stimmen beteiligt. Sie sangen ausdrucksstark ihre Arien und gestalteten besonders eindrucksvoll ihr lyrisches Duett im „Christi eleison“.
Der britische Altus Alex Potter, der in der Zwiesprache mit der anrührenden Oboen-Melodie im Gloria seinen Text „Qui sedes“ dramatisch und brillant ausdeutete, konnte auch im „Agnus Dei“ der menschlichen Schuld eindrucksvoll Ausdruck verleihen. Imposant auch das Duett mit der Sopranistin Dorothee Mields im „Credo“.
Einen erfreulich jungen wandlungsfähigen Tenor offerierte uns der Belgier Reinoud van Mechelen, der mit seinen Arien nicht verleugnen konnte, dass er sich auch als Countertenor versucht. Besonders das Duett mit Dorothee Mields im Gloria wird in Erinnerung bleiben. Der kroatische Bass-Bariton Krešimir Stražanac sang seine Arien energisch und hervorragend artikulierend.
Die Musiker der Sächsischen Staatskapelle unterstützten den Chor und die Solisten mit festlichem Streicherklang, zupackendem Bläsereinsatz sowie Continuo-Parts, sicherten dank ihrer geschmeidigen Eleganz und filigranen Transparenz des Klanges den Gesamteindruck des Konzertes.
Traditionell gab es statt des Schluss-Beifalls eine Gedenkminute, so dass wir emotionsbelastet das Haus verlassen mussten.