Dresden, Semperoper, Daniele Gatti - designierter Chefdirigent - Gustav Mahler, IOCO Kritik, 14.07.2022
Daniele Gatti - nun designierter Chefdirigent - stellt sich vor
- 9. Symphonie von Gustav Mahler - Letztes Konzert der Spielzeit 2021/22 -
von Thomas Thielemann
Als Gastdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden hatte Daniele Gatti ein sensibles Gespür für den besonderen Klang des Orchesters erkennen lassen und Verständnis bei seinen Dirigaten für die Musiker gezeigt. Mit der Matinee am 10. Juli 2022 konnte der Nachfolger von Christan Thielemann, IOCO berichtete, sich als „Designierter Chefdirigent“ mit Gustav Mahlers (1860-1911) neunter Symphonie den Dresdner Musikfreunden vorstellen.
Nach dem Tod der vierjährigen Tochter Maria Anna und einem Zusammenbruch Almas suchte das Ehepaar Mahler am 14. Juli 1907 den Arzt Carl Viktor Blumenthal (1868-1947) auf. Aus einer Laune heraus ließ sich im Anschluss der Behandlung Alma Mahlers (1879-1964) auch Gustav Mahler untersuchen, bei der der Mediziner eine Herzklappenerkrankung feststellte. Der Wiener Spezialist Dr. Friedrich Kovac (1861-1931) bestätigte Tage später eine rheumatische Verengung von Herzklappen, eine Mitralstenose und verbot Gustav Mahler das Schwimmen, Radfahren und Bergwanderungen.
Möglicherweise war die Erkrankung eine vom der Mutter Maria Mahler (1837-1889) ererbte Anlage, die zeitlebens „herzleidend“ gewesen und an Herzversagen verstorben war. Das Verhältnis Mahlers zu seiner Mutter sei sehr komplex gewesen und seine Erinnerungen seien für Gustav gleichzeitig mit Leben und Tod verbunden gewesen.
Gustav Mahler begann nach der Diagnose in sich hineinzuhorchen und hielt die ärztlichen Empfehlungen sklavisch ein. Er benutzte einen Schrittzähler und fühlte ständig seinen Puls. Erst als Dr. Franz Hamperl (1866-1920) die Diagnosen, die Bedeutung der Herzrhythmusstörungen sowie die Maßregelungen seiner Kollegen relativierte und empfahl, das Angebot der „Metropolitan Opera“ vom Mai 1907 anzunehmen, „normalisierte“ sich sein Lebensstil. Geblieben waren aber seine Todesahnungen.
Nach seinem Abschiedskonzert an der Hofoper am 15. Oktober 1907 verließ die Familie im Dezember Wien in Richtung New York.
Die Verhältnisse an der Metropolitan Opera von New York waren für Mahler unbefriedigend, obwohl er mit Stars wie Enrico Caruso (1873-1921) und, allerdings seltener, mit Fjodor Schaljapin (1873-1938) arbeiten konnte, so dass er nach zwei Spielzeiten den Vertrag kündigte. Vor allem Sponsorinnen beschafften die finanziellen Mittel, dass die angeschlagen dahin dümpelnden New York Philharmonics verjüngt und materiell ausgestattet auf Mahlers Ansprüche ausgerichtet werden konnten. Mit dem Orchester bestritt er 1909 und 1910 reine Konzertjahre.
Am gesellschaftlichen Leben der Stadt nahm er, anders als in Wien, häufiger Teil, vor allem um sein Verhältnis zu seiner Frau Alma zu verbessern. Die Sommer verlebte die Familie im Tiroler Toblach.
Die ersten Skizzen der 9. Symphonie waren bereits im Jahre 1908 geschrieben worden. Im „sakral-jenseitsverlockendem“ Komponier-Häusl von Toblach verfällt Mahler im Sommer 1909 in einen Schaffensrausch, komplettierte den Entwurf und fertigte noch im gleichen Jahr eine Reinschrift der Partitur.
Entstanden war ein emotionales Lebewohl, das die Milde des Todes, das Versprechen einer Versöhnung, aber auch das Aufbäumen gegen die Unaufhaltsamkeit des Endlichen umfasst. Mit dem Aufbau der Symphonie waren die Formtraditionen der Gattung auf den Kopf gestellt, indem die langsamen Passagen die Ecksätze bilden: der Kopfsatz eröffnet mit einem Seufzer-Motiv und das Finale endet in einem langsamen Ersterben. Diese musikalische Form der Komposition gibt damit das Gerüst für eine Auseinandersetzung mit der Lebenszeit: Geburt, Kindheit, Jugend, Reife, Alter und Tod.
Mahlers Musik wurde zum Abgesang auf das Zeitalter der Romantik und steht am Beginn der Moderne, sie verkörpert Abschied und Aufbruch gleichermaßen. In wie weit Todesängste Mahler getrieben haben, mit seiner Abschiedsmusik die Tür zu neuen Welten aufzustoßen, kann nur Spekulation bleiben.
Der Umstand, dass zu dieser Zeit bereits Skizzen zu seiner 10. Symphonie entstanden sind, könnte nur bedeuten, dass Mahler auch in der Hoffnung lebte, den „Fluch der neunten Symphonie“ überwunden zu haben.
Mit seinem Dirigat des Kopfsatzes führte Daniele Gatti seine Hörer unter einem großen Bogen und stockenden Passagen fast mühevoll zu Mahlers intensiver Musik. Erst intensive Dialoge von Cello und Harfe sowie Horn und Violine führten Gatti zum Hauptmotiv der gewaltigen kontrastreichen Ausbrüche, bevor er das Orchester den intensiv fordernden Satz mit innigen Ausdrucksmomenten seltsam entrückt leise verklingen ließ.
Mit Ironie, Sarkasmus und hemmungsloser Virtuosität, so gar nicht im gemächlichen Ländler-Tempo, dirigierte Gatti das Scherzo. Fast desolat und desillusioniert ließ er die ihm freudig folgenden Musiker der Sächsischen Staatskapelle die verzerrten Disharmonien spielen, bevor der Spuk ausklang.
Im Rondo-burlesk bewegte sich das Gatti-Dirigat eine knappe Viertelstunde in einer fast missgünstigen Eleganz mit schadenfrohem Spaß am Banalen. Gleichsam betonte er die choralartige Rückkehr zum Hauptthema des ersten Satzes und die Vorgriffe Mahlers auf das zentrale Thema des Finalsatzes, gestaltet den Satz zum retardierenden Moment seiner Interpretation.
Damit kam Daniele Gatti im Finalsatz ohne emotionale Erschütterungen und Sentimentalitäten aus. Das Wesentliche war dargeboten, so dass mit Ruhe, sowie Gelassenheit Abschied genommen werden konnte. Mit dem Zitat aus den „Kindertotenliedern Nr. 4 Takt 64 bis 69“ bewies das Orchester im abschließend verklingendem Adagissimo mit einem extremen Pianissimo noch einmal seine absoluten Qualitäten.
Das erschöpfte Publikum applaudierte mit kraftvollen stehenden Ovationen Daniele Gatti und einem außergewöhnlich lange auf dem Podium ausharrendem Orchester für diese im Semperbau wohl noch nicht gehörte Form einer Mahler-Interpretation.
Leider waren die im Corona-Vorverkauf entstandenen Lücken in den Besucherreihen nicht vollständig gefüllt worden, so dass Plätze ungenutzt geblieben waren.
---| IOCO Kritik Sächsische Staatskapelle Dresden |---