Dresden, Semperoper, 9. Symphoniekonzert - Staatskapelle, IOCO
Sächsische Staatskapelle in der Semperoper: Mit Susanna Mälkki stellte sich im 9. Symphoniekonzert eine weitere Star-Dirigentin zu ihrem Orchesterdebüt bei der Sächsischen Staatskapelle vor. Mit der Uraufführung des „I don´t know how to crry“ von Georg Friedrich Haas ....
14. April 2024 - Georg Friedrich Haas und Franz Schubert - 9. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle - Susanna Mälkki
von Thomas Thielemann
Mit der 1969 in Finnland geborenen Susanna Mälkki stellte sich im 9. Symphoniekonzert eine weitere Star-Dirigentin zu ihrem Orchesterdebüt bei der Sächsischen Staatskapelle vor. Mit der Uraufführung des „I don´t know how to crry“ für Orchester des Oesterreichischen Zeitgenossen Georg Friedrich Haas war ihr bereits eine anspruchsvolle Aufgabe übertragen worden.
Über den „Capell-Compositeur“ der laufenden Saison Haas, seiner Entwicklung aus einer national-faschistischen Herkunft zum selbstständig denkenden und politisch aktiven Menschen sowie über seine Entwicklung als Komponisten hatte ich bereits im Bericht zu seinem Sonderkonzert im europäischen Kulturzentrum Hellerau geschrieben. Ungebrochen engagiert sich Haas als politisch aktiver Mensch im Kampf gegen neue faschistische Bewegungen, gegen eine Entsolidarisierung der Gesellschaften sowie religiöse Fundalismen und verbindet das mit seiner Kompositionsarbeit. Deshalb war es keine Überraschung, dass Georg Friedrich Haas in Anbetracht seiner Verzweiflung über Entwicklungstendenzen in der Welt sein am heutigen Vormittag erstmals aufgeführtes Orchesterwerk „Ich weiß nicht, wie man weint“ benannte. Mit den Kompositionen im Rahmen der Kammerabende, aber besonders mit dem „in vain“ des Hellerauer Sonderkonzertes hatten wir bereits einen Einblick in seine kompositorischen Intensionen und in seine Gedankengänge erhalten. Erwartungsgemäß offerierte uns Haas an diesem Vormittag neue Denkanregungen.
Der aus dem anhaltinischen Halle stammende Richard Heinrich Stein (1882-1942) veröffentlichte im Jahre 1909 eine spätromantische Harmonielehre, in der er mit Viertelton-Verschiebungen experimentierte. Mit seiner Komposition „I don´t know to cry“ für Orchester hatte Georg Friedrich Haas diese Anregung nicht nur aufgenommen, sondern eigentlich auf die Spitze getrieben. Haas kombinierte Ballungen unterschiedlicher Tonhöhen, indem er gleichzeitig unterschiedliche Musiker die Töne mit jeweils leichten Frequenzverschiebungen spielen ließ und die so entstandenen Cluster im Orchesterklang gegeneinander setzte. Damit verloren die Töne ihre Einzelwirkung, ihre Bedeutung als Individuum, und erzeugen beim Hörer besondere Klangeindrücke. Interessant war, dass sich die Wirkungen der Cluster-Klänge mit den Tonhöhenbereichen verschieben: die tief eingestimmten Klanggruppen klingen anders als höher angesiedelten. Das deshalb, weil unser Hörvermögen frequenzabhängig differenziert. Haas ließ deshalb in der Höhe Streicher bis zu einem Sechstel-Tonabstand spielen, blieb aber bei den Kontrabässen bei Vierteltonabständen. In diese Struktur waren traditionelle tonale Akkorde eingeflochten, bei denen Haas zusätzlich seine reichen mikrotonalen Erfahrungen einfließen ließ.
Natürlich lassen sich beim zweimaligen Hören der Komposition die Besonderheiten der Klangeindrücke noch nicht im vollen Umfang erfassen, zumal Haas mit seiner Arbeit ein Kaleidoskop unseres gesellschaftlichen Seins in eine knappe halbe Stunde gepresst hatte. Trotzdem war erkennbar, wie die ungewohnten Klangkonstruktionen die Wahrnehmung der Darbietung einer vom Orchester intonierten aufkommenden und wieder abschwellenden bedrohlichen Situation erkennbar veränderten. Selbst die Reflexionen des Komponisten auf seine Kindheitserinnerungen, seine Betrachtungen der Alpenlandschaft erzeugten einen erweiterten Eindruck. Auch das Wabern einer doch etwas desinteressierten Gesellschaft mit ihren zum Teil aktiven Gliedern ließ sich außergewöhnlich anhören. Die zweifelfrei stärksten Verschiebungen gegen eingefahrenes Aufnehmen von Klängen waren in den leisen, intimen Passagen des Stückes erkennbar. Als besonders faszinierend wirkten die Übergänge innerhalb des Werkes. Obwohl der letzte Teil des Orchesterwerkes durchaus depressive Passagen aufwies, konnte ich die extrem pessimistische Betitelung der Komposition nicht unbedingt nachvollziehen, denn letztlich müssen wir das Leben so sehen, wie es ist und nicht so, wie es sein sollte. Zumal der Mensch Georg Friedrich Haas in der persönlichen Begegnung einen durchaus lockeren und optimistischen Eindruck vermittelte.
Für die beteiligten Musiker der Staatskapelle und eventuell auch für die hochengagierte Dirigentin war die Darbietung eine echte Herausforderung, der sie sich aber mit Begeisterung stellten.
Franz Schubert (1797-1828) war bereits vor zehn Jahren verstorben, als Robert Schumann (1810-1856) am Neujahrstag 1839 während eines Aufenthalts in Wien das Sterbehaus Schuberts „Neue Wieden Nr. 694“, (heute Kettenbrückengasse 6) besuchte. Der Bruder des Komponisten Ferdinand zeigte Schumann eine Reihe von Entwürfen größerer Instrumentalwerken. Mit seinem geschulten Blick griff Schumann aus der Fülle den Entwurf einer C-Dur-Symphonie heraus ,den Schubert, zumindest so die Wasserzeichen- und Papieranalysen, auf einer Reise im Frühjahr bis zum Sommer des Jahres 1825 entworfen und für eine Aufführung des Konservatoriums-Orchesters der Gesellschaft der Musikfreunde kopieren ließ. Das Werk wurde aber als zu lang und zu schwierig von den überwiegend Laien-Musikern des Orchesters zurück gewiesen. Ob die Symphonie in einem „Concert spirituell“ dann doch 1829 gespielt wurde, ist nicht verbürgt. Jedenfalls nahm Robert Schumann eine Abschrift der Komposition mit nach Leipzig und gab diese an den damaligen Gewandhaus-Kapellmeister Felix Mendelssohn Bartholdy, der die „Große C-Dur Symphonie D 944" am 21. März 1839 zur Aufführung brachte.
Susanna Mälkki nahm Franz Schuberts Komposition als große Erzählung. Denn anders als Beethoven im Jahre 1824, der mit seiner neunten Symphonie gesellschaftliche, philosophische und weltumfassende Ansprüche stellte und mit seiner Musik weiträumige musikalische Gestaltung schaffte, wollte Schubert nicht appellieren. Er wollte seine Mitmenschen auf die Kraft und die Geheimnisse der Natur sowie deren Bindung an die menschliche Existenz aufmerksam machen.
Wunderbar langsam, fast beiläufig ließ die Dirigentin das einleitende etwas unregelmäßige Hornthema langsam vortragen, entfaltete das Thema des Kopfsatzes und entwickelte daraus die Grundlage der lyrischen Kraft ihrer Interpretation. Sorgfältig schichtete Susanna Mälkki die rhythmischen Elemente übereinander. Ihr Dirigat war vom Beginn an effektiv, direkt und geprägt von gestrafften Tempi, die jedoch bisweilen zurückgenommen wurden, um auch die leiseren Momente wirken zu lassen.
Zur großen Erzählung gestaltete Frau Mälkki den langsamen Satz das „Andante con moto“. Die Themen wurden regelrecht zu großen Bögen aufgebaut. Die Überleitung, gebildet aus tiefen Streichern, Horn und Fagott, zu dem einen Takt darauf Oboe und Flöte fast unmerklich hinzustießen, schien einen Moment das Geschehen der Welt anzuhalten, bis die Katastrophe der Durchführung allen Wohlklang zerstörte. Diese magischen Takte im Pianissimo versprühten mit ihrer Klarheit das Gespür der Finnin für große Wirkungen.
Mit dem „Allegro vivace“-Scherzo ermöglichte die Dirigentin ihren Musikern und dem Publikum kaum Gelegenheit zum Durchatmen. Romantische Celli und Holzbläser bauten mit einem kraftvollen Tanz einen überwältigenden Drang zu Hoffnung und Überwindung aller Schwernisse auf. Es blieb aber auch Platz, die Schönheiten der Partitur zur Wirkung zu bringen.
Die gewaltigen Dimensionen des Finalsatzes entfalteten Dirigentin und Orchester auf das Euphorischste. Mit dem Beginn der Wiederholung folgte Mälkki den rätselhaften Intensionen Schuberts: ohne die Tonart wiedergefunden zu haben, ließ die Dirigentin das Thema eruptiv in den Satz platzen und die großen dramatischen Bögen mit höchster Intensität im Orchester-Tutti entladen.
Susanna Mälkkis effektvolles Dirigat war überwältigend und ließ die wahre Größe der Komposition hervortreten. Spürbar stimmte die Chemie zwischen dem Gast und den Musikern. Dank ihrer hervorragenden Tempowahl, ihrer Art, die Akzente und Artikulationen zu setzen, verging die Zeit von Schuberts C-Dur-Symphonie wie im Fluge.
Der Beiname „die Große“ wurde an diesem Vormittag von der Sächsischen Staatskapelle auf das Beste gerechtfertigt. Es war schlichtweg „großartig“.