Dresden, Semperoper, 5. SINFONIEKONZERT STAATSKAPELLE DRESDEN, IOCO
12. Januar 2025
Petr Popelka und Antoine Tamestit zu Gast bei der Staatskapelle Dresden
Mit Werken von Alfred Schnittke, Pjotr Tschaikowski und Igor Strawinsky in der Matinee des 5. Symphoniekonzertes
Der Prager Musiker Petr Popelka war für uns über fast zehn Jahre eine feste Größe als zweiter Solo-Kontrabassist der Sächsischen Staatskapelle, als er im Dezember 2019 mit der Musikalischen Leitung der Premiere von Peter Eötvös „Der goldene Drache“ im Studio „Semper Zwei“ die wenig informierten der Dresdner Konzertfreunde überraschte. Dabei hatte er seit 2016 systematisch begonnen, eine Dirigenten-Karriere mit zahlreichen Gastdirigaten parallel zum Orchestermusiker-Engagement aufzubauen. Mit dem Saisonbeginn 2024 holte ihn Jan Nast als Chefdirigenten zu den „Wiener Symphonikern“. Seine erste Arbeit im Semperbau war im Jahre 2022 die Musikalische Leitung von Schostakowitschs Oper „Die Nase“. Mit dem 5. Saisonkonzert der aktuellen Spielzeit übernahm Petr Popelka sein erstes Gastdirigat für ein anspruchsvolles Programm mit seinen früheren Kollegen.
Zu den außergewöhnlichsten und einprägsamsten Konzerten der kleinen Auflistungen der Kompositionen für Bratscher gehört Alfred Schnittkes (1934-1998) „Erstes Violakonzert“ aus dem Jahre 1985.
In der Hauptstadt der ehemals Autonomen „Wolgadeutschen Sowjetrepublik“ Engels geboren, lernte der zwölfjährige Alfred Schnittke (1934-1998) bei einem zweijährigen Arbeitsaufenthaltes seiner Eltern in Wien, dass es außer Barock, Klassik und Romantik noch vielfältigere Formen in der klassischen Musik gibt. Auch nach seiner Ausbildung in Moskau blieb sein Leben und Wirken als Komponist zeitlebens von der Erkundung des Neuen zwischen der deutschen und russischen Kultur bestimmt. Nach Experimenten mit unterschiedlichen Kompositionstechniken entschied er sich auf der Suche nach einer dem 20. Jahrhundert entsprechenden Form der Symphonik in den 1970-er Jahren für die polystilistische Kompositionsweise. Für ihn bedeutete das keineswegs ein willkürliches Durcheinanderwerfen unterschiedlicher Stilelemente, sondern die Betrachtung in wechselnden Perspektiven.
Das „Konzert für Viola und Orchester“ war für Alfred Schnittke eine Seelenwanderung durch Abgründe und Höhen menschlicher Gefühle, denn er war bereits schwer herzkrank und komponierte an der Grenze seines Versterbens. Zehn Tage nach der Vollendung des Viola-Konzertes erlitt er seinen ersten Schlaganfall und musste reanimiert werden. Wie in einer Vorahnung des Kommenden war mit dem Allegro molto eine Musik des hastig durchs Leben jagen und mit dem Largo des Schluss-Satzes eine langsame, traurige Lebensüberschau entstanden. Das Werk ist tieftraurig, voller Melancholie und hat eine Verlorenheit, wie man nur selten in einem Konzert findet.
Mit Antoine Tamestit ist ein seit 2022 in Dresden bekannter und erfolgreicher Solist gewonnen worden, der sich des Konzertes mit außergewöhnlicher Sorgfalt angenommen hatte. Seine hervorragende Phrasierung und die emotionale Eindringlichkeit seiner Interpretation waren außergewöhnlich. Der Bratschist konnte den Ton seiner Stradivari „Mahler“ aus dem Jahre 1672 in die extremste Emotionalität ebenso führen, wie auch Eiseskälte verbreiten. Tamestit vermag rasend oder maschinell die Viola in eine Welt der Brüche der Motive Alfred Schnittkes verfangen zu lassen.
Wie aus dem Nichts bahnte der Solist den Motivfetzen der Bratschen-Melodie ihren Weg. Tamestit reichte die unterschiedlichen Stilenergien virtuos packend an das Orchester weiter, das unter Popelka seine klanglichen Qualitäten in den Dienst der abrupten Kontraste stellte und das collagenhafte des Werkes sicherte. Von tiefen Streichern grundiert, begleitete das Orchester mit stimmgewaltigen Holz- und Blechbläsern, sowie virtuosem Schlagwerk in massive dunkle Klangbereiche. Der Solist blieb immer klar und selbstbewusst, riskierte nicht, sich zu verselbstständigen und ließ vor allem dem Orchester freien Raum.
Beim ausdrucksstarken Tamestit war Schnittkes nicht selten resignative oder zynische Zitiertechnik bestens aufgehoben. In ihr lebte gleichsam die Romantik neben dem modernen Drama. Mussorgskis schroffe Opulenz war ebenso zu hören wie Bachs kontrapunktische Klarheit. Zitate aus Schnittkes Filmmusiken, Militärmusik, Tanzmusik, aber auch Beethovens frühe C-Dur-Klaviersonate klangen kurz auf. Mit düsterem Schweben im Dreivierteltakt oder mit Strawinskys Sacre wurde an die frühe Wiener Zeit erinnert.
Die im Allegro molto von Tamestit und die von Petr Popelka geradezu entfesselten Musiker der Staatskapelle deuteten atemberaubend die Seelenwanderung eines Helden an. Seinen rastlosen Lebensweg über Abgründe bis zu resignierendem Rückblick am Ende, das zwei fast endlose Bratschentöne über Celesta- und Cembaloklängen ermattet ausklingen ließ und das Stück seinen Geist aufgab.
Seine leichte Erschöpfung nach dem fast durchgängigen Spiel war Tamestit anzusehen, als er den verdienten Applaus entgegen nahm und uns, aber wahrscheinlich auch sich selbst, mit dem Capriccio op. 55 von Henri Vieuxtemps (1820-1881) wieder mit der Welt versöhnte.
Im zweiten Konzertteil folgte Pjotr Tschaikowskis (1840-1893) Symphonische Fantasienach Dante op. 32 „Francesca da Rimini“.
Wie ein Bericht über ein Familiendrama in unseren modernen Printmedien liest sich das Drama um die Francesca da Rimini im fünften Gesang des Infernos der „Göttlichen Komödie“ des Dante Alighieris (1265-1321). Aber immerhin soll sich die Geschichte so ereignet haben: um einen Friedensschluss zwischen zwei Adelshäusern Ravennas zu sichern, wurde 1575 die Tochter Francesca des Hauses Polenta mit dem verkrüppelten, aber mit Verdiensten um den Krieg ausgestatteten Sohn Giovanni derer von Malchesta da Veruchios, verheiratet. Über zehn Jahre pflegte die junge Frau ein Verhältnis mit dem jüngeren Bruder namens Paolo ihres Ehemanns, bis die Sache ruchbar wurde. Irgendwann zwischen den Jahren 1283 und 1286 überraschte der Gehörnte die Ehebrecher im Schlafzimmer und erstach beide. Das Interview mit den Sündern wurde lt. Dante im zweiten Büserbezirk der Hölle, der den lustvoll stürmischen Winden vorbehalten war, von Publius Vergilius Maro (10 v. Chr.-19 n.Chr.), genannt Vergil, geführt. Francesca gab der Liebe die Schuld am Geschehen und verweigerte die Übernahme jeder Verantwortung für die Verfehlungen, während Paolo im Hintergrund weinte.
Tschaikowski las den „fünften Gesang des Infernos“ im Sommer 1876 auf einer Reise von Lyon nach Bayreuth. Überlegungen zur Parallelität seiner emotionalen Zerrissenheit, sowie ergriffen vom dramatisch-psychologisch ergiebigen Kontrast zwischen Qual und Schrecken der Verdammten, wollte er eine Dante-Symphonie schreiben. Auch eine Dante-Oper war von Freunden angeregt worden. Es blieb aber bei der „Fantasie nach Dante >Francesca da Rimini< in e-Moll“ mit ihrer in den ersten und dritten Teilen der Dichtung entfesselten furios-wilden Klangsprache, die einen harmonischen Mittelteil umrahmten.
Mit der auffallend transparenten Interpretation zog Petr Popelka vom Beginn an seine Zuhörer in das Düstere der symphonischen Dichtung. Präzise Klanggestaltung entwickelte mal erzählkräftig, mal nachdenklich bereits zu Beginn einen tief dunklen warmen, runden Streicherton. Die Musiker präsentierten das Werk mit exaktem Zusammenspiel und kompakter Darbietung. Besonders der lyrische Mittelteil wirkte emotional drängend und spannungsgeladen, wenn stellvertretend für Francesca die Solo-Klarinette von Wolfram Große erzählte, welche Umstände zu ihrer Verdammung geführt hatten. Im wilden Schlussteil erklangen die Bläser wie ein einziges Instrument aus der Mitte des Streicherglanzes, als die Liebenden für immer in den Orkus entführt wurden. Ergreifend beendete traurig-schöne Melodik die Erinnerung an Momente des vergangenen Glücks.
Den Schlusspunkt des Konzertes setzte Igor Strawinskys (1882-1971) „L´Oiseau de feu“, der Feuervogel, und zwar die Suite für Orchester in der Fassung von 1919. Ursprünglich war der „Feuervogel“ ein Auftragswerk des russischen Impresarios Sergei Djagilew (1872-1929) aus dem Jahre 1909 für ein Ballett seiner Kompanie über ein Volksmärchen. Dabei war der 29-jährige Strawinsky nur zweite Wahl bei der Auftragsvergabe über die Geschichte vom Zarewitsch Iwan, der mit Hilfe des Feuervogels den bösen Zauberer Kastschej besiegte, gewesen. Aber seine Musik kam an und seit dieser Zeit gehört der Feuervogel zum klassischen Konzertrepertoire. Seine Komposition mit ihren komplexen Rhythmen und irisierenden Klängen war so packend, dass sie in mehreren Suiten auch einem größeren Konzertpublikum zugänglich aufbereitet worden war. Die zweite Fassung aus dem Jahre 1919 mit ihren fünf Sätzen erwies sich als die erfolgreichste.
Die gesamte Brutalität der Komposition im Wechsel mit den flirrenden geheimnisvollen Streicherklängen und folkloristisch angehauchten Melodien hatte Petr Popelka in seine Auslegung der Partitur gekonnt einbezogen. Mit verhalten-dumpfen Streicher-Passagen am Beginn, dem grell-bunten Tanz des Feuervogels, dem Wiegenlied und dem Höllentanz gab er den Musikern der Staatskapelle alle Möglichkeiten, mit ihrem Farbenreichtum und ihrer rhythmischer Präzision zu glänzen. Dazwischen war auch pure, feinschattierte Kammermusik zu erleben, ohne in kulinarischem Wohlklang die Schärfe zu verlieren.
Popelka arbeitete die vielfältigen Details der spätromantisch-impressionistischen Instrumentation heraus und vermied den inhaltsleeren Effekt um seiner selbst willen. Mit bewusst gesetzten, nie überzogenen Akzenten trieb er die Geschichte voran und wurde so zum musikalischen Erzähler. Dramatisch arbeitete der Dirigent mit dem Orchester die Geschichte um den jungen Prinzen auf der Jagd nach dem Feuervogel im Garten des Zauberers heraus, wie er seine Geliebte aus dem Versteck des Zauberers befreite. Mit prachtvoller, perkussiver Wucht inszenierte die Staatskapelle den infernalischen Tanz des bösen Zauberers Kastschej.
Natürlich ließen sich Popelka und das Orchester die Gelegenheit nicht entgehen, eine geheimnisvolle Reise durch die Zauberwelten mit effektvollen Jagden nach dem Hexenmeister zu gestalten. Die lautmalerischen Szenen waren von den Orchestersolisten mit Feingefühl auf ihren Instrumenten virtuos umgesetzt. Besonders filigrane Holzbläserstimmen konnten in den Episoden glänzen.
Das barbarische Schlussbild wusste Petr Popelka hypnotisch pulsierend zu gestalten, obwohl das Finale mit seinem stürmenden Schlagwerkeinsatz sowie seiner Vehemenz kaum zu überbieten war.
Die imposante Klangfülle und die gewaltigen Steigerungen verfehlten ihre grandiose Wirkung nicht.
Der Applaus der Matinee-Besucher war verdientermaßen gewaltig.