Dresden, Semperoper, 5. Saisonkonzert - Sächsische Staatskapelle, IOCO Kritik, 19.12.2022
5. Saisonkonzert - Vom Dreydl zur Scheherazade
Tugan Sokhiev - Yefim Bronfman - Kompositionen von Olga Neuwirth, Wolfgang Amadeus Mozart, Nikolai Rimski-Korsakov
von Thomas Thielemann
Olga Neuwirth, "Capell-Compositrice der Saison 2022/2023", wurde zum 5. Saisonkonzert dem Stammpublikum der Sächsischen Staatskapelle von Tugan Sokhiev, seit den Osterfestspielen 2021 Gastdirigent der Staatskapelle vorgestellt.
Die 1968 in Graz geborene Olga Neuwirth hatte sich zunächst in „Komposition, Malerei und Film“ ausbilden lassen, bevor sie in der Zusammenarbeit mit Elfriede Jelinek mit ersten Erfolgen aufwarten konnte. Zunehmend hat sie durch Einbeziehung elektronischer Klänge, visueller Elemente sowie neuer Raumkonzepte ihre Ausdrucksmittel erweitert und, unbeeindruckt von Stil- bzw. Genregrenzen, ihr künstlerisches Potential erweitert, ohne dabei die gesellschaftliche Komponente aus dem Blick zu verlieren. Deshalb wäre es grundfalsch, ihr Wirken auf Rebellion mit Verspieltheit zu reduzieren. Sie ist ein freier Geist mit Verantwortungsgefühl.
Bei einem elitären Publikum hat Olga Neuwirth 2019 in der Wiener Staatsoper mit einer Opernversion von Virginia Woolfs Roman „Orlando“ einen gewaltigen Erfolg erzielt, indem sie eine Zeitreise durch gesellschaftliche Prozesse und die Musik aller Stilrichtungen gestaltete.
Im Dresdner Vorstellungskonzert wurde bescheidener, aber nicht ohne Sicht auf Umfassenderes, als deutsche Erstaufführung Neuwirths einsätziges Orchesterstück „Dreydl“, geboten.
Der „Dreydl“ ist zwar ein Kreisel-Glücksspiel, mit dem sich jüdische Kinder weltweit am traditionellen Chanukka Süßigkeiten-Gewinne erobern. Der Legende nach, habe aber das Spielzeug im 2. Jahrhundert vor Christus wesentlich zum Überleben der Jüdischen Kultur beigetragen, in dem Soldaten des Antiochos IV. mit dem „Tolon“ genannten Kreisel-Spiel getäuscht worden waren, wenn diese eine verbotene Thora-Schule gefunden hatten.
Für Olga Neuwirth ist das Glücksspiel mit dem unaufhörliche Drehen des Dreydls das Symbol des Lebens: die Räder drehen sich, die Jahre vergehen, ohne Ende und ohne Glück bleibt kein Ziel; sehr frei nach Mark Warschawskyj (1848-1907).
Olga Neuwirth nutzte kontinuierliche rhythmische Muster, um den verhängnisvollen Kreislauf des Schicksals ihren Hörern nahe zu bringen. Über zwölf Minuten beherrschten ihre ungewöhnlichen Reflexionen das Publikum. Sinnlich fluide Formen vom Kommen und Gehen, Werden und Vergehen beherrschten den Konzertsaal. Schillernde, brodelnde sich stets verändernde, nie voraussehbare Klangformen nahmen uns in die Welt der interessanten Olga Neuwirth mit.
Das Publikum zeigte sich der neuen Erfahrung gegenüber offen und spendete freundlichen Beifall.
Mit großer Freude begrüßten die Dresdner Konzertfreunde im zweiten Konzertbeitrag den aus Usbekistan stammenden Pianisten Yefim Bronfman. Gern erinnern wir uns an sein „Capell-Virtuosen-Engagement“ der Saison 2015/2016, als er mit dem Chefdirigenten neben Tourneen, Festspielauftritten im Stammhaus alle Beethovenklavierkonzerte sowie das Tripelkonzert mit Lynn Harrell und Anne-Sophie Mutter geboten hatte. Besonders in Erinnerung ist uns sein Klavierrezital vom 23. März 2016, als uns „der massive Mensch mit den schweren Händen“ Werke von Robert Schumann und Sergej Prokofjew mit dezentem, leichtfüßigem Anschlag, zart melancholisch ohne große Gesten nahebrachte.
Die als 22. Klavierkonzert KV 482 in Es-Dur bezeichnete Komposition schrieb Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) im Dezember 1785 fast gleichzeitig mit dem A-Dur-Konzert KV 488 und dem c-Moll-Konzert KV 491 für die eigene Konzerttätigkeit. Dass anstelle der Oboen erstmalig die Klarinetten, und gleich mit solistischen Bläserdialogen, im Orchester eingesetzt waren, dürfte auf Mozarts Freundschaft mit dem Klarinettisten Anton Stadler (1753-1812) zurückzuführen sein. Gemeinsam haben auch beide wahrscheinlich am 23. Dezember 1785 in Wien das Es-Dur-Konzert zum ersten Mal aufgeführt.
Der Umstand, dass Yefim Bronfman ob seiner Beherrschung der Partitur Mozarts Komposition „im Schlaf“ spielen könnte, ermöglichte ihm große Freiheiten dem Werk gegenüber. So konnte er Binnenstimmungen neu ausleuchten, Akzente eleganter in den Ablauf einbauen und subtile Querverbindungen aufdecken.
So erlebte man gespannt eine farbenreiche Mozart-Gestaltung, die uneitel allzu Bekanntes neu entdecken ließ. Im Kopfsatz setzte er sein Klavierspiel sauber von den Bläsern ab, ohne das deshalb die Struktur des Satzes gefährdet war.
Beeindruckend war, wie Bronfman die melancholische, trostvolle Stimmung des Andantes entfaltete und der Dramatik der tiefen Streicher eine elegische Klavierstimmung entgegen setzte. In den als „heiter, beschwingt“ deklariertem Finalsatz übernahm Bronfman melancholische Elemente des vorangegangenen.
Im Zusammenspiel signalisierten Dirigent und Orchester dem Solisten wortloses Verständnis für seine Pointierungen. Die besondere Liebe Sokhievs galt den Holzbläsern ohne dabei die Streicher zu vernachlässigen. Tugan Sokhiev stand mit der Staatskapelle ein professionell-einfühlsames Ensemble zur Verfügung, dass mit Yefim Brofman auf Augenhöhe agieren konnte, schien doch die intensive Zusammenarbeit von vor sechs Jahren noch in Erinnerung.
Für die intensiven Ovationen bedankte sich Yefim Bronfman mit einer Chopin-Zugabe.
Wie viele seiner russischen Komponisten-Zeitgenossen war Nikolai Rimski-Korsakov (1844-1908) kein „in der Wolle gefärbter“ Musiker. Der Familientradition folgend begann er im Alter von zwölf Jahren in einer Kadettenschule eine Ausbildung zum Seeoffizier. Der Zar wünschte allseitig gebildete Offiziere, so dass der Kadett auch Klavierunterricht absolvierte und dabei Freude an der Beschäftigung mit der Musik entwickelte. Durch einen neuen Klavierlehrer gelangte er in den Kreis der Musiker um den charismatischen Pianisten-Komponisten Milij Balakirew (1837-1910), der um 1860 wissbegierige Autodidakten, darunter César Cui, Alexander Borodin sowie Modest Mussorgski, um sich scharte, dabei Unterricht vermittelte, mit Rat und Tat half.
Nach einer dreijährigen Teilnahme des jungen Offiziers an einer Weltumsegelung ließ ihm eine folgende Tätigkeit im Marineministerium viel Zeit für seine musikalische Vervollkommnung, so dass er sich in kurzer Zeit zum vielseitigsten, gereiftesten Musiker des „Mächtigen Häufleins“ entwickeln konnte.
Im Jahre 1871 wurde er zum Professor für Kompositionslehre und Orchestrierung an das Petersburger Konservatorium berufen, blieb aber Seeoffizier, so dass er in Uniform unterrichtete. Erst 1873 verließ er die Marine und wurde als ziviler Inspektor der Marineorchester tätig.
Um 1888, als Rimski-Korsakov dank eines Gastspiels der Opern-Truppe von Angelo Neumann (1838-1910) mit der Musik Richard Wagners näher vertraut geworden war und sich andererseits auch Pjotr Tschaikowski angenähert hatte, erreichte er mit der Komposition der symphonischen Dichtung Scheherazade einen Höhepunkt seines künstlerischen Reifeprozesses. Ob es die Fabel vom Sieg der Menschlichkeit über die Gewalt war, die den liberalen Musiker anregte oder der Erfolg der orientalischen Motive in Balakirovs „Tamara“ zum Auslöser der Sujet-Wahl wurde, bleibt ungesichert.
Entstanden war ein klangsinnliches Meisterwerk der Symphonik mit einer ungewöhnlich farbenfrohen Instrumentation, eine in Töne gegossene Erzählung. Am Anfang entwickelt sich die Komposition in einem fast natürlich anmutenden Fluss. Markige bunte Themen wechseln kontrastreich ohne extravagante Experimente aber mit viel Leidenschaft in der Darstellung- es gibt wenige Werke, die auf diesem Niveau mithalten können.
Der Ruf eines Meisterwerks kommt nicht von ungefähr, auch seine Popularität spricht für sich. Weil Rimski-Korsakov sich und uns beweisen wollte, wie glänzend man für ein großes Orchester schreiben kann, entstand diese raffinierte für einige Instrumentengruppen schweißtreibende Partitur.
Die Schwankungen des Komponisten, ob die vier Sätze der symphonischen Dichtung lediglich mit Tempobezeichnungen ausgestattet werden oder ob eine mit programmatischen Titeln versehene Erzählung in die Konzertsäle gelangen sollte, lassen Spekulationen zu, was er überhaupt erreichen wollte.
Obwohl sich Rimski-Korsakov letztlich gegen das „Geschichtenerzählen“ entschied, übernimmt die Konzertpraxis trotzdem, mit einer gewissen Berechtigung, die Bezeichnungen der vier Erzählungen. Dabei spannt die Rahmenhandlung einen Bogen über alle vier Sätze mit der Verwendung musikalischer Themen, die dem Sultan und Scheherazade zugeordnet werden können.
Tugan Sokhiev betonte deshalb am Beginn das zurückhaltende Solovioline-Motiv der Scheherazade, hervorragend von Matthias Wollong intoniert, mit zornigem Blech des Sultans um die Hörer zumindest einzustimmen. Stehen die beiden Themen am Beginn nebeneinander, so verzahnen sich beide und bestimmen alle vier Sätze.
Sokhiev dirigierte das Stück mit Klarheit und Präzision, behält auch im dramatischsten Treiben die Übersicht, lässt das Orchester bei aller Intensität nie durchgehen. Selbst die lautesten Stellen werden uneingeschränkt kontrolliert ausgeführt. Dabei meistert er die opulentesten Passagen, ohne ins Kitschige zu gleiten.
Die Staatskapelle überzeugte in allen Facetten der Partitur, mit eleganter Zurückhaltung, gehaltvollen Steigerungen, sorgfältig artikulierten Rhythmen und bestach mit exzellenten solistischen Leistungen.
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