Dresden, Semperoper, 11. Symphoniekonzert - Sächsische Staatskapelle, IOCO Kritik, 12.06.2023
11. SYMPHONIEKONZERT - Sächsische Staatskapelle
Auszüge - „Daphnis et Chloé“ von Ravel, „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgski, Orchesterfassung - Maurice Ravel
von Thomas Thielemann
Einer der großen und wichtigsten Musiker der Neuzeit war zweifelsfrei der Impressionist Maurice Ravel (1875-1937). Zugleich war der Sohn eines Schweizer Ingenieurs und eines baskischen Mannequins einer der seltsamsten Charaktere seiner Zeit. Kleinwüchsig mit großem Kopf und einem eigentümlichen Zug zur Kindlichkeit blieb er lebenslang distanziert und gefühlsscheu. Dabei lebte er dandyhaft-elegant und gab sich immer ironisch. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass seine Kompositionen scheinbar leidenschaftslos mit einem Hang zum dämonisch-hintergründigen daher kamen. Auf Bitten des legendären in Paris wirkenden „Ballets russes“ vertonte er im Jahre 1909 den Stoff eines doppelbödigen Romans des spätantiken Dichters Longos von Lesbos zu einer Ballett-Musik. Obwohl über drei Jahre an der Komposition und an der Choreographie nachgebessert wurde, war dem Ballett nur mäßiger Erfolg vergönnt.
Die fließende, improvisatorisch anmutende Rhythmik und die prachtvolle Instrumentation des Werkes gingen regelrecht unter, weil die Tänzer mit der vertrackten Musik nicht klar kamen. Letztlich verursachte die erotische Schlussszene der Choreographie noch einen regelrechten Theaterskandal. Der verärgerte Ravel hatte bereits vor der Uraufführung des Balletts mit der Auskoppelung einer Suite für eine Rehabilitation seiner Arbeit gesorgt. Ob des Zuspruchs der Satzfolge folgte nach der Uraufführung des Balletts eine Suite Nummer zwei. Die beiden Suiten Daphnis et Chloé werden seit dem auf den Konzertpodien häufig und erfolgreich aufgeführt.
Die Konzertgestalter des 11. Symphoniekonzert stellten für den Ersten Gastdirigenten der Staatskapelle Myung-Whun Chung die von den frühen Suiten nicht berührte Szenen der Ballettmusik zusammen: Chloé ist bei einer Huldigungsfeier für Pan von Piraten entführt und in deren Versteck verschleppt worden; der bei der Entführung ohnmächtig gewordener Daphnis hat die Vision, dass drei Nymphen die Hilfe des Gottes Pan für Chloés Befreiung einfordern; In der Piratenbucht wird Chloe gezwungen für den Hauptmann zu tanzen; während über dem Festplatz die Sonne aufgeht, wird dort in Form einer Pantomime an die Liebe des Gottes zur Nymphe Syrinx erinnert, so dass Pan auch tätig wird; die Liebenden sind wieder vereint, schwören einander ewige Treue, so dass das Geschehen in einem Bacchanal enden konnte.
Nachdem wir dank der Musikfestspiele innerhalb kurzer Zeit gehäuft Orchester mit unterschiedlichsten Klangbildern hören durften, waren für das Konzert unsere Erwartungen, den wunderbaren „Dresdner Klang“ der Wunderharfe wieder hören zu dürfen, besonders hoch, aber eventuell doch zu hoch. Irgendwie waren meine Erinnerungen an das Spiel des Orchesters mit den Daphnis et Chloé-Suiten höher gesteckt. Ich fand auch das Dirigat Chungs etwas zurückhaltend. Die fordernden Soli der Bläser hatten das bekannte Niveau, die Klangschönheit und die strukturelle Übersicht waren durchaus zu spüren. Bei dem Beginn der Morgendämmerung, der Entfaltung des großen Ravelschen Klangfrescos, hätte ich dennoch mehr Spielfreude und Engagement gewünscht.
Modest Petrowitsch Mussorgski (1839-1881) war ein wichtiges Glied der Gruppe jener fünf russischen, von Wladimir Stassow (1824-1906) als „Mächtigstes Häuflein“ benannten Komponisten, die sich um die Entwicklung einer nationalen russischen Musik bemühten. Neben Mili Balakirew (1836-1910), Alexander Borodin (1833-1887), César Cui (1835-1918), Nikolai Rimski-Korsakow (1844-1908), die nur im Nebenberuf komponierten, wurde der als Maler, Buchillustration, Architekt, Bildhauer und Bühnenbildner tätige Wiktor Hartmann (1834-1873) von Stassow in die Gruppe eingeführt. Hartmann und Mussorgski fühlten sich besonders verbunden. Nach Hartmanns frühem Tode wurden im Februar des Jahres 1874 in der Petersburger Akademie der Künste über vierhundert Exponaten des kreativen Kunstschaffenden im Rahmen einer Gedenkausstellung präsentiert. Der Überlieferung nach sei Mussorgski mehrfach wie ein Betrunkener, vielleicht war er es auch, besonders in den Bilderreihen zu finden gewesen.
In einem Schaffensrausch komponierte er innerhalb von drei Monaten dem Freund ein musikalisches Denkmal zu zehn seiner Objekte, die Klaviersuite „Bilder einer Ausstellung“. Eine „Promenade“, die Eingangspforte der Ausstellung, steht für jeden seiner Aufenthalte in der Ausstellung und der Charakter der Wiederholungen weist auf die veränderten Stimmungen des Besuchers. Mussorgski gestaltete die zehn „Bilder“ der Vorlagen nach seinen Eindrücken. Zwei Zeichnungen polnischer Juden, ein Ballettkostüm-Entwurf, Nussknacker artiger Weihnachtsschmuck, Marktweiber in Limoges, ein alter Schlosshof, Hartmann in den Pariser Katakomben und schlüpfende Küchleins hatten den Komponisten gefesselt. Eine Uhr veränderte sich visuell bei Mussorgski zu Baba Jagas Haus auf Hühnerbeinen. Für den Abschluss regte der Entwurf des Architekten Hartmann für ein „Großes Tor in Kiew“ den Komponisten zu einem monumentalen Schlussgemälde an. Zu Mussorgskis Lebzeiten wurde die Suite nahezu ignoriert. Es bedurfte des Überblicks des legendären Dirigenten des Bostoner Symphony Orchestras Sergej Kussewitzky (1874-1951), der 1922 Maurice Ravel den Auftrag zur Orchestrierung der genialen Klavier-Suite Mussorgskis gab. Noch im gleichen Jahr uraufgeführt, wurde die Orchesterfassung schnell zu einer der berühmtesten Orchesterbearbeitungen. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Bearbeitungen der „Bilder einer Ausstellung“ unterschiedlichsten Genres. Prog-Rock Versionen bis hin zu ganz obskuren plakativen Spielarten lassen das Werk Mussorgskis als scheinbar unendlich belastbar erscheinen.
Imposant interpretierte uns Myung-Whun Chung mit den Musikern der Sächsischen Staatskapelle in der Matinee des 11. Saisonkonzertes Ravels impressionistische Passagen. Die harten Kontraste, die ausgefallene Harmonik und die außergewöhnliche Struktur mit den durchaus groben Klangfarben vermittelten dem Hörer zumindest einen Eindruck von Mussorgskis Stimmungslagen; dass hier kein Vorbeilaufen an zehn Exponaten stattgefunden haben konnte. Chung gelang es, aus den dissonanten Akkorden überraschend Klänge hervortreten zu lassen und mit dem Opern-haften Finale einen imponierenden Konzertschluss zu gestalten.