Dresden, Sächsische Staatskapelle, 3. Symphoniekonzert - Bartók, Kodaly, Poulenc, Ravel, IOCO Kritik, 15.11.2021
Sächsische Staatskapelle Dresden
3. Symphoniekonzert - Sächsische Staatskapelle 2021/22
- Bartók, Kodaly, Poulenc, Ravel - in beglückender Gemeinschaft -
von Thomas Thielemann
Mit dem Dirigenten-Namen Viotti verbinden wir in Dresden, intensiver noch in Leipzig beim MDR –Rundfunksymphonieorchester, die Persönlichkeit des immer freundlichen, zugänglichen sorgfältigen Arbeiters Marcello Viotti (1954-2005), dessen 2005 mit der Staatskapelle geplante Tournee seinem Schlaganfall-Tod zum Opfer fiel.
Marcellos Sohn Lorenzo Viotti war mit Musikern der Staatskapelle bisher lediglich im Orchestergraben der Semperoper bei der musikalischen Leitung von Aufführungen des Rigoletto und der Madame Butterfly sowie im ZDF-Adventskonzert in Erscheinung getreten. Mit dem 3. Symphoniekonzert der Saison 2021/22 reiht sich der 1990 geboren in die Kategorie der hochkarätigen Gastdirigenten der Sächsischen Staatskapelle ein.
Vier Konzertstücke mit interessanten Werkgeschichten standen auf dem Programm:
Für Béla Bartóks „Konzert für Viola und Orchester“, im Index von Andras Szöllösy (1921-2007) das Werk Sz 120, sowie zum Auftakt seiner Tätigkeit als „Capell-Virtuos“ der Saison 2021/22 war Antoine Tamestit mit der Stradivari-Viola von 1672, der sogenannten „Mahler“, in den Semperbau gekommen.
Béla Bartók, 1881 im Königreich Ungarn der Österreich-Ungarischen Monarchie geboren, gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Moderne in der Musik. Im Jahre 1940 in die USA emigriert, höhlten gesundheitliche Probleme, existenzielle Sorgen und fehlende Resonanz seine schöpferische Kraft aus.
Der schottische, seit den 1930er Jahren in den USA lebende Bratschist William Primrose (1904-1982) war ungeachtet der misslichen Situation Bartóks der Auffassung, dass nur dieser ihm ein Stück schreiben könne, welches die Möglichkeiten seiner Amati-Viola ausreizen könne. Deshalb bat er im Winter 1944 Béla Bartók, ihm ein Konzert zu schreiben, bei dem er sich „in keiner Weise durch scheinbare Grenzen des Instruments eingeschränkt fühlen sollte“. Die Leukämieerkrankung des Komponisten war zu dieser Zeit bereits fortgeschritten, so dass er ständig unter Fieber litt. Er ahnte offenbar seinen Zustand, obwohl man ihm die Dramatik seiner Situation verheimlichte. Am 8. September 1945 signalisierte er zwar dem Auftraggeber, dass Konzert sei fast fertig. Er arbeite nur noch an der Orchestrierung. Als Bartók aber am 26. September 1945 verstorben war, existierten lediglich ein Partitur Entwurf des ersten Satzes und Gerüste mit Skizzen, die den Formenaufbau des zweiten und dritten Satzes nur erahnen ließen.
Der Komponist, Schüler und enger Freund Bartóks, Tibor Serly (1901-1978) hat die Komposition 1949 fertiggestellt, so dass am 2. Dezember 1949 die Uraufführung vom Minneapolis Symphony Orchestra mit dem Solisten Primrose erfolgen konnte.
Kaum verwunderlich, dass im Jahre 1994 der Komponist André Kasparov (*1966 in Baku) begann, mit Bartóks Sohn Peter und Nelson Dellamaggiore die Bratschen-Relikte auf Schnittmengen mit Bartóks 3. Klavierkonzert zu untersuchen und Serlys Arbeit einer Revision zu unterziehen. Gemeinsam mit dem US-amerikanische Bratschisten Paul Neubauer (*1962), einem Schüler Pimroses, entstand daraus eine neue, möglicherweise den Intensionen Bartók nähere, Fassung des Sz 120.
Der sich als Weltbürger verstehende, mit Staatsbürgerschaften Ungarns, Großbritanniens und der USA ausgestattete, Solo-Bratscher Csaba Erdélyi (*1972) hatte sich schon früher, und zwar über zwanzig Jahre mit dem Originalmanuskripten Bartóks beschäftigt. Umfangreiche Abstimmungen mit den Bartók-Forschern Elliott Antokoletz und László Somfai sowie den ungarischen Komponisten Péter Eötvös und György Kurtág führten zu einer weiteren Restaurierung und Orchestrierung des „Konzertes für Viola und Orchester in a-Moll, Sz 120. Zu allem Überfluss verarbeitete Tibor Serly die Bartók-Entwürfe noch zu einem Cellokonzert.
Im dritten Symphoniekonzert kam die Fassung des Bartók Bratschenkonzertes von Dellamagiore und Neubauer zur Aufführung.
Antoine Tamestit und die Stradivari-Viola mit ihren dunkelfarbigen Tönen sind zweifelsfrei die ideale Kombination für eine Darbietung der Bartók-Intuitionen. Nur mit ihnen können wir uns eine mit der-artiger Energie so hinreißend hingebungsvolle Vermittlung von Bartóks Klangwelten vorstellen. Im Zusammenwirken mit dem Orchester zeichnete er mit dem Instrument die aufeinanderfolgenden Form- und Satzteile als faszinierende Klangbilder und Stimmungen, verleiht damit seinem Vortrag eine enorme Spannung. Das Orchester unter Lorenzo Viotti erwies sich als kongenialer Partner des Solisten. Im Finale des Allegro moderato begeisternden die triumphierenden Blechbläser, während im zweiten Satz „Lento“ die Solo-Viola Tamestits über den delikat hauchenden Orchester-Streichern spielend, eine regelrechte Spiritualität erzeugte.
Wie eine Erlösung wirkte, als gegen Ende des dritten Satzes folkloristisch Inspiriertes in einen furiosen Reigen des Wechsels zwischen dem tänzerischen Solisten und dem Orchester zur Schluss-Ekstase führte.
Eingeleitet worden war das Konzert mit den „Tänzen aus Galanta“ von Zoltán Kodály (1882-1967). Das Leben und Schaffen Kodálys war mit Bela Bartók vor allem bei der Ungarischen Volksliedforschung vor dem ersten Weltkrieg und der gemeinsamen Tätigkeit bei der Sammlung von Soldatenliedern im Budapester K.u.K.-Kriegspressequartier während des ersten Weltkriegs verwoben.
Zur echten Volksmusik fanden Bartók und Kodály erst später, als sie ungarische, rumänische und slowakische Folklore nach musikethnologischen Kriterien sammelten und editierten.
Die 1933 entstandene Partitur der „Tänze aus Galanta“ gilt als hervorragendes Beispiel der Integration volksmusikalischen Materials in eine formal kombinierte Komposition. Mit der kompletten Solo-Virtuosität, die von den Musikern der Staatskapelle aufgeboten werden konnte, wurden die Tänze mit ihren folkloristischen Motiven und den raschen Tempi Wechseln scheinbar schwerelos gespielt. Zunächst erfreute uns im zweiten Teil Francis Poulenc (1899-1963) mit seiner Suite für Orchester FP 111 „Les animaux modèles“ frei übersetzt: die „Mustertiere“ aus den Jahren 1940 bis 1942.
Von der Persönlichkeit Poulencs wurde berichtet, es wohnten in ihm zwei Seelen: die eines Mönchs und eines Lausbuben. Neben seiner tiefen Religiosität war er auch ein hochpolitischer Mensch. Er unterstützte die Résistance, den Kampf gegen die deutschen Besatzer und wollte mit seinen Kompositionen in den dunkelsten Tagen seinen französischen Mitbürgern Optimismus und Hoffnung geben. Was eignete sich da besser, als die Fabeln seines Landsmanns Jean de La Fontaines zur Vorlage zu nehmen? Die so selten französisch-typische Partitur dirigierte Viotti mit offener Kraft und prägnanter Weichheit. Eine charmante, von Melancholie durchzogene, belebende Musik, voller kommunikativer Lebensfreude und purem Elan durften wir erleben. Für viele eine Neuentdeckung der selten gespielten sechsteiligen Suite. Warum diese Musik nicht öfter zu hören ist, bleibt ein Rätsel.
Als einer der wichtigsten Vertreter der Impressionisten der Musik war Maurice Ravel (1875-1937) unter den großen Musikern der neueren Zeit einer der seltsamsten Charaktere. Als Sohn eines Schweizer Ingenieurs und eines baskischen Mannequins, kleinwüchsig mit großem Kopf, blieb er lebenslang gefühlsscheu, distanziert, mit einem eigentümlichen Zug zur Kindlichkeit. Dabei war er dandyhaft-elegant und immer ironisch, was zu scheinbar leidenschaftslos strukturierten Kompositionen mit einem dämonisch hintergründigen Klang führte. Die Vertonung eines spätantiken Liebesromans des Longos von Lesbos (2./3. Jahrhundert) für die legendären „Ballets russes“ in Paris brachte Ravel wegen Auseinandersetzungen mit den Auftraggebern vor allem nur Ärger ein. Der Choreograph Michael Fokine wollte den Stoff archaisch, in traditionell-klassischer Darstellung, wie auf Vasen und Fresken der Antike dargestellt, interpretiert haben, während Ravels Vision vom alten Hellas, völlig gelöst von der historisch-geografischen Wirklichkeit, eher romantisierend-phantastischem Charakter entsprach. Mehrfach wurde die Uraufführung verschoben; auch drohte das Projekt zu platzen.
Nachdem trotz der zum Teil handfesten Querelen das Ballett im Juni 1912, drei Jahre nach Beginn der Arbeit, zur Aufführung kam, blieb der Erfolg zunächst verhalten. Die fließende, improvisatorisch an-mutende Rhythmik und die opulente Instrumentation der Komposition gingen fast unter, auch weil die vertrackte Musik den Tänzern arg zu schaffen machte.
Mit zwei „Auskoppellungen“, den beiden Suiten „Daphnis et Chloé“ konnte der zunächst verärgerte Ravel über die Konzertpodien seiner individuellen Meisterschaft zur Rehabilitierung verhelfen. Im Konzert dirigierte Lorenzo Viotti die Suite Nummer zwei, den letzten Teil der „ choreografischen Symphonie“ Ballettmusik „Daphnis und Chloé“ ohne Chor in der reinen Orchesterfassung. Mit Eleganz und Raffinesse schuf er mit dem Orchester eine im Licht der aufgehenden Sonne prachtvolle Morgenlandschaft. Das Flötensolo der Nymphe bilde eine faszinierende Überleitung zur panto-mimischen Vereinigung des Daphnis mit der Chloé bevor die Handlung vom Dirigat in einen orgiasti-schen Schlusstaumelgeführt wurde.
Zu unserer Freude erlebten wir Tibor Gyenge als den Konzertmeister des 3. Symphoniekonzerts am ersten Pult und, gemeinsam mit Antoine Tamastit, in einer tollen Zugabe für Violine und Viola.Außerdem waren zahlreiche „Aufrückungen“ im Orchester von geschätzten und uns vertrauten Leistungsträgern der Staatskapelle zu konstatieren.
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