Dresden, Kulturpalast, Philadelphia Orchestra - Yannick Nèzet-Séguin, IOCO Kritik, 05.09.2022
Philadelphia Orchestra - Yannick Nèzet-Séguin
- Gastkonzert mit Lisa Batiashvili - - Szymanowski, Chausson, Dvorak -
von Thomas Thielemann
Der aus Schleswig-Holstein stammende Geiger Johann Friedrich Scheel (1852-1907) war nach Orchestermusiker- und Musikdirektortätigkeiten in Chemnitz 1893 in Bremen mit Hans von Bülow (1830-1894) zusammengetroffen, wo der gesundheitlich angeschlagene Bülow ein aus fünfzig Musikern bestehendes Orchester für Konzerte im Umfeld der Weltausstellung „World´s Columbian Exposition“ in Chicago zusammenstellte. Wahrscheinlich an Stelle des erkrankten Bülows dirigierte Scheel zur Weltausstellung das sogenannte „Hans von Bülow Orchester“.
Nach Orchestertätigkeiten in einem „Imperial Vienna Prater Orchestra“ und einem „San Francisco Symphony Orchestra“ dirigierte Scheel 1899 in einer sommerlichen Konzertserie ein „The New York Orchestra“ in Philadelphia mit einer offensichtlich hohen Qualität. Das begeisterte musikliebende Großbürger der Stadt, dass diese sich zu einer „Philadelphia Orchestra Association“ zusammen schlossen und Scheel mit dem Aufbau eines professionellen Klangkörpers für die von deutschen kulturellen Einflüssen geprägten Millionen-Stadt beauftragten.
Bereits im November dirigierte Fritz Scheel das erste Konzert des Philadelphia Orchestra, rekrutierte in Europa auf zwei Reisen 1901 und 1902 weitere fähige Musiker. Bereits vier Jahre später kam es mit dem Gastdirigat von Richard Strauss zu einem ersten Kontakt des Ensembles mit einem Weltstar. Zwei Jahre später präsentierte der junge polnische Pianist Artur Rubinstein (1887-1982) sein Können mit dem Orchester. Im November 1909 dirigierte Sergei Rachmaninoff mit dem Philadelphia Orchestra die amerikanische Erstaufführung seiner zweiten Symphonie und brillierte zudem als Pianist.
Von 1912 an leitete über 23-Jahre der berühmt-berüchtigte Innovator Leopold Stokowski (1882-1977) das Orchester, verschaffte ihm mit dem „Philadelphia Sound“ ein völlig anderes Klangbild und führte es in die Reihe der „Big Five“, der fünf bedeutenden Klangkörper der USA. Seit 2012 ist der Franko-Kanadier Yannick Nézet-Séguin dem Orchester als Musikdirektor verbunden.
Die Georgierin Lisa Batiashvili spielte im ersten Konzert-Teil mit dem Gastorchester das „Violinkonzert Nr. 1 op. 35“ des polnischen Komponisten Karol Szymanowski (1882-1937), das 1916 auf dem Gut eines polnischen Mäzens entstanden und 1922 in Warschau uraufgeführt wurde. Für viele Musikfreund steht das einsätzige Werk mit seinen avantgardistischen Zügen, dem impressionistisch-filigranen Klangfarbenreichtum und der raffiniert-motorischen Rhythmik für eine Zeitenwende der national-polnischen Moderne. Die Harmonien des individuellen Expressionismus hatten sich doch vom spätromantischen Tonalen Mahlers und Strauss deutlich entfernt.
Die Melodien in höchster Lage, die technischen Raffinessen spielte die Geigerin souverän als ein stetes Fließen und entwickelte einen kaum greifbaren Klangteppich. Die erstaunliche Fülle und Komplexität, die Aufruhr exquisiter Harmonien wurden mit scheinbarer Leichtigkeit über Nézet-Séguins orchestralen Hintergrund gehoben. Formal als einsätziges Werk, lassen sich fünf Phasen einer großen Fantasie ausmachen: das „Vivace assai“ bestimmte eine märchenhafte und das „Andantino“ eine leidenschaftlich- gesangliche Interpretation, der ein Scherzo folgte. Ein verklärender Übergang führte zu einem „Vivace“ mit der Kadenz und Rückgriffen auf das Gehörte.
Die Solistin spielte die Violine Cozio-Nr. 61377 aus der Werkstatt von Antonio Gaurneri del Gezù von 1739.
Zum zweiten Stück der Programmfolge:
Auch so etwas passiert in den besten Häusern, wie in der berühmten Pariser Musikerfamilie Viardot: zwei Männer verliebten sich in die Tochter des Hauses. Im Februar 1877 verlobte sich besagte Marianne Viardot (1854-1919) mit dem Komponisten Alphonse Duvernoy (1842-1907), löste kurze Zeit später das Heiratsversprechen und verlobte sich im Juli des gleichen Jahres mit Gabriel Fauré (1845-1924), heiratete dann aber doch Duvernoy.
Der russische Dichter und Meister des melodramatischen Impressionismus Iwan Turgenjew (1818-1883), der seit 1855 in Baden-Baden und Paris lebte, ließ sich vom Verhalten der Marianne Viardot 1881 zu seiner Novelle Le Chant de l´amour triomphant inspirieren: "Ein Musiker, in seiner unglücklichen Leidenschaft für Valeria von dieser verschmäht, lädt diese zu einem Abendessen, bei dem er mit einem geheimnisvollen Wein und einer mit einer indischen Geige vorgetragenen leidenschaftlichen Melodie die Geliebte zurück gewinnt."
Für den belgischen Geiger Eugène Ysaÿe (1858-1931) vertonte der französische Komponist Ernest Chausson (1855-1899) 1896 das Sujet zu seinem „Poème pour violon et orchestra op. 25“ und damit zu seinem bekanntesten Werk.
Wie einen großen sanft dahingleitenden Klangstrom ließ Lisa Batiashvili das Werk des Spätromantikers dahin gleiten und doch ist der Zuhörer gebannt von ihrem tiefenentspannten Espressivo und dem wunderbar leuchtendem Gesangston.
Yannick Nézet-Séguin konnte hier mit seiner Orchesterbegleitung eine von Schwüle und Phrasen ferne kultivierte Farbpalette aufbieten, so dass eigentlich Lust auf mehr Musik des „César Franck-Richard Wagner- Adepten“ Ernest Chausson entstanden war.
Der böhmische Komponist Antonin Dvorák (1841-1904) hat neun Symphonien geschaffen. In den Konzertprogrammen finden sich aber nur die drei letzten Symphonien des Romantikers, und da vor allem seine Symphonie aus der neuen Welt Nr. 9. Nur gelegentlich trifft man das Adagietto aus der 5. Symphonie als Füllsel im Konzertsaal. Und hätten wir nicht die wunderbaren Einspielungen der frühen Dvorák-Symphonien von István Kertész aus den 1960-er Jahren in den Dicographien, so wüssten wir nicht, welcher Schatz da ungehoben bleibt.
Schaut man sich die Entstehungsjahre der Kompositionen an, so erklärt sich schon einiges. Seine ersten beiden Symphonien komponierte Dvorák 1865 im Alter von 24 Jahren. In den Jahren 1873 bis 1875 folgte in jedem Jahr eine weitere Komposition. 1880 kam mit der sechsten eine folgende Symphonie Dvoráks. Man erkennt zwar von Symphonie zu Symphonie eine Weiterentwicklung des Komponisten, die Initialzündung sicherte Dvorák aber erst seine Freundschaft mit Johannes Brahms und das Hören dessen dritter Symphonie im Jahre 1884.
Der farbenreich, glasklar sezierte lyrische Kopfsatz, die motivisch-melodischen Wandlungen im poco Adagio oder die bis zum extremen Piano eingedämmte Dramatik des Finalsatzes führen die Einstufung Dvoráks als böhmischen Musikanten und Brahms-Adepten ad Absurdum.
Yannick Nézet-Séguin schien auch die geistige Nähe zu Brahms wenig zu interessieren. Er betonte das slawisch fließende der Komposition, ohne sich dabei in breite oder zähe Tempi zu verlieren. Wie aus einem Guss präsentierten sich der Dirigent und seine Musiker, als sie Dvoráks siebte Symphonie mit ausbalancierter Instrumentation und Dynamik darboten. Da reichten Blickkontakt und sparsame Handbewegung, um die freudig Musizierenden in die passende Richtung zu führen. Gelegentlich schoben sich die Anekdoten ins Bewusstsein, dass der Komponist sich in seinem Spleen für Dampflokomotiven habe von deren Arbeits- und Pfeifgeräuschen inspirieren lassen.
Wie bereits am Vorabend wurde das ausgedünnte Publikum erst mit der bekannteren Symphonie Dvoráks richtig warm, spendeten dann aber um so begeisterter den heftigen Applaus.
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