Dresden, Kulturpalast, GOHRISCHER SCHOSTAKOWITSCH-TAGE 2023, IOCO Aktuell, 23.06.2023

Dresden, Kulturpalast, GOHRISCHER SCHOSTAKOWITSCH-TAGE 2023, IOCO Aktuell, 23.06.2023
Kulturpalast Dresden © Nikolaj Lund
Kulturpalast Dresden © Nikolaj Lund

Kulturpalast Dresden

Gohrischer Schostakowitsch-Tage 2023

Vorabend - Sächsische Staatskapelle - Andrés Orozco-Estrada erinnern an die Aufenthalte Schostakowitschs im Kurort

von Thomas Thielemann

Der in Warschau als Sohn eines jüdischen Theaterkomponisten geborene Mieczyslaw Weinberg (1919-1996) war 1939 vor der deutschen Invasion Polens zunächst nach Minsk geflohen. Nachdem Überfall auf die UdSSR im Jahre 1941 und der Besetzung der Westgebiete ging er nach Taschkent. Als er 1943 seine 1. Symphonie Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) zur Begutachtung geschickt hatte, veranlasste dieser seine Übersiedlung nach Moskau und verschaffte ihm Unterkunft in seiner Nähe. Als Fast-Nachbarn trafen sie sich häufig, um sich über musikalische Ideen auszutauschen und sich gegenseitig das Geschaffene als gelungen abzusegnen. Das hatte zwar durchaus gegenseitige Auswirkungen auf ihre Kompositionen zur Folge, Weinberg deshalb als den „kleinen Schostakowitsch“ zu bezeichnen wäre aber grundfalsch. Natürlich haben sich beide gegenseitig beeinflusst und den Erbsenzählern unter den Musikwissenschaftlern bleibt überlassen, wer bei welchem Stück Wirkung auf den anderen Freund genommen habe. Beide waren durchaus eigenständige Komponisten: die kompositorische Leichtigkeit, stilistische Zuspitzung und deren Vollendung auf der einen Seite und die hörbar mühevolle Arbeit, das Ringen um die beste Kompositorische Lösung, das oft nicht bis zum Ende Gebrachte, auf der anderen Seite, unterschieden die Komponisten. Die Genialität, die in scheinbar banalen Stücken durchscheint, war Beiden zu Eigen. Weinbergs Komposition zu Kalatosows meisterhaftem Film „Die Kraniche ziehen“ wird uns für immer in Erinnerung bleiben.

Kulturpalast Dresden / Gohrischer Schostakowitsch-Tage hier die Sächsische Staatskapelle © Markenfotografie
Kulturpalast Dresden / Gohrischer Schostakowitsch-Tage hier die Sächsische Staatskapelle © Markenfotografie

Wie Schostakowitsch bewegte sich Weinberg in dem verhängnisvollen Dreieck von großzügiger staatlicher Alimentierung, künstlerischer Anerkennung seiner Arbeiten und persönlicher Repression durch die offizielle Kulturpolitik. Es wäre grundfalsch, Mieczyslaw Weinberg als moralische Institution oder Feind des Sowjetsystems zu bezeichnen. Er war weder Kommunist noch Antikommunist, sondern allenfalls Antifaschist. Immerhin musste er zweimal vor den Faschisten fliehen, Deutsche hatten seine übrige Familie ausgelöscht und er verdankte dem Gastland, dass er überleben konnte. Er selbst bezeichnete die 1960-er Jahre als seine „Goldene Ära“, als er sich als einer der wichtigsten sowjetischen Komponisten etablierte. Die Spitzen der reproduzierenden Sowjetkultur David Oistrach (1908-1974), Emil Gilels (1916-1985), Mstislaw Rostropowitsch (1927-2007), Leonid Kogan (1924-1982), Kirill Kondraschin (1914-1981) und das Borodin-Quartett spielten seine Werke. In Westeuropa passte er nicht in die Schubladen der Avantgarde, galt als Schostakowitsch-Epigone und Systemkonform. Die westeuropäische Kulturpolitik belegte nahezu alle nicht eindeutig „dissidenten“ Musiker der Sowjetunion mit einem Bannfluch. Nach Schostakowitschs Tod verließ er kaum noch seine Wohnung und kümmerte sich nicht um die Aufführungen seiner Kompositionen. Damit wurden die Werke des bescheidenen und etwas lebensuntüchtigen Weinbergs immer weniger gespielt und er verschwand aus dem Musikleben. Nach dem Zerfall der UdSSR waren im Musikleben Debütanten wie Schnittke und Gubaidulina gefragt. Erst kurz vor seinem 100sten Geburtstag wurde seine Oper Die Passagierin in Bregenz aufgeführt und einige seiner etwa 300 Kompositionen ausgegraben.

Das „Konzert für Trompete und Orchester“ op. 94 komponierte Weinberg in seiner produktivsten Schaffensperiode 1966/67 für den russischen Virtuosen Timofei Dokschizer (1921-2005), der es auch im Januar 1968 mit Kyrill Kondraschin uraufführte. Obwohl die etwas unernsten Satzbezeichnungen Weinbergs lediglich Fingerübungen versprechen, wird deren Flapsigkeit durch die enorme Spannung der Komposition widerlegt.

Kulturpalast Dresden / Gohrischer Schostakowitsch-Tage hier Håkan Hardenberger © Markenfotografie
Kulturpalast Dresden / Gohrischer Schostakowitsch-Tage hier Håkan Hardenberger © Markenfotografie

Im Vorabend-Konzert der „Gohrischer Schostakowitsch-Tage 2023“ wurde das interessante Werk von Håkan Hardenberger mit der Sächsischen Staatskapelle und dem Dirigat von Andrés Orozco-Estrada geboten.

Der erste Satz „Etudes“ begann für Hardenberger mit tonleiterartigen Passagen, die von Streichern und Schlagzeug begleitet wurden. Bissig und grimassenhaft entwickelte der Trompeter mit seiner faszinierenden Virtuosität das Thema bis Orozco-Estrada den Satzanfang mit dem Orchester wieder einfangen konnte.

Der zweite Satz „Episoden“ entwickelte sich zu einer enormen Herausforderung für den Solisten, die Håkan Hardenberger mit großer Gelassenheit absolvierte. Besonders die lange Kadenz mit gestopfter Trompete, bei der ihm nur die Soloflöte assistierte, ließ die Stimmung zwischen ernst und gespenstisch wechseln. Düstere Stimmungen und zerklüftete thematische Ideen mit schnellen Tempowechseln behinderten den Aufbau von Strukturlinien, die sich erst mit energischen Antworten des Orchesters entwickeln konnten. Nur begrenzt konnte der Schwedische Meister-Trompeter die lyrische Entfaltung des farbenfrohen Satzes gegen das Orchester durchsetzen.

Der Finalsatz „Fanfaren“ zitiert Ohrwürmer anderer Komponisten: Mendelssohns Sommernachtstraum, Rimski-Korsakows  „Goldener Hahn“ sowie sein „Märchen vom Zaren Saltan“, Bizets Carmen und Strawinskys „Petruschka“ waren zu identifizieren. Mit einer zweiten Kadenz, begleitet vom Schlagzeug und anderen Soloinstrumenten, führte die Trompete zum Eingangsthema zurück. Mit Konsequenz hatte uns Hardenberger die postmoderne Offenheit Weinbergs mit ihrer inneren Struktur versucht nahezubringen.

Mit einer Zugabe, die den Hörgewohnheiten der meisten Besucher näher kam, bedankte sich der Solist für den herzlichen Applaus.

Kulturpalast Dresden / Gohrischer Schostakowitsch-Tage hier Sächsische Staatskapelle, Dirigent Andrés Orozco-Estrada, Trompeter Håkan Hardenberger © Markenfotografie
Kulturpalast Dresden / Gohrischer Schostakowitsch-Tage hier Sächsische Staatskapelle, Dirigent Andrés Orozco-Estrada, Trompeter Håkan Hardenberger © Markenfotografie

Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk nach Nikolai Leskov (1831-1895) wurde seit dem Januar 1934 mit wechselndem Erfolg zunächst in Leningrad und später auch im Moskauer Bolschoi-Theater aufgeführt, bis am 29. Januar 1936 Josef Stalin (1878-1953) mit seiner Entourage eine Vorstellung besuchte. Was dem Diktator an der Oper tatsächlich missfallen hat, ist nicht geklärt. Ein Mitarbeiter der Regierungszeitung „ISWESTIJA“ will aber eine Äußerung „Das ist Wirrwarr und keine Musik“ aufgeschnappt haben. Nachdem zwei Tage später in der Parteizeitung „PRAWDA“ in einem Beitrag „Chaos statt Musik“ auf Schostakowitschs Oper Bezug genommen wurde und auf die Absetzung der Inszenierungen gedrungen worden war, hat der 30-jährige Komponist seine Arbeit an der avantgardistischen vierten Symphonie zunächst abgebrochen. Auch nach der von Freunden befeuerten Fertigstellung der Vierten zog Schostakowitsch das Werk kurz vor der Uraufführung als ungenügend zurück. Das war aber erst im Dezember 1936. Dem Vernehmen nach sei er vom Komponisten verband aufgefordert worden, eine Symphonie im Stile des „sowjetischen Klassizismus“ zu schreiben: genial und heroisch wie Beethoven, aber den Geist der aktuellen Epoche zum Ausdruck bringend, sollte das Werk sein.

In diesem Spannungsfeld komponierte Dmitri Schostakowitsch mit seiner d-Moll-Symphonie ein Meisterwerk, ein Spiegelbild der Welt, die ihn umgab. Er selbst nannte seine Fünfte „eine praktische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik“. Das Werden des Menschen, seine Selbstverwirklichung sei der eigentliche Gegenstand der Symphonie. Nun war „Mitja“ bei aller Vorsicht ein Schelm, so dass die unterschiedlich gefärbten Äußerungen zu seiner Arbeit nicht unbedingt das Ende der Deutung der „Fünften“ darstellen müssen, zumal die überlieferten Zitate nicht unbedingt authentisch sind. Genauso wenig müssen die in den Konzertprogrammen postulierten Deutungen, dass Schostakowitsch mit der Symphonie eine Verhöhnung der Machtstrukturen und eine Absage an die Kulturpolitik der 1930-er Jahre verbunden habe, richtig sein. Möglicherweise muss man irgendwo zwischen Solomon Wolkow (* 1944) und Richard Taruskin (1945-1922) oder ganz woanders suchen. Denn in Taruskins Bonmot, der mit Blick auf Schostakowitsch lästerte „die russische Musik sei ein Fest für Semiotiker und die Hölle für Kritiker“ steckt viel Wahres.

Ich war deshalb von der Interpretation Andrés Orozco-Estrades bei seinem Gastkonzert bei der Sächsischen Staatskapelle angetan, als er die d-Moll-Symphonie am Vorabend der Gohrischer Schostakowitsch-Tage 2023 auf seine Art dirigierte. Der 1977 in Kolumbien geborene Wahlwiener gestaltete Schostakowitschs doppelte Böden mit kluger Dramaturgie, intensiver Konzentration und wunderbar geformten Schlüssen. Andrés Orozco-Estrade löste Schostakowitschs Musik aus dem historischen Kontext und verstand die Musik als allgemeingültige, eher zeitlose menschliche Botschaft und setzt mit seinem Dirigat auf eindeutige starke Gefühle. Das Moderato ging er gemächlich mit Ruhe an, baute die Kontraste sorgfältig auf und gestaltete Spannungen wechselnd mit Entspannung in größeren Schritten. Den scharf punktierten Rhythmen des Hauptthemas stellte er die lyrischen Nebenthemen eher nachdenklich gegenüber. Mit ironischen Variationen des Themas des Kopfsatzes betonte Orozco-Estrade im Allegretto den Scherzo-Charakter und verleugnete die Mahler-Anklänge nicht.

Der langsame Satz „Largo“ ist für viele mit seinen langen einnehmenden Melodien die Seele der Komposition. Hier gelang es Andrés Orozco-Estrade der Musik eine tief empfundene Würde, eine Sehnsucht und Nachdenklichkeit zu verleihen. Das führte im atmosphärisch ungemein dichten Orchesterspiel zu wunderschönen Ergebnissen.

Mit dem marschartigen Finalsatz hatte Schostakowitsch seinen Nachschöpfern die größten Freiheiten angeboten. Andrés Orozco-Estrade erfreute mit seinem direkten lebensbejahenden, fröhlichen Dirigat, so als ob er eine ausgelassene Stimmung Schostakowitschs in unsere schwierige Zeit tragen wollte.

Die Profi-Musiker der Sächsischen Staatskapelle gingen aufgeschlossen auf die Wünsche des seltenen Gastdirigenten ein, obwohl sie in der Vergangenheit auch kriegerische und hektisch-zynische Interpretationen der D-Moll-Symphonie Schostakowitschs, so im Juli 2013 mit Andris Nelsons, zu spielen hatten.

Spontan stehende Ovationen des hoch „Schostakowitsch-affinen“ Publikums dankten. Am 22. Juni 2023 findet in der „Gohrischer Scheune“ das Eröffnungskonzert statt.

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