Dresden, Kulturpalast, DRESDNER MUSIKFESTSPIELE 2023 - Eröffnungskonzert, IOCO Kritik, 19.05.2023
Dresdner Musikfestspiele 2023
- Münchner Philharmoniker - Tugan Sokhiev : Schostakowitsch - Mahler -
von Thomas Thielemann
Der aus dem östlichen Kaukasus stammende Tugan Sokhiev hat sich in den vergangenen zwei Jahren als Gastdirigent fest im Konzertleben Dresdens etabliert. Interessant war uns, am 18. Mai 2023, im Eröffnungskonzert der Dresdner Musikfestspiele 2023 den sympathischen Klangmagier mit den hier wenig bekannten Münchner Philharmonikern, aber mit bereits häufiger gehörten Werken zu erleben.
Die h-Moll-Symphonie Nr. 6 ist mit ihren drei Sätzen in der Form eher unkonventionell und gehört zu den weniger populären Kompositionen von Dmitri Schostakowitsch (1906-1975). Die im Jahre 1939 angedachte Vertonung eines Lenin-Gedichtes als Werk für Orchester, Chor und Solisten stockte, weil sich die Verse von Wladimir Majakowski (1893-1930) dem Komponisten nicht erschlossen. So entstand eine rein orchestrale Symphonie, der Schostakowitsch die in der lyrischen Vorlage enthaltene Nachdenklichkeit, die um Frühling, Freude und Jugend kreise, enthielt.
Bereits vom Beginn des ausgedehnten Largo gestaltete das Orchester die Symphonie mit fantastischer Innigkeit. Tugan Sokhiev führte das Orchester zu einer ruhigen Interpretation in die Gedankenwelt des Komponisten in geradezu schmerzhaft schöner Weise. Fein ziseliert wurden die Themen verarbeitet und von den Violinen aufgenommen. Grandios äußerten sich die Trompeten, stimmungsvoll das Englischhorn, da verlöschten sanft die Geigen, weinten die Celli, klagten die Hörner und vibrieren die Bässe fast tonlos. Man erlebte ein Zusammenspiel der Instrumentengruppen auf höchstem Niveau. Hauchdünn boten die Musiker die musikalische Fläche des ersten Satzes. Die Musik stand regelrecht auf der Stelle und die Spannung riss nie ab. Alles war spürbar, nichts überwältigt. Die Musik stand regelrecht auf der Stelle. Dazu kam ein geradezu traumhaftes die Flötensolo und kurz vor Schluss des ersten Satzes, der ergreifend pathetische h-Moll-Dialog zwischen Streicher und Blechbläsern. Mit dem Ende des Largo ließ Sokhiev all diese rhythmische Energie wirkungsvoll regelrecht ins Leere laufen.
Dem folgten der zweite und dritte Satz mit einem diametralen Kontrast. Forsch und fordernd eilte das Orchester durch Allegro und Presto, erlaubten aber dem Dirigenten, alle Klangfäden zu einem Ganzen zu verbinden. Mit dem brillant gespielten Marsch des dritten Satzes trieb Sokhiev Musiker und Zuhörer gleichsam vor sich her. Wie eine Herde Wildpferde galoppierten die Musiker in den Finalsatz, ohne in die Gefahr eines Chaos zu geraten. Die Münchner Philharmoniker ließen noch einmal ihre Palette an Klangfarben erstrahlen. Der von der Tuba tief grundierte Posaunenchor am Ende des Finalsatzes führte zum Verklingen der Symphonie: ein Aushauchen im wahrsten Sinne des Wortes. Das merkwürdige Nicht-Verhältnis zwischen dem ersten und letzten Satz der Symphonie, der Perspektivwechsel innerhalb des Werkes und der eigentlich offene Schluss bestimmten den Reiz der Interpretation von Sokhiev, bewegte sich aber auf dünnem Eis.
Offenbar wegen seines Dienstantritts als Wiener Operndirektor im Jahre 1897 hatte Gustav Mahler (1860-1911) erst fast drei Jahren nach Abschluss seiner „Dritten“ die Möglichkeit, den Plan einer vierten Symphonie in Angriff zu nehmen. Beim Mittdreißiger gab es in der Zwischenzeit durchaus Entwicklungen und Überlegungen, wie sich sein kompositorisches Schaffen gestalten könnte. Mit der Pause beendete Mahler seine Phase der spätromantischen Monumentalität. Seit 1892 lag im Manuskriptstapel Mahlers eine Vertonung des Bayrischen Volkslieds „Das himmlische Leben“ aus der Liedersammlung der Schwager-Freunde Achim von Arnim (1778-1831) und Clemens Brentano (1778-1842) „Des Knaben Wunderhorn“, das ursprünglich in eine symphonische Humoreske mit großzügigen vokalen Elementen in sechs Sätzen integriert werden sollte.
Letztlich entstand in den Sommer-Urlaubsaufenthalte der Jahre 1899 in Bad Aussee und 1900 in Maiernigg am Wörthersee eine G-Dur-Symphonie für bescheidener besetztes Orchester und Sopransolo, damit die letzte der „Wunderhorn-Symphonien“.
Im Konzert hörten wir Mahlers vierte Symphonie mit jenem Orchester, welches das Werk am 25. November 1901 mit dem Dirigat des Komponisten aufgeführt hatte. Schon im eröffnenden Allegro bestach das transparente Klangbild der Philharmoniker. Mahlers Überschreibung des ersten Satzes „Bedächtig, nicht eilen“ nahm Sokhiev ziemlich wörtlich. Dem Dirigenten gelang eine hervorragende Balance zwischen Naivität und bedrohlichen Untertönen. Mit seinem transparenten Klangbild wirkte die vermeintliche Idylle scheinbar gebrochen.
Im zweiten Satz mit seinen Tempowechseln zerstörte der Dirigent die Idylle und ließ den Tod durch die Solovioline mit scharfem Klang aufspielen. Die hämisch wirkenden Bläsereinwürfe führten zur Unruhe. Die Detailversessenheit des Dirigenten vermittelte dabei einen interessanten Einblick in die kompositorische Struktur des Mahler-Werkes.
Geruhsam gestaltete Sokhiev den dritten Satz, das Herzstück der Symphonie. Helle Klänge der Violinen und Holzbläser ließen zwar massive Spannungen am Beginn des dritten Satzes erwarten, aber der Dirigent löste den Spannungsbogen im Verlaufe des Adagios filigran auf. Er ließ sich Zeit für helle, lichte überschwängliche Visionen und erlaubte ein ruhevolles Zuhören.
Ziel und Höhepunkt der Interpretation war der „sehr behagliche“ vierte Satz. Ihn belastete nicht die orchestrale Schwere der meisten Mahler-Symphonien. Mit ausgewogener Klangfülle und schlank geführtem Sopran gestaltete Christiane Karg wunderbar einfühlsam die bäuerliche Beschreibung des Paradieses. Mit stilistischer Sicherheit traf sie den Ton der kindlichen Naivität, den Ausdruck kindlichen Staunens. Die Hypothese der ersten drei Sätze, dass die himmlischen Freuden vor allem ein Versprechen sind, konnte auch sie nicht auflösen. Die im Grundton fröhliche Symphonie hatte Tugan Sokhiev ohne zu scharfe Kontraste gestaltet. Über alle vier Sätze war ein markanter, aber kaum dramatisch gesetzter Bogen gespannt, der aber Details der Mahler-Komposition entdecken ließ, die oft im Interpretationstrubel untergehen.
Die Münchner Philharmoniker erwiesen sich als Meister einer Leichtigkeit, die für „Dresdner Ohren“ ein etwas direkteres, aber niveauvolles Klangbild entwickelten. Tugan Sokhiev war der Detailarbeiter am Pult, der nicht viel Aufhebens mit zuviel Gestik machte.
Das Programm passte einfach zu unserer Zeit: einfache Lösungen gibt es nicht! Stehende Ovationen der Besucher würdigten die Leistungen des Gastorchesters.