Die Entnazifizierung Richard Wagners - Udo Bermbach, IOCO Buchrezension, 01.11.2020
Die Entnazifizierung Richard Wagners - Udo Bermbach
Die Programmhefte der Bayreuther Festspiele 1951-1976
von Julian Führer
Udo Bermbach ist seit vielen Jahren ein sehr produktiver Forscher, der sich vielfach zum Werk Richard Wagners geäußert hat und in verschiedener Weise auch den Bayreuther Festspielen seit geraumer Zeit verbunden ist. Sein jüngstes Werk analysiert ein oft noch nicht hinreichend beachtetes Textgenre, nämlich die Programmhefte der Bayreuther Festspiele zwischen 1951, dem Jahr der Wiedereröffnung nach dem Zweiten Weltkrieg, und 1976, dem Jahr der Neuinszenierung des Ring des Nibelungen in der Regie von Patrice Chéreau.
Die Entnazifizierung Richard Wagners - Udo Bermbach J. B. Metzler Verlag, Berlin 2020. 300 S., ISBN 978-3-476-05118-9, €39,99
Dass es nach dem Zweiten Weltkrieg mit ‚Bayreuth‘ überhaupt weitergehen würde, war anfangs nicht klar. Die bisherige Leiterin, Winifred Wagner, war als Duzfreundin Adolf Hitlers untragbar geworden und übertrug die Leitung der Festspiele ihren Söhnen Wieland und Wolfgang (ebenfalls Duzfreunde Hitlers), die einen Neubeginn anstrebten. Dazu gehörte ab 1951 auch die Publikation von Programmheften zu den einzelnen gezeigten Produktionen, eine Neuerung gegenüber der Vorkriegszeit, als nur Festspielführer für die gesamte Saison publiziert wurden.
Das Verdienst des Buches Die Entnazifizierung Richard Wagners ist nun, die Programmhefte und die in ihnen enthaltenen Beiträge in den Kontext der Geschichte der Bayreuther Festspiele, aber auch in jenen der Geistesgeschichte der jungen Bundesrepublik Deutschland einzubetten. In Bayreuth herrschte wie auch anderswo nach 1945 in vielem Kontinuität. In den Bayreuther Programmheften schrieben mit Zdenko von Kraft, Otto Strobel, Hans Grunsky und Curt von Westernhagen Autoren, die bereits vor der kriegsbedingten Schließung bei den Festspielen tätig gewesen waren und sich politisch in unterschiedlich ausgeprägter Weise hervorgetan hatten. Curt von Westernhagen etwa hatte 1935 über Richard Wagners Kampf gegen seelische Fremdherrschaft publiziert, 1954 verteidigte er Wielands Inszenierungsstil, und bis 1976 sollte er weiter in den Programmheften Beiträge veröffentlichen.
Kontinuitäten und die Weiterentwicklung von Traditionen werden nuanciert dargestellt; das erste Kapitel ist weitgehend unverändert aus Bermbachs Buch Richard Wagner in Deutschland von 2011 übernommen. Die Lichtregiekonzeption Adolphe Appias, bereits um 1900 entwickelt und von Siegfried Wagner in den 1920er Jahren behutsam umgesetzt, beeinflusste Wieland Wagner bei der Umsetzung seiner ‚Entrümpelung‘. Dass die Figuren des Ring des Nibelungen auf der Bayreuther Bühne nun keine germanischen Recken mehr waren, sondern antiken Gottheiten angenähert wurden oder vor dem Hintergrund der Archetypenlehre C. G. Jungs interpretiert wurden, war auch keine Idee aus dem Nichts: Die Lektüre von Jung wurde in der Zeit des Nationalsozialismus (im Gegensatz zu der Sigmund Freuds) toleriert. Udo Bermbach deutet das Festhalten an alten Mitarbeitern der Festspiele so: Diese seien für den neuen Regiestil Wielands eingetreten - sonst hätten sie in Bayreuth nicht mehr publizieren können - und hätten so viele Anhänger des bisherigen Stils - um nicht zu sagen der bisherigen Ausrichtung der Festspiele - auf ihre Seite gezogen. Ein wenig sympathischer Charakterzug Wielands, der neu herausgearbeitet wird: Offensichtlich wurden bei verschiedenen und insbesondere bei belasteten Autoren Lobeshymnen auf die Inszenierungen des Festspielleiters bestellt.
Im etwas weiteren Kontext der Kultur der Bundesrepublik zeigt Bermbach, dass auch das Eintreten für abstrakte Kunst oder das Besuchen der Kasseler Documenta eine Möglichkeit für Belastete war, öffentlich einen Sinneswandel zu demonstrieren oder zu inszenieren. Im Laufe der 1950er Jahre begannen jedoch auch neue Autoren ihre Mitwirkung bei den Programmheften der Bayreuther Festspiele: Theodor W. Adorno 1957 Ernst Bloch 1960, Hans Mayer 1962. Dass zum Teil marxistische Autoren publizierten, wird als „Modernisierungsprogramm“ (S. 95) gewertet. Der klassische Philologe Wolfgang Schadewaldt verlieh Wielands antikisierenden Deutungen die literar- und ideengeschichtliche Legitimation. Philosophische und musikwissenschaftliche Abhandlungen fanden ihren Weg in die Programmhefte – auch wenn Udo Bermbach dem Publikum der Festspiele unterstellt, diesen Texten intellektuell nicht gewachsen gewesen zu sein. Erfrischenderweise attestiert er manchen Beiträgen aber auch und wohl nicht zu Unrecht, sie seien wirr geschrieben und würden hohes Niveau nur vortäuschen. Erstaunlich nur, dass Wieland und dann Wolfgang Wagner als Herausgeber der Programmhefte hier nicht intervenierten.
Den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind kurze Einleitungen, die auf etwa drei Seiten jeweils ein ganzes Jahrzehnt bundesrepublikanischer Geschichte präsentieren. Hier wird natürlich vieles stark vergröbert, doch sind diese Vorbemerkungen gleichwohl sehr nützlich. Sie zeigen, dass Bayreuth kein eigener Planet war, sondern das Geschehen auf und neben der Bayreuther Bühne auf die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik reagierte. Etwas überraschend ist hier allenfalls, dass wichtige Inszenierungen der frühen siebziger Jahre (Ulrich Melchinger in Kassel, Joachim Herz in Leipzig) bereits in den einleitenden Bemerkungen zu den sechziger Jahren thematisiert werden und damit unklar wird, dass sie ihrerseits Bayreuth beeinflusst haben.
Eindeutiger Ziel- und Fluchtpunkt des Buches ist der Ring des Nibelungen, wie ihn Patrice Chéreau (Regie) und Pierre Boulez (Dirigent) 1976 und in den Folgejahren präsentierten. Chéreau zeigte, durchaus im Einklang mit seiner Zeit, Wagner als revolutionären Kopf des 19. Jahrhunderts, beeinflusst von Bakunin und bereit zur Gewaltanwendung; in Die Kunst und die Revolution bei Wagner selbst nachzulesen. Diese Produktion wurde in einer gegenüber 1976 teilweise erheblich umgearbeiteten Version 1981 auch verfilmt und unzählige Male als „Jahrhundert-Ring“ bezeichnet. Bei der Lektüre wird deutlich, dass der Autor diesen Ring als einen Gipfel der Wagnerregie sieht, wobei er doch selbst in diesem Buch zeigt, dass auch diese Deutung ein Kind ihrer Zeit ist.
Dieses Buch ist sehr kundig geschrieben, argumentiert teilweise auf höchstem Niveau und wird aus gutem Grund seinen Platz in der Literatur zur Festspielgeschichte haben. Wünschenswert wäre allerdings, dass erst eine hoffentlich bald mögliche zweite Auflage zum Standardwerk avanciert: Bermbach sieht den Chéreau-Ring, den er selbst immer wieder in Übernahme der Wertungen anderer als „Jahrhundert-Ring“ tituliert, allzu sehr als Kulminationspunkt, als wäre die Geschichte der Bayreuther Festspiele ein teleologischer Prozess mit dieser Inszenierung als Ziel (besonders stark S. 95, 158, 170, 173, 180, 208, 253) – wie das Buch mit dieser Inszenierung eben auch abbricht. Dass für die Neuinszenierung von 1976 auch längere Zeit mit Regisseuren wie Ingmar Bergman und Peter Stein verhandelt wurde und Patrice Chéreau erst kurzfristig auf Empfehlung von Pierre Boulez zum Regisseur avancierte, ist Bermbach selbstverständlich bekannt, wird aber nur am Rande erwähnt. Andere Deutungen des Ring des Nibelungen (Kassel, Leipzig) hatten konzeptionell hier schon vieles gezeigt, was Chéreau in Bayreuth übernehmen sollte. Ebenfalls seltsam schwach beleuchtet wird Götz Friedrichs BayreutherTannhäuser von 1972, der viele Grabenkämpfe innerhalb des Publikums aufbrechen ließ, die 1976 nur noch vertieft wurden.
Auf der formalen Seite ist einiges lästig – die Kapitel sind nicht nummeriert, die Anmerkungen finden sich am Ende und nicht als Fußnoten unter dem Text, so dass für einen einfachen Nachweis immer wieder geblättert werden muss. Ein sachkundiges Lektorat hätte einige Versehen beseitigen können: Hans Knappertsbusch war nicht bald nach 1909 „zum ständigen Dirigenten“ in Bayreuth avanciert (S. 74) – dirigiert hat er dort zuerst 1951. Auf Seite 89 erfahren wir, dass Hans Mayer erstmals 1962 in den Bayreuther Programmheften publiziert habe, auf Seite 122 heißt es dann, er sei 1959 bereits seit Jahren in den Programmheften „voll präsent“ gewesen. Die Grünen waren vor 1983 ganz sicher nicht an der Hessischen Landesregierung beteiligt (so aber S. 179), der Pariser Tannhäuser-Skandal war 1861, nicht 1860 (so aber S. 181). Bei Eigennamen häufen sich dann die Versehen: Emil Preetorius wird durchgängig als „Pretorius“ bezeichnet, der Regisseur Ingmar Bergman als „Bergmann“ (S. 180 und 206), Robert Donington zu „Donnington“ verballhornt (die korrekte Schreibung auf S. 88 fehlt dann konsequenterweise im Namenregister…), und S. 210 und 239 machen wir dann Bekanntschaft mit einer gewissen „Bünnhilde“, was in einem Buch über den Ring des Nibelungen etwas peinlich ist. Dies alles liegt nicht an mangelnder Kompetenz des Autors; es ist die Aufgabe des Verlages, ein Buchmanuskript noch einmal durchzusehen und diese Dinge anzupassen.
Eine Vertiefung dieses neuen Forschungsfeldes ist für die Bayreuther Festspiele seit 1980 und für andere Opernhäuser und Theater sehr zu wünschen.
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