Bremen, Theater Bremen, Falstaff - Giuseppe Verdi, IOCO Kritik, 03.02.2022

Bremen, Theater Bremen, Falstaff - Giuseppe Verdi, IOCO Kritik, 03.02.2022
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Theater Bremen

Theater Bremen / Theater am Goetheplatz © Jörg Landsberg
Theater Bremen / Theater am Goetheplatz © Jörg Landsberg

Falstaff -  Giuseppe Verdi

....  und der Hoffnung, wieder ein Kind zu sein

von Thomas Birkhahn

Es ist eines der großen Wunder der Musikgeschichte, dass ein fast 80-jähriger Komponist, nachdem er fast ein halbes Jahrhundert lang mit tragischen Opern zu Weltruhm gelangt war, am Ende seines Lebens eine Komödie schreibt, die an kompositorischer Meisterschaft an seine vorigen Werke nicht nur heran reicht, sondern sie möglicherweise in den Schatten stellt.

Im Jahr 1889 entschloss sich der 76-jährige Giuseppe Verdi ein zweites Mal dazu, sein kompositorisches Rentnerdasein aufzugeben und eine weitere Oper zu komponieren. Nach Aida aus dem Jahr 1871 hatte Verdi sein Opernschaffen eigentlich als abgeschlossen betrachtet, bis ihn sein Freund Arrigo Boito – selbst als Librettist und Komponist tätig – davon überzeugte, mit Othello ein Comeback zu wagen. Mit diesem Shakespeare-Stoff feierte Verdi dann 1887  nach 16-jähriger Pause eine triumphale Rückkehr als Opernkomponist.

Theater Bremen / Falstaff hier Meike Hartmann als Alice, Johannes Schwärsky als Falstaff © Jörg Landsberg
Theater Bremen / Falstaff hier vorn Meike Hartmann als Alice, Johannes Schwärsky als Falstaff © Jörg Landsberg

Der ultimative Coup gelang Boito jedoch mit der Überredung Verdis zu einer weiteren Oper: Nicht nur war der Komponist bei der Uraufführung 1893 79 Jahre alt, sondern er schrieb mit Falstaff nach fünf Jahrzehnten zum ersten Mal wieder eine Komödie. Verdis bisher einzige Komödie, Un Giorno di Regno aus dem Jahr 1840, war ein kompletter Misserfolg gewesen, so dass Verdi danach gut zwei Dutzend Tragödien schuf, die ihm schon zu Lebzeiten Weltruhm einbrachten.

Verdis Falstaff könnte man - in Anlehnung an Richard Strauss' letzte Oper Capriccio – als Konversationsstück für Musik bezeichnen. Für die Gesangspartien hat Verdi einen lockeren Parlando-Stil vorgesehen. Arien mit eindeutigem Anfang und Ende sucht man bis auf zwei kurze Arien im dritten Akt vergeblich. Es gibt nurmehr ariose Elemente, die fast wie nebenbei in den lockeren Parlandotonfall der Sänger eingebunden sind, sie huschen quasi vorüber, ohne sich dem Zuhörer sofort einzuprägen. Weltberühmte Melodien wie aus Nabucco, Rigoletto oder Aida die beinahe den Charakter von Gassenhauern haben, sucht man im Falstaff vergeblich.  Das Orchester schwelgt selten in romantischer Üppigkeit, sondern ist schlank und durchsichtig instrumentiert, was die Textverständlichkeit erhöht.

Die Eindrücke der Bremer Neuinszenierung von Paul-Georg Dittrich sind so vielfältig, dass man zunächst einmal ordnen muss, was man zu sehen bekommt:

Die Bühnenbildnerinnen Pia Frederichs und Lena Schmid haben Dittrich eine Art Auditorium gebaut, in welchem die handelnden Personen Platz nehmen können, um auf das Geschehen, welches sich auf der freien Fläche davor abspielt, hinab zu blicken. Dieses Auditorium ersetzt sowohl die Taverne als auch das Haus der Fords und ist in allen drei Akten auf der Bühne präsent.

Theater Bremen / Falstaff hier Johannes Schwärsky als Falstaff, Pietro Picone als Bardolfo, Stephen Clark als Pistola © Jörg Landsberg
Theater Bremen / Falstaff hier Johannes Schwärsky als Falstaff, Pietro Picone als Bardolfo, Stephen Clark als Pistola © Jörg Landsberg

Aber nicht nur dort spielt die Handlung: Mitten in die Zuschauerränge ist eine schmale Extrabühne gebaut, die sich einmal quer durch den Zuschauerraum zieht und die überwiegend der Spielort für Falstaff ist. Damit nicht genug, gibt es außerdem noch zwei Kameramänner, die das Geschehen auf der Zusatzbühne filmen. Deren bewegte Bilder werden auf eine runde Leinwand projiziert  die oberhalb der Bühne angebracht ist und die durch ihre kreisrunde Form an einen Spiegel erinnert.

Wir haben es also mit drei Orten zu tun, an denen die Handlung stattfindet. Zusätzlich umschließt Bühne und Zuschauerraum ein in Leuchtlettern geschriebener Schriftzug (Foto links) mit einem Zitat aus Shakespeares Der Sturm: "WHAT IS PAST IS PROLOGUE". Frei übersetzt heißt das in etwa: Die Vergangenheit ist der Schlüssel für die Gegenwart. Für Dittrich ist es das Motto seiner Falstaff-Inszenierung.

Auch die Zahl der Mitwirkenden ist deutlich höher als erwartet: Im Auditorium auf der Bühne sitzen sämtliche Protagonisten – auch diejenigen, die erst in späteren Szenen auftauchen. Sie wurden von Andy Besuch mit weißen Perücken ausgestattet und in lange Roben gekleidet. Man wird dadurch an englische Juristen erinnert, die bis heute noch Perücken im Gerichtssaal tragen. Zusätzlich sind immer wieder Kinder zu sehen, die sich ebenfalls ins Auditorium setzen oder auf die Bühne gehen. Greifen die Personen in die Handlung ein, legen sie Perücke und Robe ab und verlassen das Auditorium.

Die vielen gleichzeitigen Eindrücke sorgen beim Zuschauer zunächst für Verwirrung, um nicht zu sagen: Reizüberflutung. Man weiß gar nicht, wo man hingucken soll und wer die vielen Personen eigentlich sind.

Theater Bremen / Falstaff © Jörg Landsberg
Theater Bremen / Falstaff "What is past ... " © Jörg Landsberg

Doch im Laufe des Stückes wird immer deutlicher, worum es dieser Regie geht: Jeder der Protagonisten befindet sich in ständigem Zwiespalt zwischen der Person, die er sein m ö c h t e – repräsentiert durch ein Kind -  und der Person, die er sein m u s s - repräsentiert durch einen „Richter“. Das Kind symbolisiert für Dittrich die natürliche, noch unverfälschte Persönlichkeit, während der „Richter“ das Unterordnen unter Normen und Gesetze symbolisiert. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich die Figuren. Mit Ausnahme von Falstaff, der konsequenterweise keinen „Richter“ hat, da er seine kindlichen Wünsche voll auslebt, was ihn zum Außenseiter der Gesellschaft macht. Dieses Außenseitertum wird visuell noch verstärkt durch die Tatsache, dass sich Falstaff überwiegend auf der Extrabühne aufhält und dadurch auch räumlich getrennt ist vom Rest der Gesellschaft. Auch ist Falstaffs „Kind“ viel stärker präsent als die „Kinder“ der Windsor-Gesellschaft. Wir sehen es schon vor Beginn der Oper auf der Extrabühne sitzen und mit Lego spielen. Dittrichs Aussage ist sehr klar: Durch die Abwesenheit eines „Richters“ kann Falstaff seine kindliche Seite voll ausleben.

Die Extrabühne bewirkt zudem eine besondere Nähe zum Publikum. Ein starker Moment dieser Inszenierung ist Falstaffs „Ehre“-Monolog („Was ist Ehre? Füllt sie etwa den Magen?“), den Johannes Schwärsky als Falstaff nicht nur großartig gestaltet, sondern direkt ins Publikum bzw. in die Kamera singt. So blickt der Zuschauer auf  die Leinwand und meint, sich im Spiegel selbst zu sehen.

Bei Dittrich hat Falstaff nichts Täppisches oder Tölpelhaftes an sich. Er ist zwei Akte lang ein vitaler Lebemann, der dazu gehören möchte. Seine Verführung von Meg und Alice ist kein bloßer Trick um an deren Geld zu kommen, sondern der aufrichtige Wunsch, in die Windsor-Gesellschaft aufgenommen zu werden. Konsequenterweise schenkt Falstaff in dieser Regie dem Geld vom als Fontana verkleideten Ford dann auch wenig Beachtung.

Falstaff darf dann im zweiten Akt auf die Hauptbühne – also mitten hinein in die Windsor-Gesellschaft, wo er Alice seine – nach Dittrichs Deutung - aufrichtige Liebe gesteht, aber es nützt nichts. Er ist für diese Gesellschaft nicht geschaffen. Er muss sich  nicht im Wäschekorb verstecken, sondern nur eine seidene Schleife vors Gesicht halten. Die anderen sehen ihn nicht, weil sie ihn nicht sehen wollen. Die Landung in der Themse bzw. in einem Wasserbad auf der Bühne ist dann schließlich die ultimative Demütigung. Sein Plan, dazu zu gehören ist gescheitert.

Umso größer ist seine Gebrochenheit  im dritten Akt, und jetzt wird es kompliziert: Der echte Falstaff sitzt den ganzen Akt über teilnahmslos am Bühnenrand und schaut dem Geschehen nur zu. Stattdessen hält sein „Kind“ eine kindergroße Puppe, die aber sein erwachsenes Aussehen hat, umschlungen. Alle Grausamkeiten, alle Anklagen der Windsor-Gesellschaft werden an die Puppe gerichtet. Er ist den Erwachsenen so schutzlos ausgeliefert wie ein Kind.

Nur einmal noch greift der erwachsene Falstaff ins Geschehen ein, und zwar wenn er die vielleicht zentrale Botschaft des Stückes an die Windsor-Gesellschaft und ans Publikum richtet:

  • Und dieses Häuflein hier Von mittelmäss'ger Menschheit Verhöhnt mich, dünkt sich weise! Bedenkt doch: Ohne mich, Was hättet Ihr begonnen? Ich tat erst etwas Salz, In Eure Fastenspeise! Ich war's, der Euch erheitert! Hat doch mein Witz Euch erst Den Horizont erweitert!

Für Dittrich ist das die zentrale Botschaft des Stückes: Jede Gesellschaft braucht ihre Narren und Außenseiter, die ihr den Spiegel vorhalten.

Theater Bremen / Falstaff hier Meike Hartmann als Alice, Marysol Schalit als Nanetta, Mariana Pentcheva als Mrs Quickly, Nathalie Mittelbach als Meg © Jörg Landsberg
Theater Bremen / Falstaff hier vl Meike Hartmann als Alice, Marysol Schalit als Nanetta, Mariana Pentcheva als Mrs Quickly, Nathalie Mittelbach als Meg © Jörg Landsberg

Man könnte das  alte Berti Vogts-Motto „Der Star ist die Mannschaft“ auf Falstaff übertragen und sagen: „Der Star ist das Ensemble.“ Es gibt keine einzelne Rolle, die durch besonders berühmte Arien hervortritt. Hier geht es um das Zusammenspiel aller Sänger. Und dieses Sänger-Ensemble ist an diesem Abend einfach großartig! Stimmlich und darstellerisch bleiben keine Wünsche offen. Die rasend schnellen Dialoge sowie die schweren Ensembleabschnitte werden durchweg bravourös gemeistert. Allen voran Johannes Schwärsky in der Titelpartie, der seinen Part nicht nur stimmlich absolut souverän beherrscht, sondern auch durch sein intensives Spiel den Zuschauer zum Mitfühlen und Mitleiden bewegt.

Den beiden Damen Alice (Meike Hartmann) und Meg (Nathalie Mittelbach) nimmt man sowohl ihre Ausgeflipptheit als auch in ihrer Grausamkeit Falstaff gegenüber jederzeit ab. Mariana Pentcheva als Mrs. Quickly ist eine überzeugende Strippenzieherin, bei der man nie ganz genau weiß, warum sie das alles macht. Bardolfo (Pietro Picone) und Pistola (Stephen Clark) sind wunderbar verdorbene Gauner, genauso wie Dr. Caius (Christian-Andreas Engelhardt) ein wunderbar pedantischer Langweiler ist. Fenton (Hyojong Kim) und Nanetta (Marysol Schalit) interessieren sich in ihrer Verliebtheit nicht für den Trubel der Welt. Sie sind ganz mit sich selbst beschäftigt.  Besonders Kims strahlender Tenor macht die beinahe einzige Arie des gesamten Abends zu einem besonderen Genuss.

Heraus ragt bei dieser Premiere jedoch Elias Gyungseok Han als Ford. Sein Zusammenbruch im zweiten Akt, als er von der vermeintlichen Untreue seiner Frau erfährt, ist mit erschütternder Eindringlichkeit gespielt. Gleichzeitig verleiht er seiner Stimme hier die nötige Härte und wir erleben ganz großes Musiktheater.

Doch die letzte Erwähnung soll an diesem Abend den bestens aufgelegten Bremer Philharmonikern und ihrem Chef Marco Letonja gehören: die Durchhörbarkeit im Orchesterklang, die Präzision in den schnellen Läufen, die schnellen Stimmungsumschwünge, das sehr aufmerksame Zusammenspiel mit den Sängern – das alles wurde von Letonja und seinen Musikern bravourös gemeistert!

Regisseur Paul-Georg Dittrich gelingt  eine szenisch spannende Deutung, die auf jeden Klamauk verzichtet, zum Nachdenken anregt und so facettenreich ist, dass man direkt Lust bekommt, die Vorstellung ein zweites Mal zu besuchen.

Falstaff im Theater Bremen; die weiteren Termine: 4.2.; 11.2.; 20.2.; 26.2.; 2.3.; 5.3.; 10.3.; 20.3.2022, link HIER!

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