Bremen, Theater Bremen, ARIADNE AUF NAXOS - Richard Strauss, IOCO Kritik, 23.02.2023
ARIADNE AUF NAXOS - Richard Strauss
- Nadine Lehner ist der Komponist, der mitansehen muss, wie sein Werk zur Zerstreuung reicher Herrschaften auseinander gerissen wird -
von Thomas Birkhahn
Wem gehört ein Kunstwerk? Inwieweit ist es noch Eigentum des Künstlers, sobald er es in die Welt entlassen hat? Kann der Auftraggeber – der ja im weiteren Sinne der Käufer ist – frei darüber verfügen? Und wie viel Mitspracherecht hat ein Komponist diesem gegenüber noch?
Diese spannenden Fragen sind Thema des Vorspiels der Oper Ariadne auf Naxos von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal. Vorspiel ist hier nicht im Sinne von Ouvertüre zu verstehen, sondern eine Art Vorgeschichte, bevor die eigentliche Oper Ariadne auf Naxos beginnt.
Regisseur Frank Hilbrich erzählt in seiner Neuinszenierung am Theater Bremen das Vorspiel aus der Sicht des Komponisten: Es ist eine Art Alptraum, den der Komponist im Hause des „reichsten Mannes von Wien“ erlebt. Hier soll seine neue tragische Oper Ariadne auf Naxos uraufgeführt werden. Doch mitten in die Vorbereitungen platzt der Haushofmeister mit der für den anwesenden Komponisten bestürzenden Nachricht, dass sein „Gnädiger Herr“ ebenfalls eine Komödie zu sehen wünscht, und schlimmer noch, die Tragödie und die Komödie gleichzeitig aufgeführt werden sollen, da für „Punkt Neun Uhr“ ein großes Feuerwerk geplant ist, das sich auf keinen Fall verspäten darf. Kunst hat hier also den Stellenwert von reiner Unterhaltung, über die der Auftraggeber frei verfügen kann.
Die Ankündigungen des Haushofmeisters sind in dieser Inszenierung besonders furchteinflößend, denn Hilbrich lässt gleich zwei riesenhafte Haushofmeister auftreten, deren meist unisono vorgetragenen Anordnungen für zusätzliche Einschüchterung sorgen.
Der Komponist ist von Strauss als Hosenrolle angelegt – eine Frau spielt und singt also die Rolle eines jungen Mannes. Damit setzt Strauss eine Tradition des 18. Jahrhunderts fort, die er schon im Rosenkavalier mit der Rolle des Oktavian wieder aufgegriffen hatte.
Nadine Lehner nimmt man das Entsetzen des Komponisten, der mitansehen muss, wie sein Werk zum Zwecke der Zerstreuung reicher Herrschaften auseinander gerissen wird, in jeder Situation ab. Ihre ausdrucksstarke Stimme und ihr hochemotionales Spiel gipfeln gegen Ende des Vorspiels in einem Zusammenbruch, der einer der stärksten Momente dieser Inszenierung ist.
Ist die Bühne zu Beginn bis auf einen Konzertlügel, an dem der Komponist sein neues Werk nochmal durchgeht, nahezu leer, füllt sie sich im Laufe des Vorspiels mit immer mehr Flügeln. Aus dem Inneren dieser Instrumente entsteigen dann die Protagonisten der eigentlichen Oper. Das ist durchaus plausibel, denn sie entspringen ja allesamt der Fantasie des Komponisten und somit ist ihr „Geburtstort“ im weiteren Sinne der Flügel .
Als der Komponist schließlich auch noch von den Verführungskünsten der Zerbinetta abgelenkt wird, ist es endgültig um sein Werk geschehen: Er muss mit ansehen, wie der Tanzmeister – auf den er eigentlich verächtlich herabblickt - einige Seiten aus seiner Partitur heraus reißt. Auch dies ist ein starkes Bild dieser Inszenierung, das dem Zuschauer lange im Gedächtnis haften bleibt..
Regisseur Hilbrich nimmt den Komponisten, der sein Werk doch „lieber ins Feuer“ werfen möchte als Kompromisse zu akzeptieren, beim Wort und lässt ihn am Ende des Vorspiels seine Partitur verbrennen und die komplette Bühne samt aller Flügel gleich mit.
Musikalisch ist Richard Strauss mit dem Vorspiel ein genialer Wurf gelungen. Komplette Arien sucht man hier vergeblich, alles ist in einem lockeren Parlando-Stil gehalten, also einer Mischung aus Rezitativ und Arioso. und wir können hier Strauss' großartige Fähigkeit bewundern, alle wichtigen Motive aus der nach der Pause stattfindenden Oper schon fast wie nebenbei einzuflechten. Sie schwirren den Protagonisten ständig im Kopf herum während die Handlung von den alltäglichen Reibereien des Theaterbetriebs erzählt: Eifersüchteleien, Rivalitäten, zickige Hauptdarstellerinnen und arrogante Hauptdarsteller – der Zuschauer bekommt durch das engagierte und heitere Spiel des Ensembles des Theater Bremen einen amüsanten Einblick in das Innenleben eines Theaters.
Dieses Vorspiel ist eine starke Regie-Leistung. Es stellt den Komponisten mit seiner alptraumhaften Fantasie in den Mittelpunkt und bietet trotz dessen schwermütiger Gedanken genügend komödiantische Momente, die Strauss' und Hofmannsthals Intentionen entsprechen.
Die eigentliche Oper beginnt bei Hilbrich damit, dass die Primadonna aus der Asche des abgebrannten Raumes verkohlte Notenblätter heraussucht, um eine Aufführung von Ariadne auf Naxos durchführbar zu machen. Und hier wird es für den Zuschauer schwierig, denn die Protagonisten und der Ort der Handlung bleiben gleich: Wir sind immer noch im Hause des reichten Mannes von Wien und schreiten gemeinsam mit den Protagonisten durch verschiedene Zimmer.
Und auch die Protagonisten sind dieselben geblieben: Wir sehen keine Ariadne und keine Tanztruppe, stattdessen wird die Oper von den Figuren des Vorspiels gespielt. Der Musiklehrer tritt als Musiklehrer auf und singt jetzt die Rolle des Harlekin, der Tenor trinkt zwar Wein und setzt sich einen Lorbeerkranz auf, aber er ist immer noch der Tenor des Vorspiels. Und die Primadonna nimmt ihre Perücke, die sie zur Ariadne macht, ab und ist wieder die Primadonna.
Oder doch nicht? Es bleibt ein wenig unklar, was hier Hilbrichs Intentionen sind. Jedenfalls wissen wir nicht mehr, wen wir jetzt eigentlich vor uns haben. Ist es wirklich die Primadonna (Sarah-Jane Brandon) oder doch die Ariadne? Oder immer noch nur ein Phantasiekonstrukt des Komponisten? Geht sein Alptraum weiter? Oder ist er in den Flammen umgekommen, weil er – wie er im Vorspiel äußert – nicht mehr weiß, wozu er in der Welt leben soll?
Wenn allerdings immer noch alles in der Vorstellung des Komponisten spielt, dann müssten wir die „wirkliche“ Oper Ariadne auf Naxos mit ihren Protagonisten sehen, so wie er sie sich erdacht hat. Ist es jedoch nicht mehr seine Phantasie, sondern die (Theater-)Wirklichkeit, würden wir nicht verkohlte Notenblätter und einen abgebrannten Flügel sehen, denn der Brand existiert ja nur im Kopf des Komponisten.
Auch die spannende Gegenüberstellung von zwei Lebensentwürfen, die Strauss und Hofmannsthal in den Figuren der Ariadne und der Zerbinetta angelegt haben, von denen die eine nur an eine große Liebe glaubt und die andere sich ständig neu verliebt, geht so etwas unter. Es sind hier immer noch eine Primadonna und eine Ballett-Tänzerin.
Es ist also kompliziert, und es erschwert dem Zuschauer die Identifikation mit den Figuren. Zum Beispiel wird das Mitfühlen mit der todunglücklichen Ariadne, für die Strauss Musik von beinahe überirdischer Schönheit geschrieben hat, dadurch erschwert, dass wir nicht genau wissen, ob wir es hier mit Ariadne oder mit der Primadonna zu tun haben. Sarah-Jane Brandon verkörpert die Verletzlichkeit und Einsamkeit der Ariadne-Primadonna sehr einfühlsam. Ihr lyrischer Gesang in der großen Arie („Es gibt ein Reich“) geht unter die Haut.
Diese Ariadne lebt in der Vergangenheit und trauert ihrem Geliebten Theseus nach. Sie rettet aus der Asche den Pullover des Komponisten und macht daraus ein Fadenknäuel. Es war der sogenannte Ariadnefaden, mit dem Ariadne ihrem Liebhaber Theseus die Rückkehr aus dem Labyrinth des Minotaurus ermöglichte. Theseus hat sie jetzt auf Naxos zurück gelassen hat und Hilbrich zeigt uns deutlich, dass sie von ihm nicht loslassen kann.
Auch die Funktion der Flügel ist etwas rätselhaft, denn sie sind auch in der Oper weiterhin von Bedeutung. Trotz des Brandes im Vorspiel ist nur einer von ihnen verbrannt, die anderen sehen wir in verschiedenen Anordnungen wieder, bis sie schließlich am Ende übereinander getürmt die „wüste Insel“ Naxos ergeben, auf der Ariadne-Primadonna und Bacchus-Tenor zusammen finden.
Gleichzeitig sitzen jetzt alle anderen Protagonisten an je einem Flügel und spielen die Musik der Ariadne auf Naxos, genau so, wie es der Komponist im Vorspiel getan hat. Lebt der Komponist also in seinen Figuren weiter? Macht er sich dadurch unsterblich? Es bleibt eine Vermutung.
Musikalisch lässt der Abend kaum Wünsche offen. Das Sänger-Ensemble agiert auf hohem Niveau und zeigt keinerlei Schwächen. Neben den schon erwähnten herausragenden Hauptdarstellerinnen ist Elias Gyungseok Han ein fürsorglicher Musiklehrer, der sich mit lyrischer Stimme um seinen Protegé kümmert. Christian-Andreas Engelhardt ist ein herrlich arroganter Tenor und ein jugendlicher, fast schon kindlicher Bacchus. Die drei Nymphen Constanze Jader, Elisa Birkenheier und Maria Martin González singen mit großer Geschlossenheit und die Tanztruppe versprüht viel ausgelassene Lebensfreude. Nerita Pokvytyte ist eine unbekümmerte und lebensfrohe Zerbinetta, die ihre ungemein virtuose Arie („Großmächtige Prinzessin“) bravourös meistert.
Natürlich sollen auch die bestens aufgelegten Bremer Philharmoniker und Dirigent Stefan Klingele erwähnt werden, der die Sänger im rhythmisch sehr schwierigen Vorspiel sicher führt und in der Oper diese zauberhafte und ganz und gar einzigartige Musik mit schwelgerischem Schwung zum Leben erweckt.
Abschließend möchte ich aber noch darauf hinweisen, dass das Auftreten der Figuren aus dem Vorspiel in der Oper ein sehr gravierender Eingriff in das Werk ist, dessen Notwendigkeit sich mir nicht erschließt. Der Musiklehrer ist nicht identisch mit dem Harlekin und eine „Zusammenlegung“ dieser beiden Figuren – was ja einer Streichung der Figur des Harlekin gleichkommt – entspricht in keinster Weise den Intentionen von Strauss und Hofmannsthal. Nachdem man schon im Rosenkavalier Rollen zusammen gelegt bzw. ganz neu erfunden hat, wäre zu wünschen, dass das Bremer Theater seinem Publikum in Zukunft wieder werkgetreuere Produktionen präsentiert.