Bremen, Die Glocke, Bremer Philharmoniker - 7. Philharmonisches Konzert, IOCO Kritik, 11.03.2021
Bremer Philharmoniker - 7. Philharmonisches Konzert
Mel Bonis - Robert Schumann - Ludwig van Beethoven
von Thomas Birkhahn
In der Nacht vom 17. auf den 18. Februar 1854 ging Robert Schumann mehrmals in sein Arbeitszimmer, um ein Thema zu notieren, das ihm laut eigener Aussage die Geister Schuberts und Mendelssohns übermittelt hatten. Dieses später unter dem Titel "Geistervariationen" bekannt gewordene Werk sollte seine allerletzte Komposition werden, denn zehn Tage später beging der psychisch kranke, von inneren Stimmen und Visionen geplagte Komponist einen Selbstmordversuch und verbrachte die letzten zwei Jahre seines Lebens in einer Nervenheilanstalt. Es ist Ausdruck des geistigen Verfalls Schumanns, dass er das angeblich neue Thema der "Geistervariationen" schon in sehr ähnlicher Gestalt ein knappes halbes Jahr zuvor in seinem Violinkonzert benutzt hatte. Der schwer kranke Komponist erkannte also seine eigene Musik nicht mehr wieder.
Bis heute herrscht Uneinigkeit darüber, ob jenes Violinkonzert aus dem Herbst 1853 auch schon vom geistigen Niedergang des Komponisten Zeugnis ablegt oder ob es ein Meisterwerk ist, welches zu Unrecht noch immer ein Nischendasein im Konzertsaal fristet.
Schumanns Witwe Clara war ersterer Meinung und verhinderte - unterstützt von Johannes Brahms und Widmungsträger Joseph Joachim - erfolgreich eine Aufführung bis zu ihrem Tod 1896. Nach Joachims Tod 1907 landete das Manuskript in der Preußischen Nationalbibliothek, wo es Mitte der 1930er Jahre von der Geigerin Jelly d'Aranyi - einer Großnichte Joachims - wieder „ausgegraben“ wurde.
Vorangetrieben wurde die Uraufführung von den 1933 an die Macht gekommenen Nationalsozialisten. Da Musik des Juden Mendelssohn nun verboten war, bot sich das Schumann-Konzert quasi als Ersatz für Mendelssohns sehr populäres Violinkonzert an. Schließlich wurde es 1937 - 81 Jahre nach Schumanns Tod - vom Geiger Georg Kulenkampff und den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Karl Böhm in Berlin im Rahmen einer Propaganda-Veranstaltung der Nationalsozialisten, bei der unter anderem Joseph Goebbels eine Rede hielt, aus der Taufe gehoben.
Ist es nun das Werk eines Genies im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte oder nur ein müder Abgesang jenes Komponisten, der den Beginn der musikalischen Romantik mit seinen tollkühnen Klavierschöpfungen maßgeblich geprägt hat?
Diese Frage muss jeder Zuhörer für sich selbst beantworten, aber wenn man den Geiger Frank-Peter Zimmermann im 7. Philharmonischen Konzert am 8. März in der Bremer Glocke diese Konzert spielen hört, dann kann man gar nicht anders als von dieser Musik berührt zu werden.
Zimmermann scheint es während der langen Orchesterleinleitung gar nicht abwarten zu können, bis er ins musikalische Geschehen eingreifen darf. Wenn er dann schließlich die ersten Akkorde anstimmt, ist er sofort präsent und verleiht dem Werk seine ganz persönliche Note.
Man spürt in jedem Takt, wie sehr Zimmermann diese Musik am Herzen liegt. Er ist ein großartiger Gestalter, der jede Geste dieser Musik lebendig macht, das Vorwärtsdrängende ebenso wie das Verzagte oder Fragende. Das überirdisch schöne Seitenthema spielt er zart und innig, ohne dabei ins Sentimentale abzudriften.
Schumann hat dem Orchester über weite Strecken eine Begleitfunktion zugewiesen. Es darf zwar die Themen des Werkes vorstellen, klingt dann aber stellenweise seltsam ermattet. Ein echter Dialog zwischen Solist und Orchester kommt selten zustande. Möglicherweise war das ein Beweggrund für Clara Schumanns Ablehnung dem Werk gegenüber. Trotzdem spürt man Zimmermanns Verbundenheit mit dem Orchester. Er sieht es auch in diesem Werk als gleichwertigen Partner an. In den wenigen Stellen, in denen die Holzbläser solistisch hervortreten kommt es zu sehr einfühlsamer Kommunikation mit dem Solisten.
Den stärksten Eindruck macht Zimmermann an diesem Abend im langsamen Satz. Er stimmt einen großen Gesang an, sein farbenreiches Spiel macht jede Nuance dieser Musik hörbar. Er lässt die Musik gemeinsam mit dem kurzfristig für die erkrankte Jessica Cottis eingesprungenen Dirigenten Gabriel Feltz wunderbar dahinfließen. Dabei wird er sehr dezent von den Bremer Philharmonikern unterstützt. Hier hätte man sich ein etwas aktivere Orchesterbegleitung gewünscht.
Das Finale ist eine Polonaise, die Zimmermann und Feltz erkennbar zügig angehen. Man hat diesen Satz schon deutlich langsamer gehört, aber hier klingt die Musik erfrischend tänzerisch. Es ist ein großartiger Moment, als die Celli mitten in die Heiterkeit hinein plötzlich wieder die Musik des langsamen Satzes anstimmen, so als wollten sie zur Nachdenklichkeit des Adagios zurückkehren. Ihr Wunsch wird jedoch vom Rest des Orchesters abgelehnt, so dass das Werk in heiterer Stimmung endet.
Zimmermann bedankt sich für den begeisterten Applaus mit einem Adagio des – in seinen Worten - „großen Johann Sebastian.“
Eröffnet wird der Abend jedoch mit einer Rarität. Die „Suite en forme de valses“ der französischen Komponistin Mel Bonis (1858 - 1937)) steht auf dem Programm. Es sind tänzerische Miniaturen, die Bonis Ende des 19. Jahrhunderts in einer Klavier- und einer Orchesterfassung veröffentlicht hat. Feltz betont die federnde Leichtigkeit und Eleganz dieser Musik. Diese wunderbar durchsichtig instrumentierten Stücke sind Unterhaltungsmusik im besten Sinne, und sie klingen in den Händen der Bremer Philharmoniker mal elegisch, mal nachdenklich und dann aber wieder heiter gelöst. So hätte möglicherweise Johann Strauss geklungen, wenn er Franzose gewesen wäre.
Man könnte Ludwig van Beethovens 6. Symphonie, die Pastorale, als Symphonie der Wiederholungen bezeichnen. Die Themen und Motive kehren oftmals in gleicher Gestalt wieder, sie werden weniger symphonisch weiter entwickelt als in anderen Werken Beethovens. Zusätzlich arbeitet Beethoven mit sehr kurzen Motiven, die er erstaunlich oft wiederholt. Schon gleich nach dem mottoartigen Beginn erklingt ein kurzes fünftöniges Motiv zehn Mal hintereinander ohne seine Gestalt zu verändern. Darüber hinaus setzt Beethoven auch harmonisch in diesem Werk auf Einfachheit und Wohlklang. Krawallige Aggressivität, wie wir sie etwa aus der Eroica kennen, sucht man hier – mit Ausnahme des kurzen Gewitters im vierten Satz - vergeblich.
Es ist also ein Werk, das von den Ausführenden ein hohes Maß an Gestaltungskraft verlangt, um nicht eintönig oder statisch auf den Zuhörer zu wirken. Und um es vorweg zu nehmen: Diese Sorge ist bei Gabriel Feltz unbegründet. Ihm gelingt eine wunderbar lebendige Wiedergabe, die das Werk in seiner ganzen Schönheit und klanglichen Vielfalt erklingen lassen.
In dieser Symphonie haben wir es mit zwei verschiedenen Arten von Musik zu tun: Der zweite Satz („Szene am Bach“) und der vierte Satz („Gewitter, Sturm“) sind Naturschilderungen und damit Programmmusik. Die anderen drei Sätze sind trotz ihrer außermusikalischen Bezeichnungen absolute Musik, da sie „nur“ die Gefühle, die das Landleben bei Menschen hervorruft, zum Thema haben.
Dieser Unterschied wird an diesem Abend so deutlich wie selten. Feltz nimmt den ersten Satz sehr zügig, es herrscht eine ansteckende Heiterkeit, wie man sie nicht oft in diesem Satz gehört hat, weil der Dirigent eben auch die Satzbezeichnung sehr wörtlich nimmt: Es geht um die „heiteren Gefühle“, die Beethoven ausdrücken möchte, nicht um das Landleben selbst.
Feltz kostet die ganze dynamische Bandbreite der Pastorale aus. Er lässt das Orchester mal herrlich aufblühen, mal hauchzart pianissimo spielen. Er dirigiert den großen Bogen dieser Musik, nimm sich aber auch Zeit für kleine Details, für die er das Tempo gelegentlich stark verlangsamt. Die vielen Motivwiederholungen wirken bei ihm nicht statisch, sondern haben immer eine klare Richtung.
Sehr eindrucksvoll gelingt auch die „Szene am Bach“. Die Streicher murmeln und rauschen im wiegenden 12/8-Takt, während die solistischen Holzbläser mit poetischer Zartheit das Naturbild vervollständigen. In der berühmten Coda, in der wir die Stimmen von Nachtigall, Wachtel und Kuckuck hören, nimmt sich der Klarinettist die Freiheit heraus, den Kuckucksruf rhythmisch so zu verändern, dass er noch echter wirkt. Ein eindrucksvoller Moment, der weniger nach Beethoven und mehr nach Natur klingt, den der Komponist aber sicherlich auch gutgeheißen hätte.
Nach einem weiteren eindrucksvollen Stück Programmmusik, in dem der Regen niederprasselt und Feltz es stürmen und donnern lässt, sind wir im 5. Satz wieder bei den „ländlichen“ Emotionen. Es ist Beethovens einziges symphonisches Finale, das nicht im Triumph sondern in gelöster Heiterkeit endet. Und Feltz entfacht bei seinen Musikern eine Spielfreude, welche die „frohen und dankbaren Gefühle“, die Beethoven vermitteln möchte, an diesem Abend so erlebbar macht wie selten.
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