Bremen, Die Glocke, Bremer Philharmoniker - 3. Philharmonisches Konzert, IOCO Kritik, 22.11.2021
Bremer Philharmoniker - 3. Philharmonisches Konzert
Benjamin Britten: Sinfonia da Requiem - Joseph Haydn: Cellokonzert C-Dur - Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 5 Es-Dur
von Thomas Birkhahn
Gäbe es eine Wahl für die bestgelaunten sieben Minuten der Musikgeschichte, dann wäre das Finale aus Joseph Haydns Cellokonzert in C-Dur wohl ganz vorne mit dabei. Diese Musik scheint sich vor überschäumender Lebensfreude in manchen Momenten beinahe zu überkugeln und ist teilweise so aufgekratzt, dass man als Zuhörer Mühe hat, die Füße still zu halten. Ein Rausschmeißer, wie er heiterer nicht sein könnte.
Cellist Julian Steckel – kurzfristig eingesprungen für die erkrankte Harriet Krigh – stürzt sich von Beginn an mit Feuereifer in diese vor Optimismus strotzende Musik. Die rasenden Läufe meistert er mit spielerischer Leichtigkeit, die technischen Schwierigkeiten scheinen für ihn gar nicht vorhanden zu sein, er gestaltet alles musikalisch und überzeugend.
Schon im ersten Satz dieses erst 1961 wieder entdeckten Cellokonzerts zieht Steckel mit seiner phänomenalen Technik und unbändigen Musizierlust die Zuhörer in seinen Bann. Auf seinem wunderbar warm klingenden Instrument phrasiert er sehr differenziert und spielt gelegentlich eigene Verzierungen, wie es für Solisten im 18. Jahrhundert durchaus üblich war.
Im langsamen Satz zeigt Steckel, dass er sein Cello auch wunderbar singen lassen kann. Er scheint zum Publikum zu sprechen, wenn er die langen Melodiebögen aussingt, bevor er – wie eingangs erwähnt - im Schlusssatz die Sau rauslässt, um es mal etwas kulturlos auszudrücken.
Die Bremer Philharmoniker – sicher geleitet von Dirigent Marco Comin – sind dabei mal zurückhaltende Begleiter, mal gleichwertige Musizierpartner.
Trotz der großen Spielfreude, des technischen Könnens und der stimmigen Darbietung habe ich mit gemischten Gefühlen den Ausführenden applaudiert. Und das hat folgenden Grund:
Stilistisch kann man die Wiedergabe der sogenannten „historisch informierten Aufführungspraxis“ zuordnen. Das heißt, dass sich auch Musiker mit modernen Instrumenten an der historischen Spielweise orientieren: für die Streicher bedeutet das – sehr vereinfacht ausgedrückt – einen sehr sparsamen Einsatz des Vibratos, ein schlankerer Klang und eine gelegentlich etwas weniger farbenreiche – man könnte auch sagen: neutralere – Sicht auf diese Musik. Zumindest ist das mein subjektives Empfinden.
Das hat, wie schon erwähnt, für den letzten Satz hervorragend gepasst. Ich finde jedoch, dass diese Spielweise zu der teilweise hochemotionalen – und damit schon beinahe romantisch zu nennenden - Musik dieses Konzerts aus der Frühklassik in den ersten beiden Sätzen nicht so recht passt. Im ersten Satz gibt es Gefühlsausbrüche im Cellopart, die man schon deutlich emotionaler gehört hat. Und auch im zweiten Satz hätte ich mir vor allem in den klagenden Moll-Abschnitten mehr persönlichen Ausdruck des Solisten gewünscht. Dies ist sehr subjektive Musik, die für mich nach subjektivem Ausdruck verlangt, auch wenn man im 18. Jahrhundert sicher anders – also objektiver - gespielt hat.
Wie dem auch sei, die Leistung der Musiker soll nicht geschmälert werden. Streit über die „richtige“ Spielweise der Musik des 18. Jahrhunderts füllt ohnehin ganze Bibliotheken.
Der Solist bedankte sich für den Applaus mit der Sarabande aus der G-Dur Suite von Johann Sebastian Bach zu Ehren des großen Cellisten Heinrich Schiff, der diese Woche seinen 70. Geburtstag gefeiert hätte.
Der Kontrast von Haydns Cellokonzert zum ersten Werk des Abends, Benjamin Brittens tiefernster Sinfonia da Requiem hätte nicht größer sein können.
Im Jahr 1939 bat die japanische Regierung sechs Nationen, eine Komposition zur 2600-Jahr-Feier des japanischen Königshauses in Auftrag zu geben. Während der deutsche Beitrag von Richard Strauss stammte („Japanische Festmusik“), wandte sich die britische Regierung an den damals 26-jährigen Benjamin Britten, der dafür dieses knapp 20-minütige Orchesterwerk schrieb. Die japanischen Auftraggeber lehnten das Werk dann allerdings aufgrund der Bezüge zur katholischen Messe und vermutlich auch aufgrund der gar nicht festlichen Grundstimmung ab, so dass die Uraufführung 1941 in New York unter Sir John Barbirolli stattfand.
Brittens Sinfonia da Requiem ist ein reines Instrumentalwerk ohne menschliche Stimmen in dem die drei Sätze Lacrymosa – Dies Irae – Requiem aeternam ohne Pause ineinander übergehen. Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs ist dem Werk vor allem in den beiden ersten Sätzen anzuhören. Es liegt ein düsterer Schleier über dieser Musik, der sich erst im Schlusssatz ein wenig lichtet.
Dirigent Marco Comin widmete diese Aufführung all denjenigen, die wie er selbst einen geliebten Menschen durch Corona verloren haben. Der Zuhörer wird sofort durch schicksalhafte Paukenschläge quasi in das Werk hineingestossen und dank Comins hochexpressivem Dirigat auch bis zum Schluss nicht daraus entlassen. Er lässt die Streicher klagen, die Bläser seufzen und das Blech aufschreien. Dieser trauermarschartige erste Satz, ist ein tönendes Denkmal gegen die Schrecken des Krieges und man merkt Comin seine Identifikation mit dieser Musik in jedem Takt an.
Es mag überraschen, dass das Dies Irae – also der Tag des Zorns, die musikalische Darstellung des Jüngsten Gerichts – zunächst scherzohafte Züge hat. Statt bombastischer Apokalypse, wie wir sie aus dem Verdi-Requiem kennen, kommt dieses Jüngste Gericht sehr durchsichtig und gleichzeitig rau instrumentiert daher und wie auch im ersten Satz erzählt ein Saxophon vom Leid der Welt. Das Orchester besticht hier durch großartige rhythmische Präzision. Das Scherzo kippt immer mehr ins Groteske, wir hören bis ins Fratzenhafte verzerrte Fanfaren, bis die Musik schließlich scheinbar kollabiert und der Weg frei ist für die Ewige Ruhe des letzten Satzes. Dieser erreicht die emotionale Dichte der ersten beiden Sätze nicht ganz, aber Brittens Botschaft ist eindeutig: Die ewige Ruhe wird kommen, auch eine Welt im Krieg wird daran nichts ändern. Es ist das versöhnliche Ende eines höchst originellen und sehr persönlichen Werkes und man darf darauf hoffen, dass diese großartige Musik in Zukunft öfter im Konzertsaal zu hören sein wird.
Wie groß Jean Sibelius' Popularität schon zu seinen Lebzeiten in Finnland war, lässt sich daran erkennen, dass sein 50. Geburtstag am 8. Dezember 1915 ein nationaler Feiertag war. Außerdem wurde er zu diesem Anlass von der finnischen Regierung beauftragt, eine neue Sinfonie zu schreiben. Diese 5. Sinfonie wurde auch tatsächlich an Sibelius' 50. Geburtstag unter seiner Leitung in Helsinki uraufgeführt. Die ursprünglich viersätzige Fassung wurde von ihm jedoch zweimal umgearbeitet, so dass in der vier Jahre später vollendeten Endfassung die ersten beiden Sätze zusammen gefasst sind und die Sinfonie in ihrer heutigen Form folglich dreisätzig ist.
Im ganzen ersten Satz dominieren kurze Bläsermotive und flirrende Streicherfiguren, als sei der Komponist auf der Suche nach melodischem Fluss. Der ist jedoch schnell wieder verschwunden und es ist, als würden die verschiedenen Instrumentengruppen sich ineinander verkeilen. Andauernd gerät die Musik ins Stocken, so als müsste Sibelius erstmal überlegen, wie es jetzt weiter geht. Es sind eher Zustände als Entwicklungen, die Sibelius auskomponiert hat. Comin gibt jedem Zustand seinen spezifischen Charakter. Er dirigiert die großangelegten Steigerungen mit der nötigen Weitsicht. In einem großartigen Moment scheint die Musik zeitweise ins Wanken zu geraten. Wenn das eine musikalische Naturschilderung sein soll, wie man bei Sibelius oftmals vermutet, dann hat diese Natur bei Comin nichts idyllisches an sich, und das macht diese Interpretation so spannend.
Idylle stellt sich dann eher im zweiten Satz ein, in dem die verschiedenen Streichergruppen einen wunderbaren Dialog führen, während die Bläser des Orchesters mit klangschönen Soli brillieren. Diese serenadenhafte Musik ist wie eine langsame Überleitung zum letzten Satz, in dem das Zusammenspiel der Streicher im hypernervösen Flirren des Beginns nicht immer gelingt.
Zum berühmten Schwanenthema des Schlusssatzes wurde Sibelius laut eigener Aussage durch ein Naturschauspiel inspiriert: „Heute sah ich 16 Schwäne. Einer der größten Augenblicke meines Lebens. Ach Gott, was für eine Schönheit: […] Das Mysterium der Natur; die Melancholie des Lebens!“
Und tatsächlich meinen wir die Schwäne vor unserem inneren Auge vorbei ziehen zu sehen, wenn die Blechbläser des Orchesters das Schwanenthema wunderbar majestätisch intonieren. Die Großartigkeit der Musik wird aber von Sibelius noch gesteigert, in dem er ein zweites Thema gleichzeitig mit dem Schwanenthema erklingen lässt. Die beiden Themen scheinen unabhängig von einander zu existieren und ergänzen sich dennoch perfekt.
Der begeisterte Applaus in der leider coronabedingt nur zur Hälfte besetzten Glocke galt einem beherzt aufspielenden Orchester und einem Dirigenten, den wir hoffentlich bald wieder in Bremen begrüßen dürfen
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