Bregenz, MADAMA BUTTERFLY: Zerrieben in einem patriachalischen und kolonialen Umfeld, IOCO Essay

MADAMA BUTTERFLY Bregenz: Essay von Prof. Adelina Yefimenko: In der Inszenierung verkörpert Michael Levine durch Bühnen-minimalismus die Idee der schimmernden Schönheit des Landes und zeigte gleichzeitig innere Zerstörungen durch Kolonialismus und Patriarchat ....

Bregenz, MADAMA BUTTERFLY: Zerrieben in einem patriachalischen und kolonialen Umfeld, IOCO Essay
Bregenzer Festspiele / Madame Butterfly auf der Seebühne im Bodensee © Bregenzer Festspiele / Anja Köhler

Freier Diskurs zum Leben der „Madama Butterfly“ - Produktion auf der Seebühne in Bregenz

von Adelina Yefimenko

Verschiedene Inszenierungen Puccinis Madama Butterfly, beginnend mit der Zeit des Fin de siècle, haben den Inhalt dieses Werks aktualisiert und die Ungezwungenheit der Repertoireführerschaft von Madama Butterfly weltweit auf vielen Bühnen bewiesen. Die Geschichte der Geisha passt sich auf natürliche Weise an die aktuellen Probleme unserer Zeit an und veranlasst uns, den kolonialen Diskurs der Oper zu betrachten, der über Japan hinausgeht.

Die Festspiele am Bodensee (Österreich) genießen einen Sonderstatus und haben einen hohen Stellenwert, was vor dem Hintergrund der europäischen Opernproduktionen vor allem auf die fantastische Arbeit der Bühnenbildner zurückzuführen ist. Das überdimensionale, gigantische Bühnenbild auf der offenen, schwimmenden Seebühne ist immer wieder beeindruckend, aber die Inszenierung von Madama Butterfly von Andreas Homoki und dem Bühnenbildner Michael Levine hat ein besonderes Erlebnis in der Geschichte der Inszenierungen der Festspiele, aber auch in der Geschichte der Regie-Oper im Allgemeinen geschaffen. Es ist nicht übertrieben, diese Produktion als ein umfassendes Projekt zu bezeichnen, das

1.     das kulturelle Gedächtnis bewahrt,

2.     den Japanismus durch die Wiederherstellung der authentischen Schönheit der japanischen Kunst entschuldigt

3.     eine scharfe Sozialkritik am Kolonialismus übt.

Michael Levine, der Bühnenbildner von Madama Butterfly in Bregenz, wurde für sein Bühnenbild mit dem Titel "Bester Bühnenbildner des Jahres 2023" ausgezeichnet, wie im Ranking der renommierten deutschen Opernzeitschrift Opernwelt bekannt wurde. Kritiker nannten den Künstler zu Recht einen "Architekten der mentalen Landschaften". Sein 300 Tonnen schweres, 33 Meter breites und 23 Meter hohes Bühnenbild bestand aus einem skurrilen japanischen Minimalismus. Der Bühnenbildner hat zusammen mit dem Regisseur, dem Lichtdesigner (Franck Evin), dem Kostümbildner (Antony McDonald), dem Videodesigner (Luke Halls), Choreografin (Lucy Burge) und Dirigentin (Yi-Chen Lin) einen unvergesslichen Assoziationsraum für die Kammeraufführung geschaffen, in dem die Neigung zu monumentaler Visualität die Ausdruckskraft von Puccinis europäischem Japanismus erfolgreich ergänzt. Dazu gehören die Einbeziehung originaler japanischer Volksmotive, Pentatonik, charakteristische Gong- und Glockenspiel-instrumente usw. Puccini vertrat die europäische Exotik auf drei Ebenen: in der Verwendung von Originalmelodien, der Instrumentierung und in speziellen Anweisungen für die Bühnengestaltung der Aufführung.

MADAMA BUTTERFLY - Bregenz Festival youtube CMajorentertainment

In der aktuellen Inszenierung erreichte Michael Levine durch den Bühnen-minimalismus ein doppeltes Ziel. Er verkörperte die Idee der schimmernden Schönheit des Landes und zeigte gleichzeitig dessen innere Zerstörung durch den Kolonialismus. Die Konzentration auf Farb- und Lichtwechsel zielt auf Assoziationen der Vergänglichkeit: Die riesige Szene gleicht einem zerknitterten Papyrus oder einem Stück leichter japanischer Seide, das vom Wind zum Himmel geweht wird und über den Wellen des Bodensees erstarrt. Den Eindruck von Leichtigkeit, Zerbrechlichkeit und Schwerelosigkeit im Großformat mit einem 300 Tonnen schweren Bühnenaufbau zu erzeugen, ist nicht nur ein Wunder, sondern auch eine enorme Leistung der Bühnenmannschaft und des Bühnenbildners.

Die Inszenierung ist meditativ, langsam, beginnt wie aus dem Nichts, mit einem weißen Blatt Papier, auf dem die Umrisse von Berglandschaften, Bäumen und Hieroglyphen kaum sichtbar sind. Wie aus den Tiefen des historischen Gedächtnisses der alten japanischen Kultur erwachen vor dem Hintergrund dünner Tuschezeichnungen weiße Schatten von Ahnen zum Leben, die das alte Japan personifizieren. Sie begleiten den tragischen Weg einer verlorenen Seele. Die japanischen Greisesten, nicht die Geisha - sind es, die über das jeden Schicksal entscheiden: Ihre auf Papyrus zum Leben erweckten Seelen überreichen rituell den Dolch, damit Butterfly das Harakiri-Ritual durchführen kann. Das Respekt des Regisseurs vor den japanischen Traditionen ist offensichtlich: Mit dem Verlust der Hoffnung auf ein Leben in Würde müssen die Japaner auch in Würde sterben. Das statische Bühnenbild rahmt diese wichtige, emotional begründete Idee der Regisseure nur ein. Butterfly lebt nicht im Hier und Jetzt, sondern in Erwartung der Zukunft. Der gesamte zweite Akt der Oper ist dieser Erwartung gewidmet. Selbst als die Geisha erkennt, dass ihr geliebter Amerikaner Pinkerton nicht zurückkehren wird, lebt sie weiter in der Illusion, an seine Liebe und Treue zu glauben, bis die Wahrheit ihr keine andere Wahl lässt als zu sterben.

MADAMA BUTTERFLY mit der großen amerikanischen Flagge @ Anja Koehler

In der Geschichte von Butterfly hat der Regisseur Andreas Homoki jedoch die universelle Essenz dieser Geschichte vor dem Hintergrund des persönlichen Dramas der Protagonistin enthüllt. Es geht nicht um die Vergangenheit oder die Gegenwart, sondern um das Ewige, vor dem große menschliche Leidenschaften und Tragödien klein werden. Butterflys Tod ist ein natürlicher Schritt, eine rechtschaffene Reise ins Vergessen. Vor diesem Hintergrund wirkt die letzte Reue von Pinkerton, der zweimal verheiratet war, allerdings mit einer Amerikanerin, lächerlich, und das zukünftige Leben von Butterfly und Pinkertons Sohn in einem fremden Land ist mit dem psychologischen Ballast schrecklicher Verluste (der Mutter, der Wurzeln, der Achtung vor dem Vater) belastet. Wahrscheinlich ist dies der Grund, warum der Regisseur bewusst auf den visuell intensiven Aktionismus und die Übertreibung der Leidenschaften verzichtet, die für traditionelle Opernproduktionen charakteristisch sind. Er bevorzugt die langsame und intime Entfaltung der Ereignisse.

Auf der großen Bühne erleben die Zuschauer keine Momente der körperlichen Annäherung zwischen der Geisha und dem Amerikaner. Regisseur und Bühnenbildner haben die enorme Distanz zwischen den Protagonisten hervorgehoben und die mentale Distanz zwischen Japanern und Amerikanern visuell unterstrichen. Den Figuren wurde unbegrenzter Bewegungsspielraum eingeräumt – langsame, horizontale, choreografierte Ab- und Aufstiege vor dem weißen Bühnenhintergrund -, was die Synthese der visuellen und auditiven Kinetik des Stücks bereichert. Doch die Bewegungsfreiheit der Protagonisten ist imaginär. Die Distanz zwischen den Hauptfiguren ist eine Folge der bestehenden Hermetik sowohl der Japaner als auch der Amerikaner, die durch ihre eigenen Ambitionen eingeschränkt sind.

Butterfly befindet sich inmitten einer Konfliktzone, die Homoki bewusst mit visuellen Mitteln verstärkt, indem die Zeichen der Japanismen von Amerikanismen "infiziert" zu sein scheinen. Die zunächst zurückhaltende Madama Butterfly schlägt sich aktiv und ehrgeizig auf die Seite einer fremden Kultur: Sie will keine Geisha sein und will Amerikanerin werden. In der Szene, in der sie auf ihren Geliebten wartet, hüllt sich Butterfly in die amerikanische Flagge und nimmt sie feierlich als offizielles Privileg von Mrs. Pinkerton in Empfang. Der tragische Identitätsverlust, die Ersetzung des traditionellen japanischen Kimonos durch die amerikanische Flagge, erzeugt eine schreiende Dissonanz in der Inszenierung. Auch in dem Moment, in dem das Orchester die amerikanische Nationalhymne zitiert, durchbricht Pinkerton trotzig ein großes, in seiner ursprünglichen Schönheit glänzendes japanisches Manuskript, dessen Wert, wie die Liebe von Butterfly, das amerikanische Subjekt nicht einmal zu verstehen und zu respektieren versucht. Das zerrissene Bühnenbild eines 23 Meter langen, wie achtlos zerknüllten und in den See geworfenen Blattes steht somit für die Unwissenheit eines Amerikaners beim Kennenlernen einer japanischen Frau, der Kultur und der Traditionen ihres Landes. Es ist nicht verwunderlich, dass Pinkerton trotzig auf den filigranen Zeichnungen japanischer Landschaften herumtrampelt, Amerika lobt und bereits plant, nach seiner Rückkehr eine echte Frau - eine Amerikanerin - zu heiraten.

Die Geschichte ist recht anschaulich und nicht ungewöhnlich: Ein Marineoffizier, der sich in einer fremden, von seinem Land eroberten Welt wiederfindet, ist an Unterhaltung interessiert, auch an einer Scheinehe mit einer exotischen Frau. Für ihn ist die Liebe der Geisha nur eine der Trophäen des Eroberers.

MADAMA BUTTERFLY auf der Seebühne in Bregenz @ Anja Koehler

Das Einzige, worauf er in Japan stolz sein kann, ist der riesige Fahnenmast mit der amerikanischen Flagge, der wie besessen über den alten japanischen Papyrusmalereien weht, die auf der Bühne reproduziert werden. Die Beschädigungen des Papyrus sind wie klaffende Wunden am Körper Japans - stumme Zeugen der Gewalttaten und Kriegsverbrechen, die von den Amerikanern auf japanischem Boden begangen wurden. Der Schauplatz der Aufführung erinnert uns auch an den Wettlauf zwischen den imperialen Mächten um das Recht, die fernen Weltgebiete zu besetzen und mit ihren eigenen Flaggen zu schmücken.

Das Stück erinnert an die Ambitionen sowohl der Japaner als auch der Amerikaner. Kriege haben schon immer das Leben und die Seelen von Menschen zerstört. Doch in Puccinis Oper wird die brutale Kolonialgeschichte aus dem Blickwinkel des persönlichen Dramas einer desillusionierten Frau gezeigt. Butterflys Kampf um eine neue Identität ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt: Butterflys unermüdliche Korrekturen ihres eigenen Namens in Madama Pinkerton sind lächerlich und lösen nur Unbehagen aus, ebenso wie ihre Hoffnung, den amerikanischen Traum zu verwirklichen, befreit zu werden, durch die Heirat mit einem amerikanischen Offizier den Status einer emanzipierten Frau zu erreichen.

Deshalb setzt Homoki passenderweise einen neuen Akzent: Durch das Prisma von Butterflys Ideen ist Pinkerton nicht nur ein Liebender, sondern auch ein Träger der amerikanischen Utopie. Die Idee, Amerika als ein Land zu zeigen, in dem die Vergangenheit keine Rolle spielt (ein Mensch ist das, was er erreicht hat) und es gleichzeitig mit einem Land zu kontrastieren, in dem die Familie, die Traditionen und die historische Vergangenheit hochgeschätzt werden, ist dem Regisseur gut gelungen. Der radikale Traum von Butterfly, ihr Leben zu ändern und eine anständige Frau in einer neuen Gesellschaft zu werden, ist nach Ansicht des Regisseurs mehr als eine persönliche Tragödie. Das zentrale Thema der Inszenierung von Andreas Homoki - visuell die exotischste der drei analysierten Versionen - ist das Thema der kolonialen Beziehungen zwischen Ländern und ihren Bewohnern.

So gesehen ist die Seelandschaft der Oper nicht nur ein malerischer Schauplatz für das Drama Butterfly, das mit seinem ambitionierten Akt die patriarchalische Struktur der japanischen Gesellschaft negiert. Es ist auch ein Versuch, aus dem alten System auszubrechen, die weibliche Abhängigkeit zu überwinden, aber auch das "Koloniale in sich" loszuwerden.

Der Traum vom Leben im zivilisierten Amerika ist widersprüchlich. Die Geisha erkennt, dass ihr Leben und ihr Tod der Welt ihrer Vorfahren angehören. Im tragischsten Moment ihres Lebens - der Trennung von ihrem Sohn - wird ihr klar, dass sie dem Willen ihres Mannes nach den Gesetzen der archaischen Moral gehorchen muss. Es ist kein Zufall, dass die Regisseure den berühmten Samurai Kaibara Ekiken aus dem 18. Jahrhundert zitieren: "Eine Frau sollte ihren Mann als ihren Herrn betrachten und ihm mit allem Respekt und aller Ehrfurcht dienen. Wenn ihr Mann Befehle erteilt, muss die Ehefrau ihnen stets gehorchen." Für Butterfly ist das Harakiri-Ritual kein Selbstmord, sondern Ehrerbietung und eine Verbeugung vor der alten Welt ihrer Heimat: eine radikale Veränderung ihres Lebens, eine Rückkehr in das "Zuhause", das mit dem japanischen Ritual identifiziert wird. Das riesige Manuskript, das spektakulär über dem dunklen Bodensee aufblitzt und in die pechschwarze Nacht eintaucht, ist ein anschauliches Symbol für das kurze Leben von Cio-Cio-San, einem Schmetterling, der am Rande des Traums von der Freiheit und des realen Kampfes um sie starb.

Andreas Homoki spielt auf das goldene Zeitalter Amerikas an, das seinen Höhepunkt erreicht hatte und zur Weltspitze, zum Land der "globalen Kultur" wurde. Die Desillusionierung über den American Way of Being war ebenfalls global. Die Verehrung amerikanischer Filmidole, Kult des Stars, Konsum-gesellschaft waren damals der "amerikanische" Traum nicht nur für Japan, sondern auch für Europa.

Die weitere Entwicklung der Kolonialmacht führte zur Desillusionierung über die amerikanische Utopie. So gesehen ist der Schauplatz der Oper an der Seebühne in Bregenz nicht nur ein malerischer Rahmen für das Drama der Butterfly, die mit ihrem ambitionierten Akt die patriarchalische Struktur der japanischen Gesellschaft negiert. Es ist ein Versuch, die Abhängigkeit vom "Kolonialen" zu überwinden.

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