Biel, Kongresshaus Biel, Sinfonie Orchester Biel - Piotr I. Tschaikowsky, Dmitri Schostakowitsch, IOCO Kritik 28.10.2020
Sinfonie Orchester Biel Solothurn - Piotr I. Tschaikowsky, Dmitri Schostakowitsch
Réflexions russes - Konzert vom 14. Oktober 2020
von Julian Führer
Das Kongresshaus Biel (auch Palais des Congrès de Bienne, denn wir befinden uns genau an der Grenze der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz) wurde in den sechziger Jahren vom Architekten Max Schlup entworfen und 2000-2002 unter der Federführung von Rolf Mühlethaler erneuert. Ein Bau im Stadtzentrum mit großer Freifläche am Eingang, der viele Möglichkeiten bietet und unter anderem einen für Konzerte geeigneten Raum enthält. Von Foyer kann man ins Schwimmbad sehen (aufgrund von Spiegelungen durchaus nicht ohne Zauber), viel Glas sorgt für Transparenz. Der Konzertsaal bietet bis zu 1200 Menschen Platz; angesichts der aktuellen Situation wurde diese Marke nicht ganz ausgeschöpft, aber das Konzert war durchaus gut besucht.
Auf dem Programm standen gemäß Ankündigung Réflexions russes, zunächst das Violinkonzert D-Dur von Piotr Iljitsch Tschaikowsky op. 35, gespielt von der jungen Violinistin Liya Petrova auf einem 1737 von Carlo Bergonzi erbauten Instrument. Dieses Konzert komponierte Tschaikowsky innerhalb weniger Wochen des Jahres 1878 bei einem Erholungsaufenthalt in der Schweiz, gar nicht weit entfernt von Biel am Genfer See.
Das Orchester saß auf einem Podium, gegenüber dem Publikum leicht erhöht. Die Streicher trugen Maske, von den Bläsern durch Plexiglasscheiben getrennt. Diese Disposition machte sich gleich bei Beginn störend bemerkbar, denn natürlich war der Bläserklang gerade im Holz durch die Abtrennung gedämpft, mitunter dumpf. Bläsersätze hatten eine Färbung, die fast an den Mischklang bei den Bayreuther Festspielen denken ließ, allerdings mit gefährlichen Folgen für die Transparenz. Die Solistin hingegen spielte mit schönem rundem Ton, insbesondere die Kadenz war zugleich technisch brillant und klanglich überzeugend, ebenso die zwischendurch extrem hohen Töne, die völlig rein intoniert waren. Bei leisen Passagen musste sie gegen die recht laute Lüftungsanlage des Kongresshauses anspielen, auf der anderen Seite verfügt der Saal über einen deutlichen Nachhall, ohne aber ‚Klangbrei‘ zu verursachen, und dient so der Entfaltung der Musik.
Das Orchester begleitete zuverlässig und effektvoll, wie es sich für Tschaikowskys Konzert wohl auch gehört, mit deutlichem accelerando gegen Ende des ersten Satzes. Die Canzonetta des zweiten Satzes ließ Liya Petrova noch mehr Raum zur Gestaltung, den sie sehr überzeugend nutzte. Auch wenn im zweiten Satz die Bläser dann doch passagenweise etwas stark hervorstachen, gehörte dieser Mittelteil eindeutig dem Soloinstrument. Im Schlusssatz erinnerte das Blech an das Ende der vierten Symphonie Tschaikowskys, im Kopfsatz bereits einige rhythmische Passagen an die bekannten Ballettmusiken des Komponisten. In der Rondoform wurden musikalische Situationen variiert, die der Künstlerin immer wieder erlaubten, ihre Vielseitigkeit zu demonstrieren. Das Publikum applaudierte sehr herzlich, und nicht nur in Biel wäre es schön, Liya Petrova noch oft und auch mit anderen Werken zu hören.
Nach der Pause erklang ein ganz anders gefärbtes Werk, die Symphonie Nr. 11 g-Moll op. 103 „Das Jahr 1905“ von Dmitri Schostakowitsch. Diese etwa eine Stunde lange Symphonie fordert vom Orchester viel Energie und Durchhaltevermögen und vom Dirigenten viel Umsicht und eine Disposition, die das Werk weder zerfasern lässt noch zu früh auf dynamische Effekte setzt, die danach nicht mehr gesteigert werden können. Schostakowitsch selbst verehrte unter seinen russischen Vorgängern vor allem Modest Mussorgsky, die Bezüge zu Tschaikowsky sind weit weniger deutlich. Yannis Pouspourikas verfolgte eine Lesart, die derjenigen von Andris Nelsons recht nahesteht, welche in Konzerten zu hören war. IOCO berichtete dazu, link HIER. und auch auf CD dokumentiert ist. Anders als Joshua Weilerstein in Zürich und Vladimir Jurowski in Dortmund verzichtete Pouspourikas darauf, der Aufführung noch einen gesprochenen Warnhinweis voranzuschicken.
Das Orchesterpodium war voll, dennoch war die Besetzung mit drei Kontrabässen, fünf Bratschen und Celli und nur einer Harfe schmal. Es sollte sich aber zeigen, dass das Klangvolumen auf die Raumdimension perfekt abgestimmt war und die eher schmale Besetzung insgesamt kein Nachteil war. Als deutlich störender erwies sich abermals die Plexiglasscheibe (siehe Foto oben) zwischen Streichern und Bläsern, da auch das Schlagwerk hinter der Trennung aufgestellt war und die ersten leise drohenden Schläge der Pauke im Publikum nicht gut zu hören waren. Die Trompete und das Horn hingegen, die sich über den sehr leisen Streicherteppich des ersten Satzes erheben, waren fast eine Spur zu laut – ebenso wie der Fotograf, der während des Konzertes von verschiedenen Stellen des Saales aus seine Arbeit tat. Dennoch: Die lastende Atmosphäre, der scheinbare musikalische Stillstand des ersten Satzes mit Anklängen an Lieder der Zarenzeit wurden deutlich, das Publikum hörte konzentriert zu.
Der zweite Satz, „Der 9. Januar“, illustriert eine Demonstration im Jahre 1905, die von Truppen des Zaren niedergeschossen wurde, eine im Uraufführungsjahr 1957 und auch 2020 noch überraschende, packende, aber auch erschütternde Gewaltorgie. Yannis Pouspourikas ging den Satz sehr schnell an, nahm aber die Instrumentengruppen immer rechtzeitig zurück, gestaltete überzeugende Crescendi und Decrescendi in Posaunen und Kontrabasstuba, ließ die Bläser insgesamt betont rau aufspielen, und die wenigen Kontrabässe ließen dennoch den Saal vibrieren. Auch die große Trommel sorgte für Druck, bevor dann die eigentliche Eruption kam, eine Salve der kleinen Trommel, vor der viele Dirigenten eine Generalpause setzen. Nicht so Pouspourikas, der das Trommelsignal als Auslöser für eine Beschleunigung der Tempi nahm. Starke Streicherakzente konstrastierten mit der - durch die Plexiglasscheibe wieder zu stark gedämpften - Pauke. Die dynamischen Aufgipfelungen dieser Szene waren beeindruckend und blieben stets dem Raumvolumen angepasst. Auf das Dröhnen des vollen Orchesters folgen abrupt ruhige Streicherfiguren, ein Zitat aus dem ersten Satz, nun aber mit einem leisen Flirren unterlegt, das erst hörbar wird, wenn der Nachhall des Orchesters verschwunden ist und sich die Ohren der Zuhörer wieder an leisere Stellen gewöhnen.
Der dritte Satz, „Ewiges Gedenken“, ist zunächst ein Trauergesang, der von den Bratschen unisono angestimmt wird. Die Atmosphäre war auch im weiteren Verlauf kammermusikalisch, fast wie bei einem Streichquartett (einem Genre, das Schostakowitsch durch nicht weniger als 15 eigene Beiträge bereichert hat und das ihm also bestens bekannt war). Im Mittelteil bricht sich aber in scharfen Dissonanzen und mit großer Trommel und Tamtam eine sehr viel lautere Art der Trauer Bahn, und der Charakter des Satzes wurde vom Dirigenten Yannis Pouspourikas durch eine Beschleunigung sehr viel dramatischer gestaltet. Die folgende Reprise des Bratschen-Unisono, noch etwas zurückhaltender als zu Beginn des Satzes, schuf eine gespenstisch zurückhaltende Stimmung.
Der letzte Satz, „Sturmgeläut“, beginnt mit einem Bläsersignal, das Pouspourikas ähnlich wie Andris Nelsons zunächst seltsam gebremst vortragen ließ, bevor er dann über anziehende Tempi in den Streichern das von Schostakowitsch vorgegebene Metronommaß anschlug. Gerade im Schlusssatz hat der Komponist mehrere Kampflieder der russischen Arbeiter und speziell der Bolschewiki verwendet, die einem sowjetischen Publikum der fünfziger Jahre sofort präsent waren, heute den meisten Zuhörern, zumal einem westlichen Publikum erst erläutert werden müssen. Die „Warschawjanka“ wird doch eine marschartige Führung der Streicher eingeleitet, in Biel fast stampfend vorgetragen. Mehrere Kampfmelodien und Motive der ersten Sätze werden ineinander verwoben, bis es zu einer Aufstauung mit großer Trommel, Becken und Tamtam kommt – mit anschließender Rückkehr zum Nullpunkt der Symphonie, den ruhigen Streichern des ersten Satzes, über denen sich nun eine lange, elegische Melodie des Englischhorns erhebt, an diesem Abend sehr überzeugend und klangschön zu hören. Der Schluss, durch dumpfe Schläge und hektische Figuren der Bassklarinette beschleunigt, ist laut, durch Glocken verstärkt, und stürzt einem Ende entgegen, das allerdings auf keine Kadenz, keinen Schlussakkord zusteuert, sondern quasi mitten im Satz abreißt (ähnlich wie in Schostakowitschs Fünfter Symphonie).
Nach sekundenlanger Stille applaudierte das Publikum zunehmend begeistert, und Yannis Pouspourikas ließ die einzelnen Instrumentengruppen verdientermaßen hochleben. Hervorzuheben sind neben den perfekt harmonierenden Posaunen und Kontrabässen auch das erste Horn, Englischhorn und Bassklarinette, allerdings leider nicht die Trompetengruppe, in denen sich falsche Noten und ‚Kiekser‘ häuften, wozu im vierten Satz noch ein falscher Einsatz kam. Das Orchester dankte seinem Dirigenten für diese gemeinsam erreichte Leistung seinerseits mit Trampelapplaus, ein gutes Omen für die Zukunft, denn Yannis Pouspourikas wird mit der Saison 2022/2023 neuer Chefdirigent des Sinfonie Orchester Biel Solothurn und Direktor Konzerte von Theater Orchester Biel Solothurn.
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