Bern, Casino Bern, Berner Symphonieorchester - Dmitri Schostakowitsch, IOCO Kritik, 23.02.2022
Berner Symphonieorchester - James Conlon
Dmitri Schostakowitsch - die „Leningrader“ Symphonie Nr. 7 - C-Dur Opus 60
von Julian Führer
Das Berner Symphonieorchester unter James Conlon präsentierte die „Leningrader“ Symphonie Nr. 7 in C-Dur Opus 60 von Dmitri Schostakowitsch. Diese Symphonie wird mitunter gemeinsam mit der ‚Achten‘ als Kriegssymphonie bezeichnet, da sie 1942 uraufgeführt wurde und einer mehr oder weniger deutlichen Programmatik zu folgen scheint. Das Orchester spielt am 18.2.2022 (wieder) im Casino Bern in der Innenstadt, das Haus wurde noch vor der Coronakrise saniert und ist nun endlich wieder für das gesamte Publikum zugänglich. Alle Plätze werden besetzt, nur an der Maske hält man in Bern derzeit noch fest, ebenso wie in Zürich, aber anders als in Basel und an anderen Spielstätten der Schweiz.
Die Leningrader - Symphonie Nr 7 - eine Einführung von James Conlon youtube Bühnen Bern [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Der Allegretto-Einstieg in dieses monumental ausgreifende Werk ist ein optimistisches Thema in C-Dur, das ganz nach Art eines Sonatensatzes alter Form variiert und mit einem Seitenthema verbunden wird. Die Einsätze der Pauke in der ersten Minute der Symphonie waren sehr markiert. Nachdem sich die Stimmung etwas beruhigt hat, bleibt der Grundton dennoch heiter – helle Streicher und die Flöte insbesondere spielen weitausgreifende Melodielinien, schließlich in ein (sehr schön intoniertes) Violinsolo mündend.
Das Thema, das nun folgt, ist oft als „Invasionsthema“ bezeichnet worden – erst eher getupft in den ersten Violinen und dann ruhig von der Flöte übernommen, wandert es durch die Instrumentengruppen, bis es schließlich zu einem alles niederwalzenden Fortissimo anschwillt. Das Thema ist nun allerdings sehr banal, es hat Anklänge an Lehárs „Heut‘ geh‘ ich ins Maxim“, und es wäre ohne die Instrumentierungskunst Schostakowitschs kaum der Rede wert. Dazu kommt allerdings ein durch die kleine Trommel vorgegebener Rhythmus, der selbst bei schneller Wiedergabe über zehn Minuten wiederholt wird, ganz wie bei Maurice Ravel. Hätte Schostakowitsch tatsächlich den Anmarsch der Deutschen im Sinn gehabt, würden wir es mit einer Art „Wehrmachtsbolero“ zu tun haben. – Der musikalische Einfall, dieses Thema auszubreiten und in einem großen Orchesterapparat durchzudeklinieren, war Schostakowitsch allerdings schon vor dem deutschen Angriff gekommen. Möglicherweise hatte der Komponist die deutsche Militärmaschine als solche im Sinn, die zum Zeitpunkt der Komposition bereits Polen, Frankreich und weitere Gebiete überrollt hatte.
Der Saal des Casino Bern, Foto unten, ist durchaus geräumig, doch wurden Teile des Blechs auf Empore und Galerie postiert, so dass deren Einsätze akustisch noch einmal viel unmittelbarer wirkten und auch optisch den drückenden Eindruck des Themas verstärkten. Zur Mitte dieses Abschnitts hin schienen Tempo und Spannung etwas nachzulassen, wurden von James Conlon dann aber wieder angezogen. Einmal im Jahr werden in der Schweiz die Luftsirenen getestet, der Probealarm wird in den Zeitungen angekündigt und erinnert daran, dass es in Europa nicht immer friedlich zugeht. Die letzte Übung war am 2.2.2022, und mit diesem recht frischen Eindruck im Ohr erinnerten die gezielt jaulenden Violinen am Ende an einen Luftalarm zum immer lauter hämmernden Rhythmus und den Dissonanzen des schweren Blechs auf dem Podium und der Empore – ein sehr beeindruckender Moment.
Den zweiten Satz ging James Conlon eher bedächtig an; Einzelmomente wie die sehr schöne Oboe und die bei Schostakowitsch oft solistisch auftretenden Instrumente Kontrafagott und Bassklarinette bildeten einen deutlichen Kontrast zu den großen Blöcken des Kopfsatzes. Ein fast zwanzigminütiges Adagio bildet den dritten Satz, voll mit lang ausgehaltenen Dissonanzen, die Schostakowitsch bis zu dieser Schaffensperiode sonst eher vermied. Einiges ist dennoch ganz typisch, so die zeitweise Unisono-Führung der ersten und zweiten Violinen, zu denen Harfen arrangiert werden. Wie so oft bei Schostakowitsch blitzt in diesem Satz ein paar Takte lang eine Art Zirkusmusik auf – Reminiszenz an unbeschwerte Lebensfreude, groteske Überspitzung, Karikatur der Sowjetmacht und Stalins? Die Interpretationen gehen weit auseinander.
Der letzte Satz schließt unmittelbar an, ein Thema aus dem ersten Satz leicht verzerrt wiederaufnehmend. Die Atmosphäre ist lastend, und es dauert fast anderthalb Stunden, bis zum Schluss der Symphonie das Blech auf der Empore das Eingangsthema wieder einsetzt und fanfarenartig überhöht wird. Die Symphonie endet nach langem Lasten und Tasten der letzten beiden Sätze also in Affirmation – wie so oft bei Schostakowitsch weiß der Hörer nicht recht, ob es hier einen doppelten Boden gibt oder nicht. Zum Zeitpunkt der Vollendung der Komposition (Schostakowitsch war aus dem eingekesselten Leningrad ausgeflogen worden, hatte aber den Beginn der Belagerung noch erlebt) war der Kriegsverlauf noch unklar – die deutsche Wehrmacht stand kurz vor Moskau, hatte Leningrad eingeschlossen, ihr Vormarsch war zum Stehen gekommen, aber das Kriegsende war weit entfernt.
Der musikalische Gesamteindruck dieser Aufführung ist durchaus positiv. Kleinere Unstimmigkeiten gab es in dem Monumentalwerk immer wieder, zum Beispiel in der Abstimmung der ersten Violinen oder in der Koordination zwischen kleiner Trommel und Holz. An James Conlon lag dies sicher nicht, denn er schlug sehr deutlich. Im dritten und vierten Satz, wo Schostakowitsch sehr langsame Formen wählt, hätte man sich von ihm passagenweise eine deutlichere Gestaltung der musikalischen Blöcke gewünscht.
Am Ende feierte das Publikum aber alle Beteiligten lang und enthusiastisch: die wirklich guten Holzbläser, das beeindruckende Blech, die mehr als einmal aufhorchen lassenden Bratschen, die mächtig brummenden Bässe und das gewaltige Schlagwerk. Diese Symphonie aufzuführen ist ein Kraftakt, den jetzt hoffentlich mehr Orchester wagen werden.
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