Bern, Bühnen Bern, Anna Schöttl - Bühnenbildnerin im Interview, IOCO Interview, 05.12.2022
Anna Schöttl - Bühnenbildnerin : Interview mit Adelina Yefimenko
- Sycorax : Anna Schöttl zur Entwicklung moderner Bühnen-Produktionen -
IOCO Autorin Prof. Adelina Yefimenko verfolgt die Kunstfertigkeit der deutschen Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Schöttl seit langer Zeit. Die Uraufführung der modernen Oper Sycorax von Georg Friedrich Haas der Bühnen Bern in den VIDMARhallen hat Adelina Yefimenko besucht, auch um mit der talentierten Künstlerin Anna Schöttl über ihren Anteil an der Produktion Sycorax, ihr Bühnenbild wie moderne Opernwerke zu sprechen.
Einer der bedeutendsten österreichischen, in den USA lebenden Komponisten, unser Zeitgenosse Georg Friedrich Haas, schuf als Auftragswerk für die Bühnen Bern seine achte Oper Sycorax. IOCO-Autorin Adelina Yefimenko besuchte die Uraufführung von Sycorax, ein Auftragswerks der Bühnen Bern am 17. September 2022 in den Vidmarhallen in Bern.
Adelina Yefimenko schrieb bereits über das Werk von Georg Friedrich Haas: Im Mai 2022 hatte der neue Intendant der Bayerischen Staatsoper in München, Serge Dorny, ein Festival der Neuen Musik „Ja, Mai“ ins Leben gerufen. Der erste Gast diess Festivals war Georg Friedrich Haas. Alle seine Werke, einschließlich der Opern Bluthaus und Thomas, fanden eine große Resonanz beim Publikum und in den Medien und wurden zu Recht gelobt. Eine Rezension über das „Ja, Mai“-Festival und über die Oper Bluthaus kann man hier lesen, siehe Link.
Georg Friedrich Haas, geboren in Chaguns (Vorarlberg), studierte Komposition (1972-1979), Klavier (Doris Wolf) und Musikpädagogik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz. Er wurde Gründer des Grazer Komponistenbundes. Von 1981 bis 1983 studierte er in Wien bei Friedrich Cerha. Der Komponist nahm wiederholt an den Darmstädter Ferienkursen und der Stage d'Informatique Musicale pour compositeur am IRCAM in Paris teil. Von 1991 bis 1994 war er Leiter der Tage der zeitgenössischen Musik - Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik - und lehrte als Professor Komposition und Kontrapunkt an der Universität Graz. Seit Herbst 2005 lehrt er Komposition an der Musikhochschule Basel. Nach seiner Auswanderung nach Amerika erhielt er im September 2013 eine Professur für Komposition an der Columbia University in New York. Georg Friedrich Haas ist aktives Mitglied des Österreichischen Kunstsenats.
Normalerweise braucht jede neue Oper eine neue Geschichte. Georg Friedrich Haas ist jedoch ein Meister darin, alte Geschichten umzuschreiben. Er ist ein anerkannter Kenner und gründlicher Forscher des Stils und der Techniken der alten Meister. In Bluthaus ließ er das Publikum die Parallelen zu Claudio Monteverdi entdecken. Das Libretto für„Sycorax“ nach Shakespeares „The Tempest“ schrieb die US-amerikanische Schriftstellerin Harriet Scott Chessman. Verantwortliche für die Uraufführung der Oper: Regisseurin Giulia Giammona, Dirigent Bas Wiegers, Bühnenbildnerin Anna Schöttl, Kostümdesigner Axel Aust, Dramaturg:innen Julien Enzanza und Rebekka Meyer, Sänger*innen Mengqi Zhang (Ariel), Juliane Stolzenbach Ramos (Miranda), Thando Mjandana (Caliban), Robin Adams (Prospero) und die Hauptdarstellerin der Figur Sycorax - die bekannte Schriftstellerin und Performerin Mollena Lee Williams-Haas (Sycorax).
Das Regie-Konzept in Sycorax von Giulia Giammona hatte einen absoluten Vorteil: Die Räumlichkeiten der modernen, schlichten und einfachen Vidmarhallen in einem Industrie-Gebäude bildeten einen optimalen Raum für Experimente des zeitgenössischen Musiktheaters. Das Bühnenbild zu Sycorax hat Anna Schöttl in enger Zusammenarbeit mit der jungen deutsch-italienischen Regisseurin Giulia Giammona entwickelt.
Alle Figuren dieser Geschichte bringt Mollena Lee Williams-Haas mit ihrer Erzählung, ihrem Sprechgesang, ihrer Deklamation und ihrer Aktion zusammen, verbindet sie und befreit sie zum Schluss auch für ein neues Leben.
Die Geschichte, die der Komponist erzählt, ist sehr alt. Eigentlich sollte diese Oper als Literaturoper betrachtet werden, wenn die Librettistin die literarische Quelle William Shakespeares nicht so stark umgedeutet hätte.
Die literarische Quelle basiert auf dem weltberühmten Spätstück Shakespeares The Tempest, aus dem Jahr 1611. Sycorax ist beim britischen Dichter die unsichtbare, schweigende, mächtige Hexe, die Mutter von Caliban, der in seinen Erinnerungen versinkt. Sie starb vor Einsetzen der Spielhandlung des Stücks. Bei Shakespeare ist sie eine Figur, über die nur gesprochen wird, die aber selber nie zur Sprache kommt und nicht auftritt.
Prospero ist in Shakespeares The Tempest ein Held, der die Insel von der Macht der Hexe befreit, aber die Erinnerungen ihrer Bewohner nicht löschen kann.
Die Geschichte auf den Spuren einer alten Legende ist nicht einfach und wird bei Georg Friedrich Haas zum sozial-politischen Statement. Im Hintergrund ist Sycorax ein Opfer. Als sie mit Caliban schwanger war, wurde sie aus ihrer Heimat auf die Insel verstoßen. Warum wurde sie dann zur bösen Hexe? Nur weil sie schwanger war oder weil sie eine schwarze Hautfarbe hatte? Dieses Klischee über die europäische Kolonialvergangenheit beschäftigt Georg Friedrich Haas und wird nicht zufällig in der Regie beklemmend und dystopisch ausgelegt.
SYCORAX - Oper von Georg Friedrich Haas youtube Trailer Bühnen Bern [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Der Komponist teilt die Meinung der postkolonialistischen Schriftsteller und Kritiker, die in Sycorax eine Stimme für diese kolonisierten Völker sehen, insbesondere für die Frauen, die unter den Auswirkungen der Kolonialisierung gelitten haben.
Es ist folgerichtig, dass in der Oper der weißhäutige Prospero zum Bösewicht wird – der Unternehmer und Inseleroberer. Nicht Sycorax, sondern Prospero beutet in der Lesart von Harriet Scott Chessman und Georg Friedrich Haas die Insel aus. Als grausamen „Dank“ an Sycorax, die nach dem Sturm sein Leben und das seiner Tochter Miranda rettete, verbannt Prospero Sycorax in einem Baum, unterdrückt ihren Sohn und den Geist Ariel und beherrscht die Insel. Da die Insel nicht mehr attraktiv ist, verliert er jedoch das Interesse an der Herrschaft. Er will mit seiner Tochter fliehen.
Um die Insel zu retten, befreit sich Sycorax aus dem Baum. Im Gegensatz zu der nur in Erzählung erscheinenden Figur Sycorax bei Shakespeare erhebt Haas seine Protagonistin zur Heldin einer Befreiungsoper. Im realen Leben ist Mollena Lee Williams-Haas, die Darstellering von Sycorax, die Ehefrau, Lebens- und Kunstheldin des Komponisten. Sie ist freie Künstlerin, die in Amerika als aktive Performerin und Schriftstellerin gegen die Kolonisierungspolitik, Rassismus u.a. aktiv auftritt.
Der Komponist verleiht Sycorax nicht nur eine wichtige Stimme, sondern auch das Recht zur Neudeutung dieser mythischen Geschichte. Unter dem Schleier des Märchens über eine in der Vergangenheit schöne, aber im hier und jetzt ausgeplünderte Insel versteckt der Komponist aktuelle politische und ökologische Brennpunktthemen unserer Gegenwart: den modernen Kolonialismus, den Klimawandel, die Gefahr und die naturschädigenden Machtmonopole. Dazu kommen noch das psychologisch geprägte Familien Drama: Vater-Tochter, Mutter-Sohn.
Sycorax verteidigt ihr Recht auf die weibliche, mütterliche und ethnische Identität, befreit die Luftgeister und rettet die Insel. Symbolhaft und gleichfalls sehr realistisch und aktuell. Absolut aktuell macht diese Geschichte das fulminante Bühnenbild von Anna Schöttl, die im Folgenden über ihr Werk erzählt.
ANNA SCHÖTTL - im Gespräch mit Adelina Yefimenko
Anna Schöttl - Vita: geboren in München, studierte Bühnen- und Kostümgestaltung, Film- und Ausstellungsarchitektur bei Herbert Kapplmüller und Henrik Ahr an der Universität Mozarteum Salzburg. Dort schloss sie 2016 mit der Oper Rusalka ihr Diplom mit Auszeichnung ab. Praktische Erfahrung im Bereich Production Design erlangte sie während eines Auslandsstudiums am Wimbledon College of Arts in London und im Bereich Oper bei den Salzburger Festspielen. An der Bayerischen Staatsoper war sie drei Jahre als Ausstattungsassistentin tätig. Ihr Schaffen beinhaltet sowohl Opernproduktionen wie L’elisir d’amore, Le nozze di Figaro, La Bohème und Don Quijote als auch Filmprojekte wie die beiden Kurzfilme „Awakening“ und „The Feast“. Zudem kreierte sie die Ausstellungsarchitektur zu Anouk Wipprechts „TECHNOSENSUAL – Where Fashion Meets Technology“ im Museumsquartier in Wien. Sie entwarf das Bühnenbild für die Schauspiel Horror-Collage „Retnecboj – das unsichtbare Grauen“ in München und entwickelte gemeinsam mit Marina Abramovic das Bühnenbild zu deren Opernprojekt 7 Deaths of Maria Callas an der Bayerischen Staatsoper München, welches von verschiedenen Häusern in Form einer Koproduktion auf die Bühne gebracht wird (Opéra Garnier, Greek National Opera, Staatsoper Berlin, Teatro di San Carlo, Koninklijk Theater Carré Amsterdam). Mit Silvia Costa kollaborierte sie für die Schauspielproduktion Erinnerung eines Mädchens am Residenztheater München und mit der britischen Bildhauerin Phyllida Barlow für Mozarts Idomeneo an der Staatsoper München. In der Saison 2021/22 entwarf sie die Bühne und Kostüme für die Opernproduktionen Sokol//Alcide an der Nationaloper Lviv in der Ukraine. Für das Theater Bielefeld entwarf sie 2020/21 bereits das Bühnenbild von „Dunkel ist die Nacht, Rigoletto!“ und kehrte nun für eine erneute Zusammenarbeit mit Regisseurin Nadja Loschky für Christian Josts Oper Egmont zurück. An den Bühnen Bern zeichnet sie in der Spielzeit 2022/23 für das Bühnenbild der Oper Sycorax verantwortlich.
Adelina Yefimenko: Liebe Anna, wann und wie hat Deine Zusammenarbeit mit den Bühnen Bern angefangen? Wer hat Dich zu dem Projekt Sycorax eingeladen?
Anna Schöttl: Liebe Adelina, vielen Dank für die Chance, dieses Interview mit Dir zu führen, nachdem wir uns schon oftmals inhaltlich über verschiedene Stücke ausgetauscht haben. Die Regisseurin Giulia Giammona und ich haben beide an der Bayerischen Staatsoper gearbeitet. Giulia als Spielleiterin, ich als Ausstattungsassistentin. Dort haben wir uns freundschaftlich, aber auch in gemeinsamen künstlerischen Werten kennengelernt. An der Bayerischen Staatsoper haben wir auch eng mit Rainer Karlitschek, damals noch Hausdramaturg, zusammengearbeitet. Rainer Karlitschek wurde zur Spielzeit 2021/22 als neuer Operndirektor an die Bühnen Bern geholt. Er hatte eine gemeinsame Arbeit der Regisseurin Giulia Giammona und mir – „Schwanengesang: ein szenischer Abend“, die im Zuge des Hidalgo Festivals stattfand, gesehen. Daraufhin fragte er uns im Juli 2021, ob wir diese spannende und herausfordernde neue Oper – Sycorax – in Bern machen wollen. Mit Rainer arbeitete ich zudem in dieser Zeit noch an der Neuproduktion Idomeneo in München, als Bühnenbild Mitarbeit für die britische Bildhauerin Phyllida Barlow. Zurück zu Sycorax: Für Giulia und mich war klar, dass wir das unbedingt machen möchten. Wir standen der Herausforderung dieser Uraufführung mit Freude und Respekt gegenüber. Spannend!
Adelina Yefimenko: Wie war da Deine erste Reaktion, als Du diese neue Geschichte über Sycorax, aus Shakespeares „The Tempest“, in Deinen Vorbereitungen gehört und das Libretto von Harriet Scott Chessman gelesen hast? Hast Du Dir die Geschichte gleich in Bildern vorgestellt? Oder hast Du Dir über den Inhalt und seine aktuelle Wirkung auf unsere gegenwärtigen Probleme Gedanken gemacht?
Anna Schöttl: Das schwierige an diesem Stück ist, dass es keine Aufnahme der Musik gab, als wir mit der Arbeit begonnen haben. Das ist wohl die „Krux“ und zugleich das unglaublich Spannende einer Uraufführung. Sprich, ich kannte musikalisch andere Stücke von Georg Friedrich Haas, aber eben nicht dieses besondere Werk. Ich habe das Libretto gelesen. Dieses kam mit einem Vortext, in welchem die Insel und die Raumatmosphäre von Harriet Scott Chessman grundsätzlich als „colourful“ und „beautiful“ beschrieben wurde, „with strains of wonder and bitterness“. In der Bearbeitung dieses Stücks sind für meine Herangehensweise als allererstes die Themen und problematischen Kontexte in den Vordergrund gerückt. Der Ausgangspunkt der Insel war für mich zu Beginn sehr fern von einem gesunden Ort. Später habe ich dann die von Chessman beschriebene Schönheit der Insel für mich entdeckt.
Adelina Yefimenko: Lass uns zum Bühnenbild selbst kommen. Wie ist Dein Gefühl zu den Räumen in den Vidmarhallen?
Anna Schöttl: Die Vidmarhallen sind oftmals die Schauspielstätte. Sehr spannend ist, im Vergleich zum Großen Haus,, dass der Zuschauer ultimativ im gleichen Raum ist wie Orchester, Darsteller:innen, Bühnenbild – ohne von der „vierten Wand“ des Portals abgetrennt zu sein. Das hat es für uns unglaublich spannend gemacht, die Haas´sche Musiksphäre noch ultimativer zu erleben. Und ich konnte mit meinem Bühnenbild den gesamten Raum bespielen und die Zuschauer noch mehr in unsere Welt hereinholen. Wir haben zum Beispiel die „klassische“ Zuschaueraufteilung verändert und das Publikum über Eck gesetzt. Außerdem hat man als Zuschauer die Halle durch den Hintereingang über eine Schleuse betreten und ist gleich einmal durch das Bühnenbild gelaufen. Was vorab viel an Gesprächen und Tüftelei bedurfte, war die Platzierung des Orchesters. Ich denke, wir haben ungefähr 100 verschiedene Positionen ausprobiert und uns eng mit dem Dirigenten Bas Wiegers abgesprochen, um akustisch den besten Platz für das Orchester zu finden – es gibt in den Vidmarhallen keinen Graben.
Adelina Yefimenko: In welchem Verhältnis stehen die Figuren zu Deinem Bühnenbild?
Anna Schöttl: Im Laufe des Prozesses ist das Bühnenbild sehr lebendig geworden. Harriet Scott Chessman hatte in ihrem Vortext beschrieben, dass die Insel ein eigener Charakter ist. Das habe ich aufgegriffen und mit den Darsteller:innen vorab besprochen, dass ich das Bühnenbild eigentlich wie eine eigene lebende Figur im Stück sehe. Die wirklich großartigen Darsteller:innen haben das fantastisch aufgenommen und das Bühnenbild als eigenes Lebewesen inkludiert. Man muss an dieser Stelle auch Giulias Leistung unterstreichen, die dieses schwierige Bühnenbild großartig bespielt hat. Hier nun zur Besonderheit des Bühnenbildes. Dadurch, dass es sehr organisch und überhaupt nicht statisch angelegt war, konnte es passieren, dass die Schläuche, auf die ich später genauer eingehe, sich an jedem Abend etwas anders verhalten. Ich habe die Rückmeldung von Darsteller:innen bekommen, dass das für das Spiel komplizierter, aber auch sehr spannend war. Was soll ich sagen, das Bühnenbild hat tatsächlich mithilfe der Darsteller:innen und der Technik gelebt. ?
Adelina Yefimenko: In Deinem Studio habe ich das Bühnenbild zu Sycorax als Miniaturmodell gesehen, ohne über die Uraufführung der neuen Oper von Georg Friedrich Haas schon etwas zu wissen. Als ich dann auf der Bühne das gewaltige Bühnenbild in seiner ganzen Größe gesehen habe und sogar berühren durfte, habe ich gleich einen „Aha-Effekt“ erlebt. Dein Bühnenbild hat die Kernidee des Komponisten auf den Punkt genau reflektiert und visuell gedeutet. Das Stichwort deines Bühnenbildes ist in Röhren gesperrter „Sauerstoff“ – oder noch etwas mehr?
Anna Schöttl: Das hast Du sehr richtig erkannt. Der Begriff des Atmens und der Luft erscheint in Harriet Scott Chessmans Libretto des Öfteren. Wir, als Regieteam, haben die Idee des Sauerstoffs konkretisiert und zu einem der Hauptthemen unserer Konzeption gemacht. Giulia, Julien und ich, und später auch Rebekka haben uns für dieses Stück sehr viel vorab getroffen und lange Gespräche über die für uns wichtigen Themen in Musik und Text geführt. Wir haben nach einer Möglichkeit gesucht, das Machtungleichgewicht, das auf der Insel entstanden ist, umzusetzen und die Ausbeutung der Magie der Inselbewohner zu zeigen. Wir haben diese Macht dann mit einer immateriellen Ressource übersetzt: In eine für uns derzeit noch unvorstellbare, aber nicht sonderlich unwahrscheinliche Privatisierung von Sauerstoff. Das schien uns erschreckend naheliegend, wenn man sich den Handel mit Sauerstoff in manchen Ländern während der Corona-Pandemie ansieht oder die Privatisierung von Wasser – auch ein Grundelement unseres Planeten. Giulia hat dieses Thema komplett in ihrem Regiekonzept und der Inszenierung ausgeformt. Aus dieser Idee entstand auch mein Bühnenbild. Es galt, verschiedene Ausgangsgedanken für den Raum zu verbinden: Ich habe einen „Behälter“ gesucht, der zur „Konservierung“ des unsichtbaren Sauerstoffs dient. Daraus sind die Schläuche entstanden. Ich interessiere mich sehr für Transformation im Bühnenbild - Bewegung, die wir auch für den „Sturm“ gesucht hatten. Daraus entstand der Gedanke, den Vorgang der Atmung in irgendeiner Form im Bühnenbild darzustellen. Entstanden ist daraus eine übergroße, abstrakte Lunge. Sie wurde auch als Tintenfisch, Oktopus, Qualle, Spinne oder Alien bezeichnet. Ihr dürft dieses Wesen deuten, wie ihr wollt. Aber es ist ein Wesen. Diese Lunge ist zu Beginn in einem eingedrehten, erwürgten Zustand. Prospero hat schon fast komplett die Luft abgedreht. Im Laufe des Stücks, mit Erwachen von Sycorax, beginnt die Lunge sich auszudrehen, zu atmen, sich zu entkleben, bis zur völligen Entknotung. Zum Stückschluss werden die Schläuche angehoben. Wir versuchen, die Gravitation zu entkoppeln, um die völlige Befreiung, das Aufatmen, das Leben, das Schweben zu erreichen. Ein paar zusätzliche Elemente unterstützen den Gedanken des Sauerstoffs und des Lebens: eine pulsierende Videoprojektion, Wind, Nebel, Schnee, Licht und Sauerstoffflaschen.
Adelina Yefimenko: Wenn Deine Gedanken, Reflexionen und Überlegungen für Dich klar und differenziert erscheinen, wie realisierst Du die praktischen Aufgaben, die Phase der Fertigung des Stücks? Wann brauchst Du bewusst den genauen Plan, und wann kannst Du simultan denken und handeln? Erzähle etwas genauer über die praktische Realisation Deines Bühnenbildes mit diesen spektakulären Röhren, die dazu noch beleuchtet sind und beweglich, wie lebendige Wesen, Schlangen und Ungeheuer.
Anna Schöttl: Als Erstes muss ich dazu einmal sehr die Werkstätten, die Technik und die Ausstattungsassistentin Sidonia Helfenstein an dieser Stelle erwähnen. Sie haben sich vollkommen auf unsere Idee eingelassen und wirklich mit Hocheifer und viel Liebe ein tolles Bühnenbild hingezaubert. Der Weg dahin war ein langer und aufregender. Wir hatten uns ungefähr 1 ½ Jahre – 1 Jahr zuvor an das Stück gesetzt. Jedes Team geht anders an eine Konzeptentwicklung heran. Wir haben uns erst einmal jede:r für sich mit dem Stoff und den immanenten Themen beschäftigt und auseinandergesetzt. Wir haben versucht, so viel wie möglich von der Haas´schen Musik zu erfahren. Wie vorab beschrieben, gab es auch viele Treffen und inhaltliche Gespräche. In dieser Zeit haben wir noch nicht an einen Raum gedacht. Ich habe zu einem der Treffen dann Stimmungsbilder – sogenannte Moods –mitgebracht. Mithilfe derer haben wir uns auf Atmosphären verständigt. Dann kamen konkretere Gespräche zum Raum. Diesen haben wir mehrmals komplett verändert, weil er sich noch nicht richtig angefühlt hat. Dann kam irgendwann die konkrete Idee der Lunge. Dieses Mal habe ich dazu Handzeichnungen gemacht. Auf diese ist das Modell, das Du gesehen hast, gefolgt. Im Theater wird sehr häufig noch ein Modell in verschiedenen Maßstäben gebaut. Ich habe in 1:33 1/3 gebaut. Modelle sind für manche Regisseur:innen sehr hilfreich, um den dreidimensionalen Raum zu greifen. Außerdem brauchen die Werkstätten ein Modell, um Oberflächenstrukturen bearbeiten zu können. Teilweise parallel zum Modell arbeite ich an technischen Zeichnungen in einem CAD Programm. Dann wird es wirklich konkret. Man sieht: was funktioniert technisch, und was nicht? Als all das „fertig“ war, haben wir unser Konzept zuerst der Intendanz und dann der Technischen Direktion präsentiert. Daraufhin folgen meistens viele Gespräche über die technische Umsetzbarkeit. Ein großes Problem derzeit sind Lieferengpässe und massive Preissteigerungen, die bereits durch Corona stattgefunden haben und mit Kriegsausbruch noch verstärkt wurden. Anfang März 2022 hat dann eine sogenannte Bauprobe stattgefunden. Auf dieser wird das Bühnenbild markiert dargestellt und Proportionen können überprüft werden. Nach der Werkstattabgabe startet dann der Materialeinkauf und die Konstruktion des Ganzen. Das ist für einen Bühnenbildner manchmal wie ein zweiter Geburtstag, wenn man den Entstehungsprozess des „Babys“ in den Werkstätten mitverfolgt. Sechs Wochen vor Premiere starten dann die Proben. Zuerst auf einer Probebühne und irgendwann dann auf der Bühne im Bühnenbild. Ich LIEBE diese Entfaltung eines Stückes.
Adelina Yefimenko: Gab es im Prozess Phasen, in denen Du das Gefühl hattest, dass Deine Arbeit erledigt ist und die Anderen, bzw. die Sänger, die Dirigenten mit dem Chor und Orchester usw., die weitere Arbeit machen sollen?
Anna Schöttl: Theater ist glücklicherweise ein Teamsport. Das führt natürlich häufig zu Diskussionen. Diese sind aber meistens auch fruchtbar. Ich finde es toll, wie jeder und jede eine Expert:in in der eigenen Profession ist. Wenn man alles zusammenführt, entsteht hoffentlich eine tolle Arbeit. Natürlich kann ich in der musikalischen Arbeit nicht so sehr in die Tiefe gehend mitreden. Das überlasse ich dem Dirigenten, den Darsteller:innen und der Regie. Aber meine Arbeit ist eigentlich bis kurz vor der Premiere nicht „erledigt“. Wenn das Bühnenbild mal „fertig“ aufgebaut ist – ein Prozess, der teilweise auch erst kurz vor der Premiere, wenn überhaupt, vollendet ist –, kommt noch ein sehr wichtiger Baustein: die dreidimensionale Farbe im Raum – das Licht.
Adelina Yefimenko: Georg Friedrich Haas’ Musik wirkt wie eine vibrierende Substanz. Im Vergleich mit den Extremen der vorherigen Premiere in München („Bluthaus“) klang sie sehr transparent. Dabei ist seine Kompositionsmethode sehr erstaunlich. Der Komponist selbst erzählte über das Orchester aus zwanzig Streichinstrumenten, die während der Aufführung „schräg gegeneinander“ spielen und dafür „in Sechstel- und Vierteltönen, bis zu einer großen Sekund tiefer“ ihre Saiten umstimmen mussten. Der Effekt ist unerwartet faszinierend, wenn die Melodien diese verstimmte Unisono spielen. Der Komponist findet „eine andere Form von Harmonie“. Der Eindruck, diese „Tonhöhen-Wolken“ beschreiben wirklich „ungefähr ganz genau“ (Stichwort von Georg Friedrich Haas) die Imagination des Inhaltes der Oper über Sauerstoff, Luft und Freiheit, die zuerst eingesperrt und dann von Sycorax befreit wurde. Wie „ungefähr ganz genau“ hat die Musik Deine Szenischen Ideen beeinflusst?
Anna Schöttl: Ich finde Deine Beschreibung sehr schön. Wie bereits erwähnt, kannte ich die konkrete Musik bis kurz vor Probenbeginn nicht. Wir hatten uns zu Gesprächen mit Georg Friedrich vorab getroffen. Das war sehr gut! Und natürlich durften wir andere seiner Arbeiten erleben. Außerdem hatten wir die Chance, im Mai 2022 ersten Orchesterproben beizuwohnen. Bei diesen kam, glaube ich, von uns allen ein großes Aufatmen – im wahrsten Sinne des Wortes. Wir hatten das Gefühl, dass alles – Musik und Konzept – in einer gemeinsamen Atmosphäre ineinanderfließt. Die Zusammenarbeit mit Georg Friedrich war auch eine sehr schöne, sehr Emotionale. Ich finde seine Klänge faszinierend und wundervoll stark. Ich glaube, er mochte unser Konzept und mein Bühnenbild. Das hat uns natürlich beruhigt. Wir hatten natürlich auch einige Elemente auf Georg Friedrichs Komposition hin entwickelt: So war zum Beispiel das Ausdrehen der Lunge sehr genau auf das von Dir beschriebene Umstimmen abgestimmt. Wir haben versucht, sehr der musikalischen Stimmung zu folgen.
Adelina Yefimenko: In deinem Bühnenbild werden die Protagonisten vollkommen von dem katastrophalen Zustand, hervorgerufen durch den Sauerstoffmangel, einverleibt und wirken völlig abgestumpft. Ist das auch ein bewusster Hinweis auf den lethargischen Zustand der Menschen im Hinblick auf die großen Probleme wie Klimakatastrophe und Krieg?
Anna Schöttl: Natürlich. Wir haben eine dystopische Zukunft auf einem anderen Planeten erdacht. Natürlich hoffen wir alle, dass diese nicht eintrifft. Zumindest nicht als Dystopie. Oder hat sie schon begonnen? Wir fanden den Gedanken spannend, mit Hinblick auf Elon Musks Zukunftsvision und der Kolonisierung (man beachte das Wort) des Mars, die Insel mit einem fernen Planeten zu übersetzen. Man muss sich im Hinblick auf den Zustand unserer Erde sehr genau überlegen, in welcher Beziehung man auf bzw. mit so einem Planeten lebt. Der Schlüsselbegriff ist vermutlich Balance. In vielerlei Hinsicht leben wir alle in einem Ungleichgewicht – schon seit vielen Jahren. Sycorax stellt im Stück das Gleichgewicht, die Symbiose mit der Insel wieder her. Ist das nicht unser aller Wunschgedanke?
Adelina Yefimenko: Wie stark ist die Kraft der Bilder für die Oper? Wie geschieht ihre Kommunikation im Team, das die Oper produziert? Glaubt ihr, dass eine zeitgenössische Oper wie Sycorax die Welt verbessern kann und die Kolonialisten, Diktatoren und klimaschädliche Subventionen zu stoppen vermag, wenn Ihr euer Gesamtkunstwerk dem Publikum zeigt?
Anna Schöttl: Keiner von uns versucht, mit erhobenem Zeigefinger auf das Publikum zuzugehen. Das können wir auch gar nicht. Ich denke, es ist wertvoll, wenn Oper als solche, und vielleicht im Speziellen moderne Oper, einen Dialog hervorruft – eine Diskussion. Das hoffen wir doch alle. Wenn die Bilder Emotionen auslösen, in welcher Form auch immer, dann hat man denke ich etwas „erreicht“.
Adelina Yefimenko: Ich kenne Dich seit einigen Jahren als Freundin der Ukraine und der ukrainischen Oper. Du kooperierst mit dem nationalen Lwiw National Opernhaus „Solomiya Kruschelnytska“ und hast die beiden Opern Sokil und Alcide von Dmytro Bortnjanskyj zusammen mit dem Regisseur Andreas Weirich im Jahr 2021 inszeniert.
Gleich nach der Uraufführung von Sycorax flogen Du und Andreas nach Lwiw zum nächsten Projekt. Euer Mut, in ein Land zu fliegen, wo Krieg, Zerstörungen und Massenmord an den Ukrainern durch die Russen herrschen, verdient sehr große Achtung und Dankbarkeit. In Deinem Studio habe ich das Bühnenbild zur neuen Oper Schreckliche Rache von einem der bedeutendsten ukrainischen Komponisten - Jewhen Stankowytsch sehen dürfen und wurde vom Miniaturmodell sehr angezogen. Die Premiere wird Ende November 2022 stattfinden. Der Komponist wird vermutlich bei der Premiere anwesend sein und feiert dieses Jahr sein 80jähriges Geburtstagsjubiläum. Kannst Du zum Schluss unseres Gespräches einige Ideen dieser Inszenierung und Deiner Bühnen- und Kostümideen verraten?
Anna Schöttl: Stankowytschs Oper Schreckliche Rache basiert auf dem gleichnamigen Roman von Mykola Gogol und ist eine Horrorgeschichte über einen großen Rachefluch, über Kosaken, über den Fluss Dnepr und das ukrainische Volk aus einer bestimmten Zeit. Ein Hexer tritt auf, auf dem der furchtbare Fluch liegt, alles um sich herum zu vernichten. Er ist, wenn man so will, das absolut Böse – vielleicht der Krieg selbst? Wir haben eine Horror-Collage, mit dem Einfluss verschiedener Zeiten, um die Figuren herum gebaut. Die Szenen fließen alptraumhaft ineinander. Der Regisseur hat mit dem Satz „Wenn der Hexer auftritt, ist das wie der erste Kratzer im Parkett“ den Meilenstein für mein Bühnenbild gelegt. Das Ganze spielt auf einer großen Parkettplattform, die mit einem Kreuzmuster ein wichtiges Gogol-Motiv aufgreift – die Religion. Im Laufe des Stückes entstehen einzelne Szenen auf dieser Plattform. Sie entfaltet sich sogar weiter zum Fluss Dnepr und bricht wieder zusammen. Realität und Wahnsinn greifen ineinander über – wir erleben die Geschichte um den Hexer, seine Tochter Katharina und deren Mann Danylo alptraumhaft. Auf die derzeitige Situation bezogen wollen wir am Schluss den Fluch brechen und zumindest auf der Bühne hoffentlich dem Wahnsinn ein Ende bereiten.