Berlin, Staatsoper im Schillertheater, INFEKTION! Festival für Neues Musiktheater, IOCO Kritik, Juni 2013

Berlin, Staatsoper im Schillertheater, INFEKTION! Festival für Neues Musiktheater, IOCO Kritik, Juni 2013
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Staatsoper im Schiller Theater

INFEKTION! Festival für Neues Musiktheater. 14. - 30.06.2013

Staatsoper im Schiller Theater / Maraike Schröter, Gyula Orendt, Ursina Lardi, Franz Hartwig, Stefan Stern, Luise Wolfram, Jorijn Vriesendorp, Steven Michel © Arno Declair
Staatsoper im Schiller Theater / Maraike Schröter, Gyula Orendt, Ursina Lardi, Franz Hartwig, Stefan Stern, Luise Wolfram, Jorijn Vriesendorp, Steven Michel © Arno Declair

Bereits zum dritten Mal fand zum Abschluss der diesjährigen Spielzeit das von der Staatsoper Berlin etablierte Festival für Neues Musiktheater statt.

Diesmal mit der zusätzlichen Mitwirkung von Falk Richter und der Schaubühne Berlin. In drei verschiedenen Spielstätten – Großen Haus, Werkstatt, Schaubühne – wurden vom 14. – 30. Juni fünf verschiedenartige Neuproduktionen und Beispiele des experimentellen Musiktheaters gezeigt, wovon zwei Uraufführungen waren.

„For The Disconnected Child“ von Falk Richter (14.06.2013, Uraufführung)

Eröffnet wurde das Festival mit dem Stück „For The Disconnected Child“, eine Koproduktion der Staatsoper mit der Schaubühne Berlin. Richter, deutscher Regisseur und Autor Jahrgang ’69, ist hier nicht nur der hervorragende und von den Darstellern blendend interpretierte Text und eine intelligente und packende Inszenierung zuzuschreiben, sondern ihm ist auch gelungen, Opernsänger, Schauspieler, Tänzer und Musiker verschiedenartiger musikalischer Ausrichtungen gleichwertig in einem großartigen Crossover-Werk erfolgreich miteinander zusammengeführt zu haben. Wie ein großes Puzzle fügt sich klug jedes Element dem anderen.

Staatsoper im Schiller Theater / Helgi Hrafn Jónsson © Arno Declair
Staatsoper im Schiller Theater / Helgi Hrafn Jónsson © Arno Declair

Ob gesprochen, gesungen oder getanzt – ob klassischer Opern- und Liedgesang (Tschaikowski, Puccini, Schubert), Songwriting, Elektronik, neue oder avancierte zeitgenössische Musik (Kompositionen von Malte Beckenbach, Achim Bornhoeft, Oliver Frick, Helgi Hrafn Jónsson, Jan Kopp, Jörg Mainka und Oliver Prechtl), es sind alles ebenbürtige Begegnungen. Nichts davon kann man und will man missen, denn alles hat seine Berechtigung in der Darstellung dieses Kosmos von ewig suchenden, von der Fülle der unendlichen Möglichkeiten unserer Zeit überforderten und untergehenden Figuren, die immer wieder in Relation mit den Geschichten und der Musik aus Tschaikowskis romantischer Oper „Eugen Onegin“ – zentraler Vergleichspunkt des Werkes – gesetzt werden.

Großartig und sehr beeindruckend die Darbietung aller Mitwirkenden: Der hamburgische Dirigent Wolfram-Maria Märtig, die Schauspieler der Schaubühne (Franz Hartwig, Ursina Lardi, Stefan Stern, Tilman Strauß und Luise Wolfram), die Tänzer (Steven Michel, Franz Rogowski, Jorijn Vriesendorp) und die Sänger der Staatsoper (Borjana Mateewa/ Mezzosopran, Gyula Orendt/ Bariton), Maraike Schröter/ Sopran). Alle von darstellerischer und vokaler großer Präsenz. Hervorragend der Sänger und Komponist Helgi Hrafn Jónsson in der Interpretation seiner eigenen Songs.

Bestens konzipiert und genutzt auch der Bühnenraum von Katrin Hoffmann und Chris Kondek (Video).

Begeisterter Applaus für eine rundum sehr gelungene und besonders empfehlenswerte Produktion!

"AscheMOND oder The Fairy Queen" von Helmut Oehring (16.06., Uraufführung)

Staatsoper im Schillertheater / Aschemond Topi Lehtipuu, Ulrich Matthes, Tanja Ariane Baumgartner © Monika Rittershaus
Staatsoper im Schillertheater / Aschemond Topi Lehtipuu, Ulrich Matthes, Tanja Ariane Baumgartner © Monika Rittershaus

Als zweite Produktion des Festivals wurde das Auftragswerk der Staatsoper unter den Linden "AscheMOND oder The Fairy Queen" von dem renommierten Komponisten Helmut Oehring präsentiert.

Unter Verwendung von Musik von Henry Purcell, sowohl mit eigenen Texten wie auch Texten von Shakespeare, Heinrich Heine, Adalbert Stifter und anderen, hat Oehring gemeinsam mit seiner Frau Stefanie Wördemann, verantwortlich für das Libretto, diese, wie sie es nennen, „Hymne auf die Vergänglichkeit“ geschaffen.

Im Mittelpunkt dieser im ständigen Dialog mit der Semi-Oper von PurcellThe Fairy Queen“ und Shakespeare’sMidsummer Night’s Dream“ stehenden Oper ist die Sonnenfinsternis, bei der sich, wie die Sonne und der Mond, Mann und Frau ganz nah kommen, um dann wieder aneinander im Fluss der Jahreszeiten vorbeizuziehen.

Der Theaterregisseur Claus Guth erzählt in seiner Inszenierung, anhand der gemeinsam mit dem Komponisten erdachten Geschichte, von komplizierten, zwischenmenschlichen Beziehungen, insbesondere zwischen Mann und Frau.

Staatsoper im Schillertheater / Aschemond Bejun Mehta © Monika Rittershaus
Staatsoper im Schillertheater / Aschemond Bejun Mehta © Monika Rittershaus

Ein Mann kehrt in sein leer stehendes Elternhaus zurück (Ausstattung: Christian Schmidt, Video: Kai Ehlers), um dem Selbstmord seiner Mutter auf den Grund zu gehen, ihn zu verstehen. Düster und beklemmend, wie in Ingmar Bergmanns Filmen, schwelgt der Mann (Schauspieler Ulrich Matthes) in Erinnerungen – sieht sich wieder als kleiner Junge und durchlebt den Tag und die dem Suizid vorangehenden Situationen in verschiedenen möglichen Varianten. Hervorragend, vokal wie darstellerisch, das Sängerensemble; Marlis Petersen, Tanja Ariane Baumgartner, Topi Lehtipuu und Roman Trekel – ganz besonders der Countertenor Bejun Metha. Lobenswert auch der Staatsopernchor, sowie die Gebärdensolistin Christina Schönfeld, hier als die gute Seele, oder die gute Fee des Hauses.

Die Musik, unter der brillanten Leitung von Johannes Kalitzke (Gesamtleitung) und Benjamin Bayl (Leitung der Akademie für Alte Musik Berlin), ist eine Mischung aus Purcells Kompositionen – original, neu orchestriert oder verfremdet – und Neuer Musik, reich an Elektronik.

Viel Beifall für die höchst gelungene und interessante Produktion, auch wenn in seiner ohne Pause über 2-stündigen Aufführungsdauer vielleicht etwas zu lang.

"Récitations" von Georges Aperghis (20.06., Premiere)

Als dritte Produktion in Folge die Premiere von „Récitations“ Ende der 70er Jahre vom griechischen Komponisten Georges Apherghis komponiert.

Präsentiert wurde hier das musikalische Werk für Stimme solo, auf der kleinen Werkstattbühne der Staatsoper, in einer spielerischen und das Publikum einbeziehenden Inszenierung von Elisabeth Stöppler. Sowohl köstlich amüsant als auch bewundernswert ist die witzig-clowneske Gestaltung von Uta Buchheister. Virtuos interpretiert die Mezzosopranistin und Interpretin zeitgenössischer Musik, mit Hilfe verschiedener Stimmtechniken die unterschiedlichen Klänge, Laute oder Silben der 14 musikalischen Stücke. Bravo für diese diffizile One Woman Leistung!

"Europeras 3/ Europeras 4" von John Cage (23.06.)

Fortgesetzt wurde das Festival mit „Europeras 3“ und „Europeras 4“. Die beiden Kammeropern, Teil einer Serie von fünf Opern von John Cage – einem der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts und Anreger der Neuen Improvisationsmusik, sind als Dekonstruktion der Oper des 18. und 19. Jahrhunderts und gleichzeitig als Hommage an dieselbige anzusehen. Mal alleine, mal in Überlappung mit einem anderen Sänger, Klavier oder einer Schallplattenaufnahme, singen Sängerinnen und Sänger Arien aus dem Opernrepertoire (von Mozart bis Wagner) und kreieren so, mit Hilfe von vertrautem, musikalischem Material ein neues Klangereignis. Alles wird dabei dem Zufall überlassen; die Position der Darsteller auf der Bühne, die Wahl der Gegenstände oder die Anzahl und Position der Scheinwerfer. Nach dem Zufallsprinzip festgelegte Zeiten diktieren den Ablauf und die Aktionen jedes einzelnen Mitwirkenden und die klassische Funktion des Dirigenten übernimmt hierbei die Uhr, die während der ganzen Aufführung läuft.

Nach diesen gleichen Regeln fand auch die Aufführung der beiden Werke auf der Werkstattbühne der Staatoper statt und das interessierte Publikum mittendrin.

Beachtlich war die sängerische Darbietung aller Solisten; Katharina Kammerloher, Paul O’Neill, Alfredo Daza, Tobias Schabel, Alin Anca, Narine Yeghiyan, Reiner Goldberg und herausragend die stimmliche Qualität und Interpretation der aus Süd Korea stammenden Sopranistin Esther Lee. An den Klavieren spielten Jenny Kim, Robert Farkas und Günther Albers.

"Hanjo" von Tishio Hosokawa (30.06.)

Mit der Oper in einem Akt des japanischen zeitgenössischen Komponisten Tishio Hosokawa (Premiere am 22.06) endete das diesjährige Festival für Neues Musiktheater „Infektion!“.

Die Oper, nach einem Nô-Spiel von Yukio Mishima, erzählt vom Warten. Von einer Ex-Geisha, die durch das jahrelange Warten auf ihren Geliebten wahnsinnig wird und als sie ihn dann schließlich vor sich hat, ihn nicht mehr erkennt. Das während des Wartens in ihrem Kopf entstandene Bild hat die Realität ersetzt. Das Warten findet somit keine Erlösung, bzw. findet seine Erlösung im Warten selbst.

Hosokawa, dessen Kompositionen außer Orchesterwerken, Solokonzerten und Kammermusikwerken auch Filmmusik umfasst, schafft hier einen faszinierenden Klangteppich von traumhafter Atmosphäre und Leichtigkeit, meisterhaft ausgeführt von der Staatskapelle Berlin unter der musikalischen Leitung von Günther Albers, Dirigent, Chorleiter und Liedbegleiter.

Mit einfachen Bildern (Bühnenbild von Susanne Gschwender, Kostüme Anna Eiermann) schafft der spanische Regisseur Calixto Bieito mit seiner Inszenierung Momente von großer Eindringlichkeit. Voller vokaler wie darstellerischer Intensität und Hingabe die Interpretation des Sängertrios; die schwedische Sopranistin Ingela Bohlin, die Mezzosopranistin Ursula Hesse von den Steinen und der Bariton Georg Nigl, die vom Publikum mit viel Applaus honoriert wurde.

Mit dieser Produktion endete das diesjährige Festival für Neues MusiktheaterInfektion!“. Auch diesmal war das Festival eine hervorragende Gelegenheit, zwei Wochen lang sich mit Neugier und offenen Sinnen auf das Geschehen des zeitgenössischen Musiktheaters einzulassen und seine unterschiedlichen Wege, zukunftweisenden Ansätze und spannenden Werke kennen zu lernen.

IOCO / G.G. Juni 2013

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