Berlin, Komische Oper, HÄNSEL UND GRETEL - Engelbert Humperdinck, IOCO
Das Geheimnis von Dagmar Manzels Inszenierung an der Komischen Oper Berlin liegt darin, dass sie diese Faszination verstanden hat und in ihrer Hingabe an die Motive, das Wesen der Figuren und die Musik Humperdincks.

von Karin Hasenstein
Hänsel und Gretel
Engelbert Humperdinck
Märchenspiel in drei Bildern (1893)
Libretto von Adelheid Wette
Komische Oper Berlin, Vorstellung am 21.02.2025
„Du musst deine Kindheit in die Tasche stecken und dein ganzes Leben lang mit dir tragen!“ Max Reinhardt
Seit der Premiere am 25. Januar 2025 begeistert die Neuinszenierung der Märchenoper Hänsel und Gretel an der Komischen Oper Berlin der Schauspielerin und Regisseurin Dagmar Manzel Groß und Klein. Worin liegt das Besondere dieser üppig ausgestatteten stark bebilderten Inszenierung? Dagmar Manzel sagt: „Ich habe einfach angefangen, meiner Phantasie zu folgen…“ Das Ergebnis ist ein schön erzähltes Märchen voller Rätsel, ein Rausch der Bilder und Gefühle. Rätsel und Geheimnisse spielen im Märchen eine große Rolle.
In Hänsel und Gretel hat die Zahl 14, also 2x7, eine wichtige Bedeutung. Es sind die 14 Englein, die die Kinder im Schlaf behüten. Wir hören rätselhafte Zaubersprüche der Hexe, uns begegnen viele geheimnisvolle Wesen wie Sand- und Taumännchen. Für viele ist Hänsel und Gretel die erste Oper, die sie als Kinder gehört haben, der eine oder andere hat sie vielleicht sogar im Kinderchor mitgesungen. In einer Märchenoper kann man Kinder und Erwachsene gut zusammenführen, wie in keiner anderen Kunstform. Normalerweise werden in der Oper alle Rollen von Erwachsenen gespielt. Dagmar Manzel lässt von Anfang an Kinder die Geschichte erzählen und mitgestalten. Sonst gibt es nur einen Auftritt von Kindern, als die Kuchenkinder und somit als Opfer. Hier schlüpfen die Kinder in die unterschiedlichsten Rollen wie Hexen, Fabelwesen, Hieronymus-Bosch-Figuren u.a. bis hin zum Himmlischen Kind, das zusammen mit dem Komödianten (Manni Laudenbach) durch die Geschichte führt. Kinder achten anders als Erwachsene darauf, wie sich ein Baum oder ein Tier bewegt oder wie das Häuschen läuft.

Ein Bühnenbild, das mehr Bewegung ist als ein Ort
Bühnenbildner Korbinian Schmitz und Kostümbildnerin Viktoria Behr, auch Choreograph Christoph Jonas, tragen mit dazu bei Tanz, Spiel, Musik, Gesang, Oper, Kinder und Erwachsene miteinander zu verbinden. Die Musik Humperdincks schreit nach Tanz! Alles ist miteinander verwoben, alles aus einem Guss. Der Grundgedanke der Produktion ist, dass das Bühnenbild leicht ist, dass es lebt, dass es lebendige Bilder sind. Nichts ist von Dauer, alles verändert sich. Das Bühnenbild besteht zu einem großen Teil aus sich verwandelnden Tänzer*innen. Die verschiedenen Wesen kommen mal aus der Erde, mal aus der Luft, dann wieder von allen Seiten huschen sie durch den Wald. Die Bäume sind nicht verwurzelt, sie bewegen sich und sprechen auch schon mal, das Hexenhaus tanzt umher.
Entscheidung für den Dessauer Schluss
Dagmar Manzel will erzählen, dass all die Wesen, die vom Komödianten und dem Himmlischen Kind eingeführt werden, auch wieder verschwinden. Alles findet nur in der Phantasie, im Kopf statt. Daher verschwinden alles Fabelwesen wieder in der Märchenwelt, hinten durch die Tür, die dann verschlossen wird und die Geschichte ist zu Ende. Eigentlich treten im Dessauer Schluss Kinder mit Trommeln, Flöten und Triangeln auf. Das Team um Dagmar Manzel hat diesen Schluss gewählt, weil er nicht so abrupt ist wie das Original. Die Botschaft der Oper, dass Gott hilft, wenn die Not am größten ist und man die Hoffnung nicht aufgeben soll, bleibt aber erhalten.
Wer ist die Knusperhexe?
Die Figur der Knusperhexe ist auch ein bisschen lächerlich. Alleine ihr Name: „Ich bin Rosina Leckermaul!“ provoziert Lachsalven. Sie wirkt wie eine liebe Oma, die die Kinder mit Freundlichkeit und Kuchen in ihr Häuschen lockt. Aber mit der Zeit zeigt sie ihren wahren Charakter und lockt die Kinder in die Falle. Sie entwickelt sich zum Monster. Sie ist verrückt und selbst ein wahnsinniges, gefährliches Kind. Sie verschlingt unschuldige kleine Kinder. So einen Wahnsinn kann man nur im Märchen und mit Humor erzählen. Das Libretto von Adelheid Wette enthält viel Humor. Dieser zeigt sich im ersten Bild bei der Mutter „Wer spek-spektakelt mir da im Haus?“ oder beim heimkehrenden Vater „Ralalala“, weil er kein Tralalala mehr herausbringt.

Die Musik - Ein Märchenwald voller Ohrwürmer
Die Oper Hänsel und Gretel ist so beliebt, weil sie so schön zu dirigieren, zu singen und zu hören ist. Nichts ist dem Zufall überlassen. Humperdinck hat mit großer Vorliebe Märchenstoffe vertont. Seine Musik passt einfach so gut zur Märchenwelt. Für Hänsel und Gretel hat Humperdinck mit seiner Schwester Adelheid Wette zusammen bearbeitet. Die Beiden haben das Stück von Anfang bis Ende gemeinsam gebaut. Alles ist fantasievoll und logisch aufeinander aufgebaut. Die Anweisungen für die Bühne hört man im Orchester. Dafür hat sich Humperdinck des Klangs seines großen Vorbildes Richard Wagners bedient, welchen er mit Richard Strauss gemischt hat. Diese besondere Klangzusammensetzung bietet die ideale Grundlage für Humperdincks Märchenwelt. Die Nähe zu Wagner findet sich auch im Untertitel „Ein Kinderstubenweihfestspiel“ in Anlehnung an Parsifal, der keine Oper ist, sondern ein Bühnenweihfestspiel. Besonders bemerkenswert sind die Vor- und Zwischenspiele instrumentiert. Auch hier ist es wieder die Stelle, wenn die Mutter alleine zurückbleibt. Ihr „Müde bin ich“ lässt einen sofort an Parsifal denken. Ein weiteres Wagner-Zitat steckt im Hexenritt, wo sich zwischen den ersten und zweiten Geigen ein wahrer Walkürenritt vollzieht. Humperdinck verwendet hier hemmungslos mehrere Wagner-Zitate, auch in der Instrumentierung. Er versucht nicht zu verstecken, bei wem er sich musikalisch orientiert hat.
Die Knusperhexe – eine bemerkenswerte Partie
Die Hexe ist eine sehr ambivalente Figur, wie bereits erwähnt. Sie kann sowohl von einem Mann (Tenor) als auch von einer Frau (Mezzosopran) gesungen werden. Den größeren Reiz übt aber in jedem Fall ein Tenor aus, weil durch die Stimmlage schon von vornherein klar ist, dass mit dieser Hexe etwas nicht stimmen kann. Die Knusperhexe ist eine sehr vielseitige Rolle. Man weiß bei ihr nicht, woran man ist. Manchmal ist sie richtig liebenswert und nett, dann schlägt ihre Haltung komplett um und sie ist furchteinflößend, aber im nächsten Augenblick schon wieder zuckersüß. Dieser Wechsel macht sie so angsteinflößend. Allein das ist schon eine große Herausforderung für den Darsteller, und dann kommen noch Bewegung, Spiel und Choreografie hinzu. Problematisch allerdings ist der Drang der Hexe, kleine Kinder zu backen und zu fressen.

Der Wald als Ort der Idylle wie der Reizüberflutung
Motive von Hieronymus Bosch – ein Fisch mit Segelmast, ein Vogel auf Schlittschuhen, andere hybride Kreaturen, halluzinatorische Fabelwesen, Motive aus dem Hexenhammer. Das Feld hat Augen, der Wald hat Ohren: die Bäume haben Augen, die bisweilen aufleuchten, eine Tänzerin hat wie zwei Flügel Ohren auf dem Rücken und bewegt sich durch den Wald. Die Sinnesorgane sind nur menschliche Fragmente. Die Märchenwelt ist ein Reich der Rätsel und Geheimnisse (beispielhaft hierfür ist das Rätsellied „Ein Männlein steht im Walde“ – der Hagebutte wurde im Volksglauben schützende Wirkung zugeschrieben). In ihr herrscht die Macht des Zaubers und Freude am Schabernack. So müssen Lebkuchen folgerichtig nichts anderes sein als lebende Kuchen. Die Familie von Hänsel und Gretel sind Besenbinder, das verleiht dem Besen eine symbolische Vermittlerrolle. Der Besen wird zum Schlüssel zur Zauberwelt, in der die Hexen auf Besen reiten. Ebenso ist Humperdinck dem Zauber der Zahlen verfallen: in der Traumpantomime stehen die 14 Englein den 14 Eiern aus dem ersten Bild entgegen, die der Vater nach Hause bringt. Die Zahl 14 enthält zweimal die mystische Zahl sieben. Eine weitere Zahlenspielerei vollzieht sich im Hexeneinmaleins, dem gereimten Hokuspokus in der Hexenküche. Über die Zahlenmagie kommen wir zu einer weiteren Geheimschrift, dem um 1500 verfassten und bis heute nicht entschlüsselten Voynich-Manuskript. Neben zahlreichen undefinierbaren Mustern enthält es auch unzählige Abbildungen fiktiver Blüten, Blätter, Früchte und Wurzeln sowie Darstellungen nackter Frauen. Nichts davon konnte je entschlüsselt werden. Die menschliche Begeisterung für das Verschlüsseln und Entschlüsseln zieht sich jedoch durch alle Epochen und Altersstufen. Einzig das Schlüsselloch unserer Fantasie erlaubt uns, einen Blick in das Märchenreich zu werfen und jene wundersamen Fabelwesen zu bestaunen, die in der Welt der Träume zu Hause sind.
Eine Überdosis Romantik? Geht das?
Anders als von anderen Opern kann man von Hänsel und Gretel keine Überdosis bekommen. Hänsel und Gretel geht immer! Das ist die Erkenntnis nach bereits drei Hänsel und Gretel Vorstellungen in der laufenden Spielzeit. Die letzte liegt noch keine zwei Monate zurück. Woran liegt das? Ganz einfach: an der unvergleichlich schönen Musik von Engelbert Humperdinck und dem magischen Zauber der Märchenwelt, dem wir uns auch als Erwachsene nicht entziehen können. Mit großer Vorfreude und Spannung erwartete die Rezensentin die Neuinszenierung von Hänsel und Gretel an der Komischen Oper Berlin in der Regie von Dagmar Manzel. Die bekannte Schauspielerin und Regisseurin hat bereits Pippi Langstrumpf für die Komische Oper inszeniert und mit großem Erfolg auf die Bühne des Schillertheaters gebracht. Für die Neuinszenierung der beliebten Märchenoper greift sie tief in die Kiste der Fabel- und Zauberwelt.
Das Vorspiel erklingt bei geschlossenem Vorhang. Ruhig im Tempo und sanft im Mezzopiano dominiert das wunderbare Horn-Motiv. Das ruhige Dirigat von Yi-Chen Lin verströmt große Ruhe. Beim Wechsel zum Hexenthema zieht das Tempo spürbar an.

Der Vorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf eine Zeichnung zweier Figuren. Durch den Nebel erblicken wir ein kleines Mädchen im Nachthemd (das Himmlische Kind), welches das großformatige Bild mit den zwei merkwürdigen geflügelten Figuren mit Wurzelfüßen staunend betrachtet. Unter Blitzen und Wind erscheint eine weitere Figur, der Komödiant, und nimmt das Kind mit sich. Der Prospekt mit der Zeichnung wird nach oben gezogen und auf der linken Seite erscheint ein dunkles, kleines, mit Tüchern verhangenes Haus. Hänsel ist damit beschäftigt, einen Besen zu binden. Eine schwarze Katze streicht herum, im Haus geht das Licht an. Gretel kommt aus dem Haus. Sie strickt und singt dabei „Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?“ Die Kleidung der beiden Kinder ist schlicht und grau, Gretel trägt eine Bluse und ein Schürzenkleid darüber, Hänsel eine Art Anzug mit kurzen Hosen. Alles an der Szene wirkt grau und trostlos. Gretel fordert Hänsel auf „Brüderchen, komm, tanz mit mir!“ Der Bruder folgt ihrer Aufforderung nur widerwillig. Gretel gibt aber nicht nach, sondern wickelt den Bruder mit ihrem Strickgarn ein. Plötzlich kommt die Mutter hinzu. Sie ist ärgerlich, dass die Kinder, anstatt die ihnen übertragenen Aufgaben zu erledigen, nur gespielt und herumgealbert haben. In ihrem Ärger zerbricht sie mit dem Besen den Krug mit Rahm, den sie von der Nachbarin bekommen hat. Zur Strafe schickt sie die Kinder in den Wald zum Beerensammeln. Die Klage der Mutter „Müde bin ich“ erinnert an eine Szene aus Parsifal, nur eines von mehreren Wagner-Zitaten, die Humperdinck in Hänsel und Gretel eingewoben hat. Die Mutter geht ins Haus, die Katze streicht herum, und schließlich kommt der Vater nach Hause. Er trägt einen grauen Anzug und eine Mütze, auf dem Rücken einen schweren Rucksack voller leckerer Dinge. An der Art seines „Ralalala“-Gesangs ahnt man, dass er nicht ganz nüchtern ist. Die Mutter ist ärgerlich, „Wer spek-spektakelt mir da im Haus?“ Der Vater packt seinen Rucksack aus und die orange und gelb eingepackten Lebensmittel bilden einen starken Kontrast zu der ansonsten grauen tristen Szenerie. Aus Freude über die unverhofften Leckereien beginnen die Eltern ein Tänzchen. Die Ausgelassenheit hat jedoch ein jähes Ende, als der Vater erfährt, wohin die Kinder aufgebrochen sind: zum Ilsenstein! Jeder weiß doch, dass dort die Böse wohnt, die Knusperhexe! So erzählt er von der Hexe und der Bedeutung des Besens für den Hexenritt. Er berichtet, dass die Hexe kleine Kinder mit Zauberkuchen anlockt. Mit der Aussage „Wir wollen ja beide zum Hexenritt!“ fällt der Baum über dem Haus zusammen und sechs kleine Hexen auf der Bühne, Ballettschülerinnen, und eine große Hexe im Flugwerk über der Bühne illustrieren die Geschichte von der Hexe im Hexenwald. Im Hintergrund treten Bäume auf, in der Mitte der Bühne liegen Hänsel und Gretel auf einem kleinen grünen Hügel. Neben lebendigen Bäumen tauchen zahlreiche Zauberwesen auf. Riesige Käfer, Blüten und Bäume, ein Hagebuttenstrauch, ein riesiger Pilz und vieles mehr. Beim Rätsellied „Ein Männlein steht im Walde“ begeistert die Soloflöte. Hänsel ärgert den Strauch und erntet seine Früchte. Schließlich sind die Früchte alle vernascht. Der Ruf des Kuckucks ertönt. Das Himmlische Kind und der Komödiant erscheinen. Die Bäume bewegen sanft ihre Äste. Die Kinder essen die restlichen Erdbeeren auf. Es wird dunkel im Wald und die Bäume rücken ganz eng zusammen. Die Eltern suchen ihre Kinder im Wald. Hänsel stellt fest, dass er den Weg nicht mehr weiß. Die Bäume folgen den Kindern. Hänsel ruft „Wer da?“, erhält jedoch keine Antwort, nur das Echo aus dem Wald „Er da.. er da..“ Immer neue Fabelwesen erscheinen. Gretel glaubt, es sind die Nebelfrauen. Aus dem Off erklingt die Stimme des Sandmännchens, parallel dazu streut das Himmlische Kind den Kindern glitzernden Sand in die Augen, das Kind geht ab, bzw. es steigt wieder in den Wagen, mit dem es gekommen ist. Die Geschwister beten den Abendsegen und schlafen auf dem kleinen Hügel ein.

Abendsegen und Traumpantomime
Die Musik verändert sich und die Traumpantomime beginnt. Die Bäume fahren hoch und die Kinder liegen auf einem dicken Baumstumpf. Im Hintergrund ist der Mond aufgegangen. Das Mädchen verschwindet im Nebel, die Kinder träumen. Einer nach dem anderen kommen die 14 Engel auf die Szene. Einer kommt gar auf Rollschuhen herangefahren. Hier beweist Dagmar Manzel enorme Fantasie und Kreativität. Obwohl von wunderschöner romantischer Musik getragen kann die Szene manchmal Längen entwickeln, wenn einfach nur die 14 Engel aufmarschieren. Manzel bildet die ganze Traumpantomime ab, indem sie jedem Engel ein anderes Aussehen und einen anderen Charakter gibt. Einer fliegt über die Kinder hinweg, zwei tanzen, zwei kommen aus der Unterbühne, zwei weitere von den Seiten. Als das Thema erneut erklingt, stellen sich alle 14 Engel an der Rampe auf und hüllen die schlafenden Kinder in goldene Mäntel. Ein Engel vollführt auf einem Trapez akrobatische Kunststücke. Die anderen Engel tanzen, bis alle einheitlich nach links in die Gasse schauen. Der Vorhang fällt. Ein großes poetisches Tableau zur Pause.
Nach der Pause ertönt das „Backe, backe, Kuchen!“-Motiv, noch bei geschlossenem Vorhang. Der Komödiant tritt vor den Vorhang, schließlich bewegt sich dieser nach oben. Die Kinder schlafen noch auf ihrem Baumstumpf, und auch die Bäume um sie herum schlafen noch. Sie sind jetzt allerdings nicht mehr braun, sondern rot. Das Taumännchen im silbernen Kleid und Tautropfen am Hut weckt die kleinen Schläfer auf. Auch die Bäume erwachen nach und nach und strecken ihre Zweige aus. Die Bäume sind nun orange, rot, lila und pink. Gretel findet, es ist an der Zeit, wach zu werden „Tirilirili, s’ist nicht mehr früh!“ Immer noch schleichen merkwürdige Fabelwesen umher, wie etwa zwei große laufende Ohren oder zwei dicke Kulleraugen. Die Kinder realisieren, dass sie alles nur geträumt haben. Plötzlich taucht ein kleines, goldenes laufendes Häuschen auf Hühnerbeinen auf. Es tanzt zum Thema der Streicher „Wie duftet’s von Kuchen!“ Alle Kostüme der Zauberwesen, aber auch der Bäume sind unendlich liebevoll und detailreich. Schließlich bleibt das hühnerbeinige Häuschen vorne in der Mitte der Bühne stehen. Die Bäume gruppieren sich dahinter. Im Orchester erklingt das „Knusper, knusper, Knäuschen“-Motiv. Auf die Frage „Wer knuspert mir am Häuschen?“ erklingt die Antwort „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind!“ und die Bäume neigen dazu ihre Zweige. Gretel schnappt sich eine Tüte mit Leckereien vom Dach. „O köstlicher Kuchen!“
Mit der zweiten Strophe „Knusper, knusper, Knäuschen!“ kommt die Hexe zuerst mit einem Bein, dann mit dem Hinterteil voran, aus ihrem Häuschen auf die Bühne. Auch das Kostüm der Hexe ist ein schönes Beispiel dafür, wie liebe- und fantasievoll Dagmar Manzel und ihr Team vorgegangen sind. Rosina Leckermaul, so nennt sich die Hexe, erscheint zunächst wie eine liebe Omi mit blondem Knoten. Sie ist rund und gemütlich, gleichzeitig flink und agil. Sie trägt ein geblümtes Kleid mit einer bunten Schürze und einer gelben Strickjacke, die ein bisschen über dem gewaltigen Busen spannt. Als sie sich vorstellt, lachen die Kinder und die Hexe fällt mit einem herzhaften „Ha ha, ha ha!“ ein. Aber etwas kann mit ihr nicht stimmen, denn sogleich versucht sie, die Kinder zu verführen „Kommt, kleine Mäuslein, kommt in mein Häuslein, ihr sollt’s gut bei mir haben …“

Daniel Kirch stellt die Hexe mit großer schauspielerischer Leistung und starker Bühnenpräsenz dar. Er deklamiert und spielt intensiv, sodass sich Groß und Klein von Rosina Leckermaul verführen und betören lassen. Wer könnte dieser zauberhaften älteren Dame mit der riesigen Schokoladentorte samt Wunderkerzen widerstehen?! Neben ausgesprochen intensivem Spiel überzeugt Daniel Kirch auch mit seinem wandlungsfähigen etwas dunkler timbrierten Tenor. Wer den Heldentenor in den großen Wagnerrollen oder bei einem seiner Liederabende erlebt hat, weiß, welche unterschiedlichen Facetten er in seiner Stimme vereint. Als Hexe setzt er sie mal lockend-verführerisch, mal bedrohlich ein. Als Knusperhexe überzeugt er einmal mehr auch als Charaktertenor und zeigt, dass auch eine vermeintlich kleinere Rolle große Ausdrucksmöglichkeiten bietet. Gerade tänzelt die Hexe noch freundlich über die Bühne, da fliegt sie plötzlich über die Köpfe der Kinder hinweg auf ihrem Besen. Am Ende der wunderbar choreografierten Szene trägt sie einen schwarzen langen Mantel und einen Hexenhut und schnarcht ein. Hexe sein ist manchmal ganz schön anstrengend.
Mit einem Zauberspruch hat sie Hänsel inzwischen in einen großen Käfig gelockt und will ihn dort fettfüttern. Die Ohren schleichen wieder umher … was bekommen sie zu hören? Als die Hexe erneut auftaucht, verschwinden die Ohren wieder. Ein fahrbarer Ofen wird hereingebracht. Das Feuer brennt bereits. Nun offenbart Rosina Leckermaul ihr wahres Gesicht! „Friss, Vogel, oder stirb! Kuchenheil dir erwirb!“ Dabei scharwenzelt die Hexe mit lüsternem Blick um Hänsels Käfig herum, während die Bäume immerzu um die Hexe herumtanzen. Als Gretel ihr den Zauberstab weggenommen hat, reißt sie kurzerhand einen Zweig von einem der Bäume ab, der mit einem entrüsteten „Au!“ wegläuft.
Nun folgt der Hexengalopp. Die Hexe schnappt sich ihren Besen und tanzt damit. Auch die Bäume gesellen sich tanzend dazu. Plötzlich ist Rosina eine sehr junge agile Hexe und treibt ihren Besen an „Brr, Besen, hüh!“ In der Choreografie kommt auch das hühnerbeinige Hexenhaus zurück. Die Hexe prüft, ob ihre Bemühungen, Hänsel fett zu füttern, schon erfolgreich waren „Mein Jüngelchen, zeig mir dein Züngelchen!“ Diese Szene vereinigt so viele Details, dass man sie beim ersten Sehen gar nicht alle aufnehmen kann. So nascht zum Beispiel die Hexe von ihren eigenen Mandeln, die sie sich von Gretel aus dem Haus bringen lässt, und mit denen sie sodann Hänsel füttert. Da es mit dem Zunehmen nicht so klappt, wird die Hexe langsam ungeduldig. Großartig, wie Daniel Kirch die Entwicklung von der lieben Omi zur bösen Kinder fressenden Hexe vollzieht. Gretel soll nun prüfen, ob der Ofen schon heiß genug ist, weiß aber nicht, wie sie das anstellen soll. Herrlich, wie die Hexe es hier vormacht, „s’ist kinderleicht“ und im selben Moment selbst im Ofen landet. Ein weiteres wunderbares Detail ist das Gesicht der Hexe in den Flammen hinter der Scheibe! Die Kinder stimmen begeistert den Jubelgesang an „Juchei! Nun ist die Hexe tot!“ Das Orchester fällt in einen schweren tänzerischen 6/8-Rhythmus, die Bäume und Blätter, der ganze Hexenwald verschwindet, und auf der Bühne bleiben nur der Ofen und das Häuschen zurück. Plötzlich explodiert der Ofen mit einem lauten Knall und die Lebkuchenkinder treten in zwei Reihen auf.

Der Kinderchor der Komischen Oper Berlin interpretiert das Lied mit dem Erlösungsmotiv sauber in der Intonation und mit klar verständlichem Text. „Erlöst, befreit, für alle Zeit!“ Als der Charakter wechselt und überschwänglicher Dank ausgedrückt wird, fallen Hänsel und Gretel in den Lobgesang ein. Die Eltern kommen hinzu und entdecken die vermissten Kinder „Ey, da sind sie ja!“ Plötzlich wird die Knusperhexe als lebensgroßer Kuchen auf die Bühne gebracht und der Vater stimmt die Erkenntnis an „Wenn die Not auf Höchste steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht!“ Zum selten gespielten Dessauer Schluss verlässt das Kind die Märchenwelt durch die hintere Tür, der Komödiant zeigt uns das „ENDE“ des Stückes an, alle Bäume und Engel verlassen die Szene und die Tür schließt sich. Das Märchen ist aus.
Fazit:
Der Erfolg von Hänsel und Gretel über die Zeit liegt in unser aller Faszination für Märchen und Rätsel und das Geheimnisvolle überhaupt. Das Geheimnis von Dagmar Manzels Inszenierung an der Komischen Oper Berlin liegt darin, dass sie diese Faszination verstanden hat und in ihrer Hingabe an die Motive, das Wesen der Figuren und die Musik Humperdincks.
Die Solisten gehen alle in ihren Rollen auf und interpretieren sind sinnstiftend.
Elisabeth Wrede gibt einen munteren, etwas trotzigen Hänsel mit warmem Mezzosopran mit klarem Fokus und jugendlicher Spielfreude. Alma Sadé verleiht der Gretel jugendliche Leichtigkeit mit ihrem leicht metallischen Sopran, der in den Koloraturen (Tirilirli) leicht perlt. Mirka Wagner singt eine bedrückte und besorgte Mutter, die auch bei den leisen Tönen (Müde bin ich) mit gut geführtem Sopran beeindruckt. Joachim Goltz interpretiert den Vater mit großer Spielfreude und dunkel timbrierten Bariton, mal polternd, mal tänzerisch-leicht. Der Tenor Daniel Kirch legt enorme Spielfreude und stimmliche Gestaltung in die Verkörperung der Knusperhexe. Neben seinem flexiblen, gut fokussierten Tenor überzeugt er auch besonders durch seine engagierte Interpretation der Rosina Leckermaul als ambivalente Figur zwischen lieber Omi und Kinder fressendem Monster. Julia Schaffenrath (Opernstudio der Komischen Oper Berlin) verleiht dem Sandmännchen und dem Taumännchen mit ihrem glockenreinen Sopran anrührende Reinheit und verzaubert große und kleine Kinder, indem sie übertragen eher Puderzucker als Sand verstreut.

Die stummen Rollen
Die Geschichte wird aber nicht nur durch die Solisten erzählt. Die stummen Rollen haben einen ebenso großen Anteil am Erfolg des Abends. So verkörpert Manni Laudenbach sehr überzeugend die Figur des Komödianten, der immer auftaucht, wenn sich auf der Bühne Wechsel vollziehen von einer Welt zur anderen. Er zieht Vorhänge auf und zu, öffnet und schließt Türen und erscheint zusammen mit dem Himmlischen Kind. Das alles geschieht begleitet von großen oder auch kleineren Gesten und Mimik. Das Himmlische Kind, das durch die Geschichte führt, wird dargestellt von Luana Schneiderat-Engelmann.
Auch der von Dagmar Fiebach bestens einstudierte Kinderchor der Komischen Oper Berlin sowie die Tanzschülerinnen der TanzZwiEt–Schule-Company haben einen bedeutenden Anteil am Gelingen des zauberhaften Märchenopernabends. Ein besonderer Dank gebührt den Tänzer*innen, die in wechselnde Rollen schlüpfen und in perfekter Choreografie von Christoph Jonas das Märchenhafte, das Rätselhafte und den Humor der Inszenierung unterstreichen.
Das Orchester der Komischen Oper Berlin unter der Leitung von Yi-Chen Lin ertönt mit großer Spielfreude und lässt alle Facetten von Humperdincks traumhaft instrumentierte Partitur aus dem Graben strömen. Insbesondere die Vor- und Zwischenspiele sowie die Traumpantomime gestaltet die Dirigentin mit großem Gefühl für die spätromantische Besetzung und angemessene Tempi und Dynamik.
Das Gesamtpaket aus Solist*innen, Inszenierung und Bühne/ Kostüme sowie der Choreografie überzeugt vollständig und sei interessierten Opernbesucher*innen herzlich empfohlen.