Berlin, Funkhaus, Utopia Orchestra, Teodor Currentzis, IOCO

07. April 2024
Klare Linien, weitende Formen und fokussierende Wesentlichkeit durchzogen die abendlichen Räume des Berliner Funkhauses.
Jene beruhigend beeindruckende Bauhausarchitektur bot an diesem Frühlingsabend im April den Rahmen des Erlebens einer Kunst, deren zugewandte Schönheit und intensive Kompromisslosigkeit einzigartig ist. Teodor Currentzis und das Utopia Orchestra ermöglichten gemeinsam mit den Solist·innen Alexandre Kantorow und Regula Mühlemann einen berührenden Zugang zu Werken von Johannes Brahms und Gustav Mahler.
Es stand am Ende eines über 23 Jahre andauernden Schaffensprozesses, das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur op. 83 von Brahms. Auf die umjubelte Uraufführung im November 1881 mit dem Komponisten selbst am Klavier folgten bereits in den ersten Monaten zahlreiche weitere Darbietungen dieser in einem Moment monumentalen und im nächsten träumerisch sanften Komposition. Sein teilweise sinfonischer Charakter macht dieses Werk zu einem in der Aufführung höchst anspruchsvollen Kommunikationsprozess voll transformativen Gehalts. Klavier und Orchester fügen sich hier auf besondere Weise zu einer klanglich virtuosen Einheit und laden in vier Sätzen zur existentiell fragenden Suche nach Wahrheit und Schönheit in der Welt ein. Inmitten der sich zu diesem Projekt versammelten Musiker·innen des Utopia Orchestra überzeugte der französische Pianist Alexandre Kantorow mit seinem so liebevoll sanften und zugleich energiegeladen virtuosen Spiel.

Sich behutsam tastend in den aufmerksamen Dialog mit Klavier und Orchester begebend, durchdrang ein Hornsolo die erwartungsvolle Stille im großen Aufnahmesaal des Funkhauses und gab damit den Auftakt jenes lyrisch tänzerischen Spiels im ersten Satz des Klavierkonzerts. Den Klang präzise mit ganzem Körper formend, leitete Currentzis sein in jeder Sekunde höchst präsentes Ensemble an. Jede noch so feine Nuance seiner Bewegung wurde von den Musiker·innen verstanden und umgesetzt. Eben jene unbedingte Bezüglichkeit im gemeinsamen Spiel prägte auch bei dieser Aufführung den besonderen Charakter dieses faszinierenden Klangkörpers. Individuelle Meisterschaft fügte sich in einen sich virtuos windenden Organismus ein. Die Möglichkeit, sich vollkommen aufeinander verlassen zu können, ließ die vom Dirigenten stetig geforderte Risikobereitschaft gelingen. Das Ergebnis war eine Klangarchitektur, deren sich mitteilende Schönheit und Zugänglichkeit einzigartig waren.
Die kommunikative Dynamik solistisch interpretierend, prägte Kantorow auch den zweiten Satz mit seiner pianistischen Virtuosität. Auf Passagen dunkler Nachdenklichkeit folgten die scharfen Klangsalven der Streicher. Im dritten Satz entfaltete sich schließlich im solistischen Dialog zwischen Klavier und Violoncello ein schier herzzerreißendes Sinnen. In ihrer tragischen Schönheit erinnerte diese von Konstantin Pfiz als Solocellist exzellent interpretierte musikalische Konversation an das Thema in Tschaikowskys Iolanta. Eingebettet in einen behutsam gestalteten Orchesterklang kamen auch hier die hervorragenden Einzelleistungen und Qualitäten der Ensemblemitglieder zur Geltung. Im Rondo-Finale des letzten Satzes reizte Currentzis dann die gesamte Strahlkraft und atemberaubende Dynamik der Komposition aus. Energiegeladen trieb er die Musiker·innen an, die auch die schnellsten und klanggewaltigsten Passagen voll Präzision und Differenzierung erklingen ließen. All dies wurde von der individuell brillierenden und sich zugleich intelligent auf die Orchesterdynamik beziehenden Höchstleistung des Pianisten durchzogen, dessen Kunst zum Besten gehört, was derzeit pianistisch erlebbar ist.

Currentzis und Kantorow arbeiteten bereits mehrfach erfolgreich zusammen. So brachten sie Brahms zweites Klavierkonzert schon 2022 gemeinsam zur Aufführung, damals mit dem SWR Symphonieorchester. In den folgenden Jahren folgten Projekte mit Currentzis‘ anderem Klangkörper, dem Ensemble musicAeterna. Kantorows Fähigkeit zur Adaptabilität und kreativen Umsetzung jener so filigran durchdringenden Interpretationen der Kompositionen durch Currentzis, der sich immer in tiefer Hingabe einem Werk widmet, um es im Proben- und Aufführungsprozess eröffnend zugänglich zu machen, beindruckte dabei immer nachhaltig. In jeder Interpretation voll Liebe jede einzelne Note eines Werks dem Publikum darbietend und mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen geehrt – darunter der erste Platz beim Tschaikowsky-Wettbewerb – gehört Kantorow zu den bedeutendsten Pianisten unserer Zeit.

Abschied, Erwartung und sich anbahnende Umbrüche immensen Ausmaßes prägten die Zeit der Entstehung Mahlers Sinfonie Nr. 4 G-Dur. Uraufgeführt 1901 in München durch den Komponisten selbst, verkörpert diese Komposition auf eklatante Weise die Epoche des Fin de Siècle. Momente melancholischen Sinnens und träumender Romantik gehen in kantige Klangstrukturen und grotesk anmutende Gebilde über. Auf brillante Weise setzte Mahler jene Ambivalenz und Brüchigkeit der Zeit ins Werk. Utopia und Currentzis arbeiteten in ihrer Interpretation insbesondere diese so komplexen Kippunkte und sich organisch entwickelnden Übergänge heraus.
Gespannt und voll Vorfreude auf den zweiten Teil des Abends trat das Publikum nach der Pause in den Aufführungsaal des Funkhauses und nahm auf der Tribüne Platz. Die im Sinne eines Orchestergrabens stufig leicht abgesenkte Aufführungsfläche war nun bereits der Komposition entsprechend mit dem groß besetzten Orchester gefüllt. Tänzerisch verspielt und in angespannter Erwartung erklangen schließlich die ersten Klänge der Sinfonie, die bereits im ersten Satz zwischen Entstehen und Zerbrechen, zwischen Hoffnung und Abschied changiert. Das sich zu Beginn etablierende Thema trägt durch den Satz und zerbricht doch immer wieder in groteske Unübersichtlichkeit. In zugewandter Präsenz und gestischer Ansprache formte Currentzis auch hier jede einzelne Nuance der Musik. Den großen Orchesterorganismus stetig integrativ verbindend, führte er durch Abschnitte zerbrechlichsten Pianissimo und ließ im nächsten Moment alles in höchster Intensität erstrahlen.
Im zweiten Satz der Sinfonie schuf Mahler ein makaber humoristisches Spiel mit der Konstruktion eines vordergründigen aber doch immer wieder mystisch zerbrechenden Idylls. Mit träumerischer Klarheit durchzog die leicht heraufgestimmte Solovioline den Raum. Das virtuose Spiel des Konzertmeisters Andrey Baranov überzeugte hier in gleicher Weise wie seine kompetente Rollenwahrnehmung an der Spitze des Orchesters. Das atmosphärische Zentrum der Aufführung stellte schließlich das Adagio des dritten Satzes dar. Sich behutsam und doch bestimmend aufbauende Spannungen waberten über tiefen Abgründen. Sich nie auflösend hüllten sie die Welt in bedrohlich zerbrechende Melancholie. Herzzerreißende Schönheit und erwartungsvoller Abschied berührten auf fundamentale Weise. Was Currentzis und Utopia in diesen Momenten als liebevolles Angebot all jenen ermöglichten, die sich dieser Intimität öffnen können, ließ einmal mehr Anspruch und Imperativ einer emanzipativ berührenden Kunst wirklich werden. Nach einem kompositorisch leicht unvermittelt wirkenden Orchestertutti, welches Currentzis auferstehungsartig erstrahlen ließ, endete der Satz in weihevoller Stille.

Mit dem Orchesterlied Das himmlische Leben griff Mahler einen zuvor bereits in Des Knaben Wunderhorn verwendeten Text wieder auf und gestaltete den Finalsatz der Sinfonie um diese entrückte Erzählung herum. Die Solopartie übernahm die weltweit gefeierte Regula Mühlemann. In aufmerksamster Bezüglichkeit mit Orchester und Dirigent begabt sich die Sopranistin auf wunderbarste Weise in diesen kommunikativ abermals komplexen Abschnitt des Werks. Voll akzentuierter Klarheit und träumerischer Schönheit im Klang gestaltete auch sie jede einzelne Note voll Liebe und Hingabe. Dabei lotete Currentzis die Orchesterpartien zwischen stürmischem Drängen und zartem Geheimnis schonungslos aus. Die Sinfonie endete schließlich in hoffnungsvoller Stille, in die sich als stimmig gewählte Zugabe Morgen! von Richard Strauss einfügte.
Das 2022 von Currentzis gegründete Utopia Orchestra setzt sich aus Musiker·innen verschiedenster Nationen und Kontexte zusammen. Als Projektorchester findet sich diese Gruppe meist selbst solistisch, kammermusikalisch oder als Konzertmeister·innen spielender Menschen immer wieder mit dem unbedingten Anspruch zusammen, auf musikalisch höchstem Niveau eine Kunst erlebbar zu machen, die sich im radikalsten Sinne jeglicher Form von Alltäglichkeit entzieht. Als einer der führenden Klangkörper unserer Zeit bespielt Utopia die großen Bühnen der Welt. In ihrer aktuellen Tour bringen sie ihre Interpretationen von Brahms und Mahler in Berlin, Hamburg, München, Stuttgart und Rom zur Aufführung. Auf Utopias gefeiertes Debüt mit Rameaus Castor et Pollux an der Opéra national de Paris zu Beginn des Jahres, im Zuge dessen auch der Utopia Choir unter der Leitung von Vitaly Polonsky zum Einsatz kam, folgen im weiteren Verlauf des Jahres Auftritte beim Musikfest Bremen, dem Athens Epidaurus Festival und den Salzburger Festspielen. Eine für den Herbst geplante Tour führt das Ensemble mit Werken von Richard Wagner unter anderem nach München, Antwerpen und Rotterdam.
Begeistert und tief bewegt umjubelte das Publikum alle Beteiligten des Abends und ließ den Tag in den Räumen des Berliner Funkhauses im kreativ schwärmenden Austausch ausklingen. Currentzis und Utopia schufen bei dieser Aufführung eine überbordende Klangwelt zwischen einnehmender Dramatik und hoffnungsvoller Utopie. Als musikalisch vermitteltes Kommunikationsangebot wurde Kunst in seinem eigentlichen Sinne ernst genommen. Erfahrbar wurden Räume der Weite und des Miteinanders einer sich kritisch in Gesellschaft verortenden Musik.