Beethoven - Complete Symphonies - PENTATONE, IOCO CD-Rezension 11.11.2020
Beethoven - Complete SymphoniesWDR-Symphonieorchester und Marek Janowski
CD Album - 5 CDs - Pentatone Classics PTC5186860
von Julian Führer
Ludwig van Beethovens Symphonien – jeder kennt zumindest einige. Einzelne Passagen, insbesondere aus der fünften und neunten Symphonie, sind aus Film, Funk und Fernsehen seit vielen Jahrzehnten bekannt. Es gibt kaum noch zu zählende Gesamtaufnahmen und Einzeleinspielungen. Jetzt ist zum Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 eine neue Aufnahme erschienen. Welche Legitimation hat sie? Was haben das WDR-Symphonieorchester und Marek Janowski diesen etwa 200 Jahre alten Partituren abzugewinnen, was noch nicht (oder noch nicht so) vorgetragen wurde?
Ludwig van Beethovens Neun Symphonien in einer neuen Gesamtaufnahme - Kapellmeisterlich im besten Sinne
Aufgenommen wurden die neun Symphonien 2018 und 2019 in der Kölner Philharmonie, einem Raum, der (eine gute Aufnahmetechnik vorausgesetzt) sehr günstig für eine solche Aufnahme ist.
Kein Frühwerk: Beethovens erste Symphonie
Die erste Symphonie C-Dur op. 21, 1800 uraufgeführt, beginnt mit einer langsamen Introduktion mit hier eher breit gehaltenen Akkorden. Die Exposition (Allegro con brio, wie der Kopfsatz der dritten und fünften Symphonie) wird sehr differenziert gespielt und aufgenommen. Bässe und Fagotte fahren oft dazwischen und rufen in Erinnerung, dass Beethoven seine erste Symphonie erst schrieb, als er es in anderen Bereichen, zum Beispiel bei den Klaviersonaten, schon zu großer Meisterschaft gebracht hatte. Das Andante cantabile con moto hat den tänzerischen Duktus eines Menuetts, viele kurze Notenwerte dieses anmutigen Satzes im 3/8-Takt vermitteln einen lebhaft-bewegten Eindruck. Das eigentliche Menuett des dritten Satzes hat nichts Tänzerisches mehr an sich, sondern drängt wild vorwärts. Die schnellen und legato gehaltenen Achtelfiguren der Violinen im Trio sind eine kleine Spur weniger klar als sonst auf dieser Aufnahme. Der Schlusssatz beginnt mit einer Fermate des gesamten Orchesters und sich immer wieder neu von G nach oben tastenden Figuren der ersten Violinen, bis im Takt 8 das Tempo von Adagio zu Allegro molto e vivace wechselt und das Thema präsentiert wird, das in der Folge fast übermütig auch vom tiefen Holz übernommen wird. Trompeten mischen sich in das Klangbild, Beethoven lässt Dissonanzen aufblitzen und kehrt dann scheinbar unbeeindruckt zum Hauptthema zurück, das er jedoch kürzt und sofort mit anderen Klangfarben kontrastiert. Kurz vor dem Schluss nimmt Marek Janowski etwas Tempo heraus, so dass der finale C-Dur-Akkord fast federt. Diese Symphonie wirkt in der vorliegenden Aufnahme ungemein frisch und auch über 200 Jahre nach ihrem Entstehen noch revolutionär.
Die zweite Symphonie D-Dur op. 36, die 1803 erstmalig zu hören war, beginnt ebenfalls langsam (Adagio molto); immer wieder sind Dissonanzen zu hören. Überzeugende Details nehmen für diese Aufnahme ein, die aufsteigenden 64tel der ersten Violinen etwa werden wie von Beethoven notiert sfp gespielt und sind nach der einleitenden Achtel nur ganz im Hintergrund zu hören. Das Tempo wechselt zu Allegro con brio, die Violinen erst mit rasend schnellen Sechzehnteln, dann mit Achtelfiguren, die ganz ähnlich später auch im ersten Satz der Waldstein-Sonate op. 53 verwendet wurden (ab Takt 61). Beethoven wagt sich abermals an scharfe Dissonanzen und mit absteigenden Septimen (Takt 109) an höchst ungewöhnliche Intervalle. In der Durchführung hört man kleine, aber wirkungsvolle Differenzierungen der Dynamik, die Marek Janowskis jahrzehntelanger Beschäftigung mit Beethovens Werk entspringen dürften. Der zweite Satz Larghetto beginnt mit einem anmutigen Bläsersatz, Hörnern und sanften Streichern, die auf die F-Dur-Symphonie Nr. 6) vorauszuweisen scheinen, ebenso das Tanzmotiv ab Takt 82. Im hundertsten Takt wird auf einmal abrupt von A-Dur zu a-Moll moduliert, der Satz wird harmonisch wie rhythmisch zunehmend anspruchsvoller. Auch bei konzentriertem Hören mit aufgeschlagener Partitur scheint kein Akzent, keine Rückung, kein Crescendo oder Decrescendo zufällig – immer hat Beethoven dies so notiert, oder das musikalische Umfeld lässt das, was Marek Janowski vom Orchester verlangt, plausibel erscheinen. Der dritte Satz, ein Scherzo im Allegro, setzt die kompositorisch anspruchsvolle Textur der ersten Sätze fort. Nicht nur im Trio ist nicht mehr an jeder Stelle klar, in welcher Tonart Beethoven sich eigentlich bewegt. Das Finale bleibt am ehesten den bisherigen Konventionen der Gattung verhaftet, doch auch hier rüttelt Beethoven an den Fundamenten: Kurz vor der Reprise quäkt das Fagott dazwischen, als würde es vorlaut zum Soloinstrument avancieren wollen, dann drängen sich die Hörner in den Vordergrund, bevor es zum Schluss kommt. Die erste Symphonie ist sicher dem Ohr leichter zugänglich, die zweite Symphonie ist noch eine Spur revolutionärer – doch die dritte Symphonie sollte hier noch einmal deutlich weiter gehen.
Eroica - zwischen tiefer Trauer und Vorwärtsdrang
Die berühmte Eroica, die dritte Symphonie Es-Dur op. 55, sprengt viele Konventionen und bis dahin übliche Dimensionen: Sie ist lang (dies wurde bei der Uraufführung 1805 von einigen kritisch angemerkt), und auch das Orchester vergrößerte sich, verlangte Beethoven hier doch erstmalig ein drittes Horn. Die zwei Einstiegsakkorde nimmt Marek Janowski nicht ganz so abrupt wie etwa David Zinman. Der erste Satz beginnt vielmehr federnd. Auch der Streicherapparat hört sich breiter an als bei den ersten beiden Symphonien dieser Einspielung. In der Durchführung stauen sich die Akkorde (um Takt 275 herum), die Dissonanzen werden nicht aufgelöst, vielmehr wird das Seitenthema in Moll eingeschaltet. Wie in den Symphonien der Wiener Klassik (man denke nur an Joseph Haydn) treten Streicher und die Gruppen der Holzbläser in einen Dialog, der jedoch harmonisch und in der Weiterentwicklung der Motive bereits weit von Beethovens 1805 noch lebendem Lehrer Haydn entfernt ist. Diese Aufnahme präsentiert den ersten Satz einerseits breit, andererseits doch pointiert und trifft damit ein juste milieu, ohne jemals langweilig zu werden. Ganz im Gegenteil, dieser Beethoven ist mit seinen rauen tiefen Streichern, seinen Stauungen und seinen für die damalige Zeit geradezu wilden Modulationen (zum Beispiel bei Takt 558 von Es-Dur nach Des-Dur und gleich weiter nach C-Dur!) ungemein aufregend.
Die anschließende Marcia funebre (Adagio assai) gehört zu den bekannten Trauermusiken des klassischen Genres. Marek Janowski arbeitet in den ersten Takten sehr deutlich die Kontrabässe des WDR-Symphonieorchesters heraus; im Holz übernimmt die Oboe die Rolle des führenden Instruments. Im Mittelteil ab Takt 69 wechselt die Tonart nach Dur, jedoch nie unbeschwert – die großen Akkorde erfolgen hier nie im ungebremsten Fortissimo und unter genauester Beachtung der Notierungen Beethovens, der immer wieder Punkte auf seine Noten setzt und die Akkorde daher abreißen lässt, statt sie lange zu halten (Takt 98-100). Die anschließende Reprise des Trauermotivs ist deutlich zurückgenommener als in der Einleitung und bereitet den Weg für die Durchführung der Mollmotive. In die letzten Takte dieses Satzes legen Dirigent und Orchester eine ungeheure, musikalisch und emotional ausweglos erscheinende Trauer. Wie gerne würde man in einem Konzertsaal die ergriffene Stille eines konzentrierten Publikums nach diesem Satz erleben dürfen!
Gänzlich anders gefärbt ist natürlich das Scherzo (Allegro vivace). Die Streicher liefern eine rhythmische Grundierung, das Motiv ist zuerst im Holz zu hören, der Satz treibt schnell voran, im Trio sind die drei Hörner (sehr plastisch) mit Jagdklängen zu hören, in die sich jedoch schnell Halbtöne mischen. Alle drei Hörner bleiben bis zum Schluss des Scherzos sehr präsent. Das Ende des Satzes ist wieder, wie in anderen Teilen dieser Aufnahme auch, abgefedert und reißt nicht gleich ab. Das Finale (Allegro molto) geht Marek Janowski zügig an, eine Spur schneller als mehrere andere Aufnahmen. In der Variationenstruktur dominieren zunächst die Streicher, ab Takt 75/76 bringt das Holz eine liebliche Note hinein, die allerdings schnell verblasst. Nicht nur die Kontrabässe sind mit schnellen Sechzehnteln gefordert, sondern auch die Soloflöte (bei Takt 190-196). Die Hörer in Takt 304-307 bleiben vielleicht eine Spur zu sehr im Hintergrund, ansonsten sind die Instrumentengruppen stets fein ausbalanciert – Kompliment an Orchester, Dirigent und Tontechnik! Eine rundum gelungene Eroica.
Die vierte Symphonie Beethovens in B-Dur op. 60 wurde 1807 uraufgeführt. Sie ist nicht ganz so berühmt wie die ‚Dritte‘ oder ‚Fünfte‘, die Instrumentierung kommt (wieder) mit zwei Hörnern aus. Die Introduktion (Adagio) beschwört zunächst eine düstere Stimmung. Erst nach 39 Takten und zweieinhalb Minuten Musik erfolgt ein schneller Wechsel ins Allegro vivace. Das Thema ist munter, einige Kniffe wie die sukzessive Reduzierung auf korrespondierende erste und zweite Violine (Takt 270ff.) verweisen bereits auf die folgende c-Moll-Symphonie. Kurz vor Takt 440 scheint das Orchester etwas unmotiviert Tempo zu verlieren, die letzten der 498 Takte finden jedoch wieder zum Haupttempo zurück. Das folgende Adagio wird zunächst durch Quartsprünge charakterisiert, die wie Metronomschläge ein rhythmisches Fundament bieten. In der Folge wird der Vortrag des Orchesters dann freier, bis die Bässe die Quarten wieder aufnehmen. Spannend wird dieser Satz vor allem durch die Zweiunddreißigstelfiguren der Streicher und eine nicht ganz einfache rhythmische Struktur (vgl. etwa Takt 70-71). Der dritte Satz (Allegro vivace) ist der Bezeichnung nach ein Menuett – gewissermaßen wie in alten Zeiten. Passagen der Holzbläser könnten fast eine Vorstudie zur Pastorale sein. Im Trio wird etwas Tempo herausgenommen. Das Finale beginnt wie bei der vorangegangenen Es-Dur-Symphonie mit schnellen Streicherfiguren, über die das Holz dann ein harmonisches Motivgewebe legt. Beeindruckend die Präzision der ersten Violinen, überzeugend das Zusammenspiel. Wenn Beethoven mit dieser Symphonie auch kein grundsätzlich neues Kapitel in seinem Schaffen oder gar der Musikgeschichte aufschlägt, ist diese Symphonie doch eine Art Summe seiner frühen Symphonien mit einer dem klassischen Vorbild eng verhafteten Sprache, deren Mittel er jedoch entscheidend weiterentwickelt hat.
Schicksalsschläge und Posaunen: Beethovens Fünfte
Über die fünfte Symphonie c-Moll op. 67 ist mehr als genug gesagt und geschrieben worden, das Eingangsmotiv war Erkennungssignal der BBC im Zweiten Weltkrieg, und überhaupt gehört diese Symphonie wohl zu den bekanntesten Stücken der „ernsten“ Musik überhaupt. Sie ist bekannt, aber sie enthält auch vieles zum Zeitpunkt der Uraufführung 1808 Neues, allein schon durch den Orchesterapparat: Im vierten Satz werden zu den bisherigen Instrumenten neu auch eine Piccoloflöte, ein Kontrafagott und nicht weniger als drei Posaunen gefordert. Beethoven selbst schrieb dem Grafen Franz von Oppersdorff hierzu: „Das letzte Stück der Sinfonie ist mit 3 Posaunen und Flautino – zwar nicht 3 Pauken, wird aber mehr Lärm als 6 Pauken und zwar bessern Lärm machen.“ Die Fermate nach den charakteristischen Achtelschlägen, besonders die erste, lässt Marek Janowski nur kurz halten – die zweite ist in der Tat über einen ganzen weiteren Takt notiert. Gut hörbar ist, wie Beethoven in den Takten 75-76, 77-78, 79-80 und 81-82 bei den Violinen Bögen einzeichnet, die jeweils genau nach zwei Takten enden. Die Reprise enthält bei Takt 268 ein Solo der Oboe, das scheinbar völlig frei außerhalb des sonst vorgeschriebenen Zeitmaßes vorgetragen wird, aber doch im Rahmen des hier für kurze Zeit vorgegebenen Adagio bleibt. Marek Janowski lässt dem Instrument hier viel Zeit, andere Dirigenten drängen hier mehr aufs Tempo. Der erste Satz enthält viele Feinheiten der Instrumentierung, die bei weitem nicht immer so gut nachzuvollziehen sind wie auf dieser Einspielung. Im Andante con moto des zweiten Satzes beginnen die Streicher hier recht breit. Das fanfarenartige Thema der Bläser wird von Sechzehnteltriolen der Streicher begleitet, beim zweiten Mal dann von Zweiunddreißigstelfiguren. In einer frühen Aufnahme unter Christian Thielemann wurde dies sehr stark herausgearbeitet; hier nun ist alles hörbar, aber bleibt im organischen Fluss. Ab Takt 107 hingegen überrascht, wie stark sich Fagotte und erste Klarinette in ihren aufsteigenden Oktaven über die Streicher erheben – doch in der Tat, Beethoven hat das Holz piano, die Streicher aber pianissimo notiert! Abermals ein Satz, der so viele Details aufweist, dass man ihn gerade in dieser Aufnahme mehr als einmal aufmerksam hören sollte. Das folgende Allegro nimmt das rhythmische Motiv des Kopfsatzes wieder auf. Im Takt 79 (fortissimo) hämmert das Holz hier fast schmerzhaft dieses mottoartige Motiv. Dies ebenso wie das ländlerartige Motiv der tiefen Streicher gemahnen schon fast an den zweiten Satz von Gustav Mahlers erster Symphonie. Ab Takt 324 ändert sich die Stimmung plötzlich, ein tiefes As, dann ein G im ppp bereiten den Boden für immer weiter nach oben steigende Violinen, die attacca in den Finalsatz in wirklich strahlendem C-Dur münden. Die Posaunen grundieren mächtig den Bläserapparat, haben aber noch nicht wie später bei Wagner gewissermaßen die Rolle eines Pedals; Beethoven scheint mit diesem Instrument noch etwas zu experimentieren. Das Kontrafagott, stets parallel zu den tiefen Streichern geführt, ist leider nicht zu hören. Ansonsten ist es wieder eine überzeugende Gestaltungsleistung: Der Satz wirkt aufgewühlt, ungestüm, und das bei größter Disziplin der Instrumentengruppen. In Takt 160 wird das Motto aus dem Kopfsatz in der Gestaltung des dritten Satzes wieder aufgenommen. Marek Janowski erliegt nicht der Versuchung, diesen Satz durchweg ‚dröhnen‘ zu lassen, sondern legt dem Orchester auch bei den Tuttistellen immer wieder Zurückhaltung auf, um im entscheidenden Moment noch Gestaltungsspielraum zu haben – so auch bei den Tempi, die zum Schluss hin noch einmal deutlich angezogen werden. Eine fünfte Symphonie, die man längst kennt, oft gehört hat, gut gehört hat, aber in dieser Aufnahme abermals aufhorchen lässt.
PASTORALE - Meisterhaft zelebrierte Ruhe
Die Pastorale, Beethovens sechste Symphonie F-Dur p. 68, in etwa zeitgleich zur Fünften geschrieben und ebenfalls 1808 uraufgeführt, enthält abermals eine Piccoloflöte und Posaunen (diesmal zwei, nur in den letzten beiden Sätzen). Beethoven gab den Sätzen Titel bei, für den ersten Satz „Erwachen heiterer Gefühle auf dem Lande“. Ruhige Streicher, liebliche Flöten und Oboen, die Gefühle sind nicht nur heiter, sondern auch sehr friedlich, auch wenn kleine Verzierungen in den Flöten fast schon Übermut durchscheinen lassen. Die Steigerungen ab dem 150. Takt haben Eingang in mehr als eine Filmmusik gefunden. Kurz vor Takt 460 verstärkt sich der Eindruck, dass Smetana sich für Die Moldau erheblich von Beethoven hat inspirieren lassen. Noch ruhiger als der erste Satz ist die folgende „Szene am Bach“ (Andante molto mosso), für die Beethoven zwei Solovioloncelli vorgesehen hat. Was im ersten Satz die Verzierungen der Flöte waren, sind hier die Triller der Violinen und das scheinbar freie Zusammenspiel von Flöte und Oboe, dann auch der Klarinette. Man meint Siegfrieds Waldvögelein zu hören – Richard Wagner war einer von vielen Verehrern Beethovens. Das ‚Waldweben‘ in Wagners Siegfried ansprechend und differenziert zu spielen, ist schwer (oft misslingt es); den zweiten Satz der Pastorale meistert das WDR-Symphonieorchester bravourös, und es verwundert nicht, dass Marek Janowski ebenso bei Beethoven wie auch bei Wagner über viel Erfahrung verfügt. Im Allegro folgt „Lustiges Zusammensein der Landleute“. Das Holz schwatzt munter miteinander, die Streicher intonieren einen derben Tanz. Der Satz geht direkt in „Gewitter, Sturm“ (Allegro) über. Carl Maria von Weber hat sich hier deutlich für die Wolfsschlucht im Freischütz bedient, Richard Wagner hat in Das Rheingold und Die Walküre die tiefen Streicher ähnlich behandelt. Nicht zum ersten Mal beeindruckt die Präzision, mit der auch schnelle Passagen hier gemeistert werden. Zuletzt (Allegretto) „Frohe, dankbare Gefühle nach dem Sturm“. Beethoven hat hier keine Note zuviel geschrieben, das Orchester trägt klar vor und scheint ganz bei sich und der Musik. Eine beeindruckende Ensembleleistung, ein Musizieren auf höchstem Niveau.
Symphonie Nr. 7 A-Dur op. 92, 1813 (und damit fünf Jahre nach der Fünften und der Sechsten) uraufgeführt – abermals ein sehr bekanntes Werk, insbesondere das Allegretto des zweiten Satzes. Bei Marek Janowski werden die Eingangsakkorde wieder etwas abgefedert, das Poco sostenuto des Satzbeginns wird eher zurückhaltend musiziert, auch das Fortissimo im Takt 55 ist eher ein Akzent als ein Ausbruch. Während andere Dirigenten bei Takt 309-312 das Tempo stark verlangsamen, um eine ‚schöne Stelle‘ auszukosten, hält Marek Janowski das Tempo (und lässt Oboe und Klarinette dennoch mittels der Dynamik Raum zur Entfaltung). Der Satz ist insgesamt geradlinig musiziert und verweigert sich in dieser Interpretation der hochromantischen Vereinnahmung, wie sie sonst durchaus zu hören ist. Der zweite Satz überrascht noch mehr – alles andere als ein Trauerkondukt, vielmehr ein eher zügig genommenes Allegretto und anders als sonst ein eher kurz gehaltener Anfangsakkord. Die Aufstriche von Bratschen und Celli (ab Takt 29) sind hier tatsächlich nur kurze Vorschläge, die Viertel (durch Bögen verbunden, aber durch Punkt markiert) setzen kurze Akzente. Keine Spur also von Larmoyanz, eher eine Spur von Menuett, zurückhaltende Eleganz, gleichzeitig – typisch Beethoven – stets nach vorwärts drängend. Ab Takt 150 ist der Wechsel von ersten Violinen und Celli bei den das Tempo machenden Sechzehntelfiguren deutlich hörbar. Wahrhaftig: Beethoven ist nie langweilig, in dieser Aufnahme erst recht nicht. Das folgende Presto bildet einen weniger scharfen Kontrast als in anderen Aufnahmen, da auch der zweite Satz nie das von Richard Wagner so hervorgehobene Tänzerische dieser Symphonie negiert hat. In Takt 48-51 der Wiederholung der Exposition ist die Phrasierung von Flöte und Oboe etwas weniger deutlich als sonst. Der ausladende Satz mit zahlreichen Wiederholungen mündet in eine Coda, in der eine harmonische Trübung eintritt, die durch eine Schlusskadenz aber gewissermaßen abgewendet wird. Der Schlusssatz, wieder in A-Dur, bringt Allegro con brio fröhliche Hörnerquinten, doch zügelt Marek Janowski das Orchester, so dass die Dynamik nicht gleich zu Beginn des Satzes zu lautem Dröhnen führt (Beethoven scheint nach dem Fortissimo zu Takt 24 und dessen Wiederholung in Takt 32 bis Takt 61 keine dynamischen Vorschriften notiert zu haben). Dass der Satz ungestüm nach vorne (und zum Schluss) drängt, ist unüberhörbar, doch die wahre Arbeit in der Umsetzung besteht bei dieser Aufnahme in der geglückten Hörbarmachung der Zwischentöne, der Sequenzen und vielfachen anderen Veränderungen, die Beethoven am musikalischen Material vornimmt, ebenso die Eintrübungen, die durch immer neue Basslinien eintreten – nicht zu vergessen, dass etwa zwei Minuten vor Schluss ab Takt 362 in den Bässen (meist absteigende) Sekunden stehen, von Takt 388 bis einschließlich Takt 408 immer auf den Notenstufen E-Dis, eigens in den Bässen noch einmal sempre più f notiert – da windet sich schon Wagners Riesenwurm (Das Rheingold, dritte Szene, später dann das Wurmmotiv Fafners), und Beethoven geht in seinen Vorschriften bis zu fff, als sämtliche Knoten geplatzt sind. Mitreißend!
Etwa zeitgleich zur Siebten komponierte Beethoven die achte Symphonie F-Dur op. 93, die 1814 uraufgeführt wurde. Allegro vivace e con brio beginnt der schwungvolle Satz, der gleichwohl nicht nur von der Tonart her Ähnlichkeiten mit der bukolischen Stimmung der Pastorale aufweist. Der verklingende Dreivierteltakt gegen Ende des ersten Satzes lässt vermuten, dass Carl Maria von Weber für den Walzer im ersten Akt von Der Freischütz hier Inspiration gefunden hat. In der Struktur ist gegenüber den früheren Symphonien neu, dass es keine klare Reprise des Themas gibt, sondern dieses an der zu erwartenden Stelle bereits deutlich weiterentwickelt ist. Klar zu hören ist das Holz (das Fagott teilweise als Schrittmacher, Klarinette und Oboe übernehmen mehrfach Streicherfiguren). Der zweite Satz ist ein Allegro scherzando, in dem Beethoven viele für ihn typische Verfahren anwendet, aber abermals weiterführt: eine Instrumentengruppe (hier kurioserweise das Holz) gibt wie ein Metronom den Takt vor, eine andere Gruppe ist für das melodische Material zuständig, bevor sich die Gruppen vermischen. Ebenfalls charakteristisch ist das Grummeln der Bässe, die ein Motiv aus einer viel höheren Lage übernehmen. Dies alles wird mit Witz und sehr viel Präzision vorgetragen. Das folgende Menuett im Dreivierteltakt ist schon lange keine Tanzmusik mehr; das Fagott darf die Melodieführung übernehmen (Takte 24-28), Hörner und Trompeten trumpfen ab Takt 36 auf. Im Trio (ab Takt 44) dann eine Neuerung: Die Hörner als Melodieinstrumente, und zwar bis zum Ende des Satzes. Selbst bei einer neben der Siebten und Neunten eher kurz und vergleichsweise konventionell scheinenden Symphonie experimentiert Beethoven also und schafft stets Neues. Das Finale enthält in Tempo und Dynamik übermütige Passagen wie die Vorgängersymphonie und in Takt 148-150 die ebenfalls von dort bekannten absteigenden Halbtöne, die zu einer Auflösung drängen. Nach Takt 266 (fünf Schläge Generalpause) ist der Nachhall des vollen Orchesters so stark, dass die dann im piano einsetzenden Bratschen nicht wie wahrscheinlich intendiert aus der Stille kommen können. Im Schluss wechseln die musikalischen Stimmungen schnell, Trübungen gehen also schnell vorüber (sind aber kompositorisch sehr interessant), das Ende ist unbeschwert und frei.
Von leeren Quinten zur Apotheose: Die Neunte
Die neunte Symphonie d-Moll op. 125 ist wie die Fünfte fast zu populär – vor allem das den Schlusschor einleitende Motiv, das seit den achtziger Jahren auch als Europahymne genutzt wird. Die Symphonie ist für Silvester- und Neujahrskonzerte beliebt, ist aber gleichzeitig hochkomplex und auch bedeutend länger als ihre Vorgängerinnen. Marek Janowski dirigiert hier die „Neunte“ in nur 64 Minuten, das ist in etwa die Zeit, die auch Herbert von Karajan benötigte, während Wilhelm Furtwängler in berühmten (und sehr unterschiedlichen) Aufnahmen von 1942 und 1951 je zwölf Minuten mehr benötigte. Richard Wagner schrieb als ganz junger Mann die Partitur kurzerhand ab, um ein Gefühl für Beethovens Kompositionstechnik zu bekommen, und äußerte sich später noch mehrfach schriftstellerisch über dieses Werk, das ein neues Kapitel der Musikgeschichte beginnen lässt. Die Uraufführung fand 1824 statt, die Symphonie steht also auch in Beethovens Biographie in weitem Abstand zu den anderen besprochenen Stücken – und als einzige ist sie einem gekrönten Haupt gewidmet, König Friedrich Wilhelm III. von Preußen „in tiefster Ehrfurcht“. Im ersten Satz mit seinen Wildheiten und der hochkomplexen Motivarbeit besticht abermals die Durchhörbarkeit quer durch die Instrumentengruppen, auch wenn die Tontechnik für diese Symphonie in andere Hände gelegt wurde (Dirk Franken) und das Klangbild insgesamt etwas flächiger wird als bei den anderen Symphonien. Marek Janowski vermeidet Manierismen; er stellt die Schroffheiten des Satzes dar, ohne sie zu überzeichnen. In größter Schärfe stechen die Paukenwirbel bei Takt 304 heraus. Nicht weniger als vier Hörner fordert Beethoven, eines davon übernimmt ab Takt 469 kurz die Melodieführung. Bei ganz genauem Hören ist etwas mehr Umblättern an den Pulten zu bemerken als sonst, ohne dass dies jedoch nachhaltig stören würde.
Das Scherzo (Molto vivace; Kenner des Frühwerks der Toten Hosen werden es sofort erkennen) geht Marek Janowski eher moderat an. Beethoven fordert in diesem Satz drei Posaunen (erstmalig auch eine Bassposaune), die klanglich jedoch eher unterstützend wirken, als groß hervorzutreten. Das WDR-Symphonieorchester meistert das schnelle Stück scheinbar problemlos. Das Adagio molto e cantabile des dritten Satzes beginnt langsam, das folgende Espressivo-Thema (erst nur in zweiten Violinen und Bratschen) ertönt hingegen eher zügig, dieser Teil ist tatsächlich auch Andante moderato notiert. Die Phrasierung der Streicher ist Beethovens Vorgaben entsprechend sehr genau. Als (vermeintlichen) Ruhepunkt vor dem folgenden katastrophalen Ausbruch haben andere Dirigenten diesen Satz vielleicht noch inniger musizieren lassen, doch bleibt Janowski seiner Linie treu, Beethoven nicht überemotional zu dirigieren.
Das einleitende fortissimo zum abschließenden vierten Satz steht im Presto; Marek Janowski dirigiert es so, dass die Hörner und Trompeten nach dem Anfangsakkord sehr zurückgenommen werden (Herbert von Karajan ließ sie hingegen über mehrere Takte hinweg buchstäblich brüllen, was dem Satz eine völlig andere Stimmung verlieh). Beethoven rekapituliert die Hauptmotive der vorangegangenen Sätze und lässt die tiefen Streicher in Richtung des „Freude, schöner Götterfunken“-Themas tasten, das aber zuerst von Oboen, Klarinette und Fagott intoniert wird. Vor dem Unisono der tiefen Streicher, die dieses Thema in voller Ausbildung bringen, setzt Janowski (entgegen vielen Vorgängern) keine Pause – es steht bei Beethoven auch keine. Ab Takt 187 werden die non legato spielenden zweiten Violinen und Bratschen betont. Das noch einmal wiederkehrende Katastrophenthema von Satzbeginn wird durch einen scharfen Paukeneinsatz markiert. Dann kommt die menschliche Stimme dazu: Andreas Bauer Kanabas (Bass) überzeugt mit klarer Diktion und gestaltender Interpretation (nicht bei allen Aufführungen hat man den Eindruck, dass der Sänger wirklich versteht, was er da vorträgt – hier schon).
Die Chorpassagen (WDR-Rundfunkchor und NDR Chor) stellen höchste Ansprüche, insbesondere an den Sopran, der bei „Wollust ward dem Wurm gegeben“ immer wieder nach der zweiten Note abgesetzte Achtel bis hinauf zum H singen muss. Die für alle Stimmgruppen sehr hohe Passage „Über Sternen muß er wohnen“ ist beeindruckend klar, insgesamt ist der Alt des Chores auf dieser Aufnahme etwas zu sehr im Hintergrund geblieben. Auch die Solostimmen hat Beethoven nicht eben sängerfreundlich behandelt, neben den bereits Genannten singen aber auch Regina Hangler (Sopran) und Wiebke Lehmkuhl (Alt) hier sehr überzeugend und ohne Fehl. Das Allegro assai vivace ‚alla marcia‘ nimmt Marek Janowski sehr beschwingt, von Christian Elsner (Tenor) bei „Froh, wie seine Sonnen fliegen durch des Himmels prächtgen Plan) jubelnd unterstützt. Diesen Satz dirigiert Janowski insgesamt am zügigsten. Das Finale wird mit Piccolo, drei Posaunen, Triangel, großer Trommel und Becken verstärkt, und in Höchstgeschwindigkeit stürzt diese Symphonie ihrem Ende entgegen.
Nach Hören aller Symphonien stellt sich die Frage nach dem Gesamteindruck. Die Tontechnik dieser Aufnahme (erste Symphonie: Stephan Salgert, Symphonien 2-8: Angelika Hessberger, neunte Symphonie: Dirk Franken) verdient großes Lob für das differenzierte Einfangen der einzelnen Gruppen (ganz besonders für 2-8), das kaum von einem Nebengeräusch gestört wird. Auch Schnitte sind so gut umgesetzt, dass sie nur bei sehr konzentriertem Hören (wenn überhaupt) bemerkbar sind.
Marek Janowski bringt das WDR-Symphonieorchester zu Höchstleistungen, jeder Takt scheint in jahrzehntelanger Praxis gereift und in sorgfältiger Probenarbeit zur Aufnahme gebracht. Janowski vermeidet Manierismen, Überbetonungen von Einzelstimmen, Einzelmomenten, Einzelheiten allgemein, sondern behält das Ganze im Blick. Mit großen Pausen geht er höchst zurückhaltend um. Er hält sich hier wie auch sonst nicht an Konventionen, sondern an die Noten, die er zu Musik formt. Wer nicht die Zeit oder die Geduld hat, sämtliche Symphonien dieser Aufnahme in Gänze zu hören, wer zögert, welche Gesamtaufnahme der Beethoven-Symphonien zu bevorzugen ist, sollte den Schlusssatz der ersten, die ersten beiden Sätze der dritten Symphonie, dann den zweiten Satz der Fünften und Sechsten anhören und dann entscheiden.
Diese Pentatone - Gesamtaufnahme der neun Symphonien Ludwig van Beethovens hat das Zeug zum Klassiker - für Beethoven-Freunde ist sie ein Muss.
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