Bayreuth, Die Bayreuther Festspiele 2021 – Rückblick und Ausblick, IOCO Aktuell, 10.10.2021
Bayreuther Festspiele 2021 – Rückblick und Ausblick
von Julian Führer Den Bayreuther Festspielen ging es im Sommer 2021 so wie vielen anderen Kulturinstitutionen in Deutschland: Lange ging es hin und her, je nach Bundesland wurden unterschiedliche Regelungen getroffen; es war so gut wie unmöglich, eine sinnvolle Planung zu betreiben. Am Ende fanden, anders als 2020, im Sommer 2021 doch wieder die Bayreuther Festspiele statt; allerdings mit reduziertem Programm und vor reduziertem Publikum, dafür mit drastisch verstärkten Kontrollen. Bis spätestens eine Stunde vor Beginn der Vorstellung mussten sich die Besucher, die ihre Karte doch schon längst über das Internet „personalisiert“ hatten, in einem Zelt oberhalb des Festspielhauses am Freiluftbad noch einmal „registrieren“ lassen. Sie hatten dann reichlich Zeit, sich dem verregneten Bayreuther Sommer auszusetzen, denn Garderobe und Foyer des Festspielhauses waren gesperrt.Aber wie gestaltete sich das eigentliche Festspielgeschehen? Tannhäuser, Walküre, Fliegender Holländer beschrieb Patrik Klein für IOCO, siehe Link! Im folgenden nun Eindrücke zu Meistersinger und Parsifal:I. Die Meistersinger von Wahnfried?
Barrie Koskys Meistersinger - in ihrem letzten Jahr in Bayreuth
Die Meistersinger von Nürnberg (besuchte Vorstellung: 8. August 2021) wurden zum letzten Mal in der Inszenierung von Barrie Kosky gezeigt. Diese Inszenierung, beim Publikum mehrheitlich sehr beliebt, vermischt verschiedene Inhalts- und Zeitebenen auf teils virtuose Weise. Bereits bei Richard Wagner geht es in den Meistersingern von Nürnberg wie auch schon im Tannhäuser um den Künstler und die Kunst als solche und ihren Gegensatz zu einer Gesellschaft, die gegenüber Neuem oft mit Unverständnis reagiert – autobiographische Bezüge drängen sich auf, und so ist Barrie Kosky nicht der erste, der viel Wagner in Hans Sachs sieht. Doch geht er noch deutlich weiter und lässt sowohl den manchmal schon altersweisen Hans Sachs als auch den eher ungestümen Walther von Stolzing und sogar den soliden Handwerker David als Wagner-Doubles darstellen. Und mehr noch: Der erste Akt spielt zunächst im Salon von Wagners Villa Wahnfried in Bayreuth – Hans Sachs bzw. Richard Wagner hält Hof, Veit Pogner bzw. Franz Liszt ist zu Gast, während Pogners Tochter Eva bzw. Liszts Tochter Cosima leicht gestresst wirkt und der Merker Sixtus Beckmesser alias Hermann Levi (dem Uraufführungsdirigenten des Parsifal) sich nicht recht in die Gesellschaft einfügen mag. Der Eingangschoral „Da zu dir der Heiland kam“ wird von Familie Wagner andächtig, sich auf Knien bekreuzigend verfolgt, während Levi-Beckmesser dem christlichen Ritus nicht recht folgen mag (Levi war Jude). Wagner war Protestant und macht hier auf der Bühne katholische Kniebeugen, aber dies dient wohl der szenischen Verdeutlichung. Auf der anekdotischen Ebene ist zu vermerken, dass in früheren Jahren Hans Sachs / Richard Wagner zu den ersten Takten der Ouvertüre die beiden großen Hunde Marke und Molly in den Salon führte, die 2021 (warum auch immer) nicht mehr zu sehen sind. Die den Hunden hinterherputzenden Dienstmägde (unter anderem Magdalene) gibt es immer noch, auf der Bühne bleibt da eine Leerstelle. Philippe Jordan dirigierte das Vorspiel mit ein paar Undeutlichkeiten (das Piano vor der Wiederholung des Meistersingermotivs in F-Dur ist zudem nicht sehr plausibel) und begleitete ansonsten zuverlässig.Diverse Wagnerdoubles (David, Stolzing, Kinderstatisterie) entsteigen Wagners Érard-Flügel in Wahnfried, das ist effektvoll – als Auftrittsgestus aber auch nicht mehr ganz neu, man sieht es neuerdings auch bei Stefan Herheim in seinem neuen Berliner Ring des Nibelungen. Die folgende Szene des Lehrbuben David, der dem Junker Walther die verschiedenen Arten des Meistergesangs wortreich ausbreitet, gerät in vielen Inszenierungen zur dramaturgischen Hängepartie, so auch hier, da ein Wagnerdouble das andere belehrt. Die Lehrbuben platzen herein, mit viel Liebe zum Detail im Stil des 16. Jahrhunderts kostümiert, und dann kommen auch schon die Meister (ebenfalls aus dem Flügel herauskriechend), ausstaffiert wie auf der auf dem Sofa herumgehenden Lebkuchendose. Diese Meister sind in Wagners Vorlage schon von bräsiger Gemütlichkeit, die schnell in Ablehnung des Fremden umschlägt; bei Barrie Kosky ist die Sitzung der Meistersinger (von Nürnberg) in der Villa Wahnfried (in Bayreuth) ein überdrehtes Kaffeekränzchen, in der Aktionismus schnell zum Selbstzweck wird. Die beiden Pole werden vom aufbrausenden Walther von Stolzing einerseits und dem konzilianten Hans Sachs andererseits gebildet; dazwischen stehen Veit Pogner, der immerhin seine Tochter verheiraten will, und der kleinliche und Walther als Rivalen sehende Beckmesser. Georg Zeppenfeld gibt den Veit Pogner mit der seiner Stimme eigenen Noblesse, doch wirkte seine Stimme am besuchten Abend nicht ganz so frei wie bei anderen Vorstellungen und in anderen Partien. Auch Daniel Behle hatte mit David stellenweise Schwierigkeiten, doch waren die wohl der Tagesform geschuldet, denn in dieser Rolle hat Behle über Jahre hinweg stets sehr zuverlässig und überzeugend gesungen.Die Überlagerung der Zeitebenen (16. und 19. Jahrhundert) hat ihren Reiz, die Überlagerung der Ortsebenen (Bayreuth und Nürnberg) ist akzeptabel, wenn man ‚Nürnberg‘ als Chiffre für das ansieht, was bei Wagner „die heil’ge deutsche Kunst“ ist. Die Parallelisierung der Figuren funktioniert bei Franz Liszt / Veit Pogner und Richard Wagner / Hans Sachs und Walther von Stolzing über weite Strecken recht gut, problematisch allerdings ist Cosima Wagner / Eva – immerhin wird die Aktion ausdrücklich in die Mitte der 1870er Jahre verlegt, als Cosima und Richard Wagner längst verheiratet waren und ein Wettbewerb von Walther und Beckmesser um die in dieser Lesart gar nicht mehr so junge Eva unplausibel wird: In dieser Logik ginge es darum, dass Richard Wagner seine zweite Ehefrau, die ihrerseits schon zum zweiten Mal verheiratet ist, nicht mit Hermann Levi verheiratet sehen will.Problematische Weiterungen hat dieser Eingriff der Regie auch bei der Besetzung, da seit der Premiere im Jahr 2017 mehrfach die Sängerinnen gewechselt wurden, die zwar gut zur Regie passten, stimmlich aber nicht zu Wagners lieb‘ Evchen. Diesmal wurde diese Rolle Camilla Nylund übertragen, die mit überragender Technik den Abend gestaltete, doch auch sie kann nicht die gesetzte Dame darstellen und gleichzeitig musikalisch den Backfisch singen, den Wagner komponiert hat. Den Rest des Aktes erzählt Barrie Kosky bei allen kurzatmigen Gags eigentlich nicht anders als Richard Wagner: Die Sitzung der Meistersinger wird durch die Bewerbung des Walther von Stolzing um einen Tagesordnungspunkt erweitert, Walther wird von Fritz Kothner (Werner van Mechelen, stets präsent und klar) kurz einvernommen, er präsentiert sein Lied, wird von Beckmesser nach diversen Fehlern mit dem ärgerlichen „Seid ihr nun fertig?“ unterbrochen, und die Meistersinger beschließen „versungen und vertan!“, wobei Hans Sachs der neuen, ungewohnten Kunst doch die Gelegenheit geben will, zu Ende zu singen. Während des von Wagner virtuos komponierten Schlusses mit durcheinanderzeternden Meistern und lästernden Lehrbuben (mit starkem accelerando im Orchester, das die Lehrbuben etwas überfordert) wird der Wahnfriedsalon nach hinten weggezogen, und nach einem schnellen Umbau findet sich Hans Sachs im Schwurgerichtssaal 600 wieder, in dem 1945/1946 unter den Fahnen der vier Siegermächte der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher durchgeführt wurde. Der optische Effekt ist verblüffend, und man ist auf den zweiten Aufzug gespannt. Der akustische Effekt ist ebenfalls verblüffend, fehlt doch auf einmal die Begrenzung der Bühne, und ein großer Teil des Orchesterklangs verpufft auf einmal nach hinten und oben.Zu Beginn des zweiten Aktes steht die Gerichtsszenerie immer noch, mit ein paar Requisiten angereichert. Als zusätzliche Zeitebene würde man Bezüge zum Prozess erwarten, doch werden diese nicht hergestellt. Der zweite Aufzug hat einen starken Moment, als Walther von Stolzing in einem seiner gar nicht seltenen Wutausbrüche („Ha, diese Meister!“) sich in etwas hineinsteigert, was zwischen Wut und Wahn angesiedelt ist und von Wagner mit einer sehr anspruchsvollen Musik unterlegt wurde, deren tonaler Charakter erheblich ins Schwimmen gerät (ein Trick, den Wagner kurz zuvor im ersten Akt der Oper Siegfried bei Mimes Schreckensvision „Verfluchtes Licht!“ ausprobiert hatte). Barrie Kosky bringt zu Walthers Wut die Lehrbuben auf die Bühne, die um ihn herumtanzen und eine Katzenmusik veranstalten. Durch dieses Charivari wird die grundlose und grenzenlose Gewalt der nächtlichen Prügelei bereits angedeutet und die dissonante Musik auch einmal sichtbar, während der Nürnberger Gerichtssaal bis zum Ende des zweiten Aufzugs eine nicht weiter einbezogene Dekoration bleibt.In der Rezeptionsgeschichte wurde oft die Frage diskutiert, ob Sixtus Beckmesser denn als Judenkarikatur zu werten sei. Wagner macht sich einerseits über Kritiker lustig (vor allem über seinen Widerpart Eduard Hanslick, der in der Urfassung der Meistersinger dem Merker „Hans Lich“ auch beim Namen als Vorbild diente), andererseits karikiert er Beckmesser auch musikalisch. Als Nürnberger Stadtschreiber kann Beckmesser, historisch gesehen, nicht Jude gewesen sein; die Regie weicht hier aus und verweist auf den Ausschlussmechanismus in gruppendynamischen Prozessen, in denen jemand ‚zum Juden gemacht‘ werde. Im zweiten Akt wird daraus ein riesiger Ballon mit einer Judenkarikatur wie aus dem StürmerJulius Streichers, optisch die ganze Szene dominierend, und auch Beckmesser bekommt einen solchen Kopf aufgesetzt. Die Vermischung der Zeit- und Bedeutungsebenen geschieht hier um den Preis einiger Unschärfen – sehen wir nun Hermann Levi, der tatsächlich Jude war, was von Richard und Cosima Wagner wieder und wieder thematisiert wurde, oder sehen wir den Stadtschreiber Sixtus Beckmesser, der zu etwas gemacht wird, was er gar nicht ist? Unschärfen gab es bei der Prügelfuge leider auch in der Abstimmung zwischen Graben und Bühne. Johannes Martin Kränzle allerdings konnte als Merker in den ersten beiden Aufzügen seine ganze sängerische und darstellerische Klasse zur Geltung bringen. Vor dem dritten Akt musste er sich aus gesundheitlichen Gründen ansagen lassen, konnte aber glücklicherweise die Vorstellung mit etwas Vorsicht zu Ende singen.Der dritte Aufzug spielt weiterhin im Gerichtssaal, und zwar sowohl die sogenannte Schusterstube als auch die Festwiese. Weiterhin wird das Bühnenbild kaum genutzt, Walther von Stolzing setzt sich obendrein sehr unbefangen auf die Anklagebank und einmal auf den Platz Hermann Görings und einmal auf den Alfred Rosenbergs, während er mit Hans Sachs die Konzeption seines Preisliedes bespricht. Klaus Florian Vogt stellt sich nicht nur der Partie, nach den vielen Jahren der Vertrautheit mit Wagner, speziell mit dieser Rolle und auch dieser Inszenierung kann er sie wirklich gestalten – und dies sogar besser als in früheren Jahren, als speziell im dritten Akt doch immer wieder eine gewisse Angestrengtheit auffiel, die zwar kein Wunder ist, aber doch zu Mängeln in der Gestaltung führte. Nicht so diesmal, als die Phrasierung sauber war und die ganze Partie bis zum Ende ausgesungen wurde. Stimmig war auch, wie Vogt vor den Preisliedern jeweils kurz innehielt, um sich zu sammeln oder der Inspiration Raum zu lassen. Musikalischer Höhepunkt war wie so oft das Quintett, in dem auch Christa Mayer, eine so wunderbare Fricka und Brangäne, mit den nun deutlich längeren Noten der Partie der Magdalene zu Glanz verhalf, während die vielen kurzen Einwürfe in den ersten beiden Akten nicht so gut zu ihrer Stimme passten. In den Szenen zwischen Sachs und Eva im zweiten und dritten Aufzug gewann das Regiekonzept noch einmal etwas an Plausibilität, da es zwischen den beiden hör- und sichtbar knisterte und Eva den auch bei Cosima und Richard bestehenden Altersunterschied als belanglos beiseitewischt.In der sogenannten Festwiese platzt das ‚Volk‘ in einer Kostümierung des 16. Jahrhunderts herein und entert sämtliche Plätze, sowohl die der Angeklagten als auch die von Gericht, Zeugen, Anwälten und Dolmetschern im Nürnberger Gerichtssaal, ohne dass wiederum mit dem Raum und seiner Funktion tatsächlich etwas ‚gemacht‘ würde. Es ist von beeindruckender handwerklicher Präzision, wie Barrie Kosky die Menschenmassen arrangiert (aber ist es Absicht, dass ein einziger Chorist oder Statist sich die Ohren zuhält, wenn die Bühnenmusik spielt?). Der Chor sang auf Bayreuther Niveau, also fabelhaft, soweit man dies bei einer Einspielung beurteilen kann (auf der Bühne durfte nicht in großen Gruppen gesungen werden). Gericht gehalten wird dann über Beckmesser, der gemäß Besetzungszettel eine Helga Beckmesser als Harfenistin mitgebracht hat. Soll diese Helga seine Frau sein? Dann wäre die Werbung um Eva / Cosima sinnlos. Also wohl eher eine Schwester oder Cousine, aber der kleine Einfall mit Niederschlag im Programmheft führt nicht weiter und eröffnet auch keine neuen Ansätze. Beckmesser wird vom Volk verdammt, verschwindet durch eine Seitentür, Walther fährt aus der Unterbühne direkt in den Zeugenstand, singt sein Preislied und wird bejubelt. Vor Sachsens Schlussansprache „Verachtet mir die Meister nicht“ wird die Bühne noch einmal umgebaut – sie wird genau genommen leergeräumt mit Ausnahme eines Rednerpults, an dem Sachs steht und ins Leere bzw. ins Publikum spricht. Was Michael Volle in dieser Partie leistet, kann man nicht genug betonen: von Anfang bis Ende frei, aussingend und noch in der Schlussansprache mit den nötigen Reserven ausgestattet, ist diese Inszenierung ohne ihn kaum denkbar. Eine Idealbesetzung, die für künftige Rollenporträts lange Zeit der Maßstäbe setzen dürfte.Das Überlagern verschiedener Zeit- und Ortsebenen verspricht im Einzelfall neue Perspektiven, das Ineinanderweben von historischer Erzählzeit, Entstehungszeit und Rezeptionsgeschichte hat ohne Zweifel seinen Reiz. Im Vergleich zu Stefan Herheim, der diesen Zugang in Bayreuth bereits 2008 mit Parsifal wählte, sind Barrie KoskysMeistersinger weniger stringent und letztlich beliebiger in den Bezügen, die eher illustrativen Charakter haben wie auch in Götz Friedrichs Inszenierung von 1993 an der Deutschen Oper Berlin oder Harry Kupfers letzter Deutung 2012 in Zürich, die sich beide mit einem Verweis auf die Trümmerlandschaft Nürnbergs nach dem Zweiten Weltkrieg begnügten.Das Publikum feierte diese unter sehr erschwerten Bedingungen gezeigte Vorstellung enthusiastisch, 900 Besucher waren lauter als sonst 2000. Musikalisch nicht immer, aber doch immer wieder auf allerhöchstem Niveau, zeigte diese Produktion die etwas zwiespältige, aber stets vielschichtige Regie von Barrie Kosky zum letzten Mal bei den Bayreuther Festspielen.II. O heilige Wonne – Parsifal - konzertant - Christian Thielemann
Am 10. August 2021 zeigten die Bayreuther Festspiele ei nes ihrer in diesem Jahr aus der Not geborenen Sonderformate: Eine Aufführung des Parsifal, jedoch nicht mehr in der nun abgespielten Regie von Uwe Eric Laufenberg, sondern in einer konzertanten Darbietung, eher unterstrichen als bebildert mit projizierten Bildern von Philipp Fürhofer.Das Orchester saß im Bayreuther Graben, da nur so die gerade bei Parsifal entscheidende Akustik zur Geltung kommt. Die Solisten waren auf der Bühne recht weit hinten platziert. Das Publikum folgte außerordentlich konzentriert und erlebte das in der Partitur mit „sehr langsam“ bezeichnete Vorspiel zum ersten Aufzug in einer sehr zügigen Lesart, wie überhaupt der erste Aufzug bereits nach gut anderthalb Stunden vorüber war, während andere Dirigenten bis zu zwei Stunden benötigen. Viele Passagen ließen aufhorchen, alles war aus einem Guss. Kenner des Dirigierstils von Christian Thielemann konnten einige neue Aspekte erleben. Beeindruckend wie stets war die Meisterschaft, mit der Thielemann die Qualitäten und auch die Tücken des Hauses beherrscht. Zudem stand ihm eine überaus erlesene Besetzung zur Verfügung. Als Gurnemanz sang Georg Zeppenfeld sonor und edel, und spätestens im Zusammenwirken mit dem Orchester in seiner Erzählung und einem schwebend-leise genommenen „auf Pfaden, die kein Sünder findet“ stellte sich endlich das beglückende Gefühl ein, das eine wahrhaft festspielwürdige Vorstellung trotz der widrigen Bedingungen entfalten kann. Den Amfortas hatte Michael Volle übernommen – obwohl er daneben noch den Hans Sachs zu singen hatte. Anders als die Darsteller dieser Rolle in den letzten Inszenierungen war Volles Amfortas betont viril und kraftvoll und konnte die Ausbrüche im ersten Aufzug („Erbarmen!“) und auch im dritten Aufzug in packender Weise verkörpern.Etwas überraschend war bei der Besetzung, dass Stephen Gould im schon vorgerückten Tenoralter die Partie des ‚reinen Toren‘ Parsifal übernommen hatte. Von der Farbe der Stimme war Gould ein krasser Gegensatz zu den letzten Bayreuther Rollenporträts von Klaus Florian Vogt und Andreas Schager, deutlich rauher, aber dadurch nicht weniger überzeugend. Goulds Partnerin aus Tristan und Isolde, Petra Lang, hatte die Kundry übernommen. Im ersten Aufzug war zu hören, dass sie auch über die tiefen Register verfügt, die für die vielen Sprünge in dieser Partie gefordert sind; im ersten Aufzug konnte sie diese Stärken aber noch nicht ganz ausspielen. Der Chor durfte nicht auf der Bühne singen, er wurde wie auch in den anderen Produktionen dieses Sommers und auch an anderen Häusern mittels Direktübertragung eingespielt – und das hörte sich bei diesem Parsifal besser an als viele andere Chöre auf der Bühne. Auffallend war, wie textverständlich von allen Beteiligten gesungen wurde. Nach der Gralsszene und vor dem letzten Glockeneinsatz des ersten Aufzuges setzte Thielemann eine lange Generalpause. Nach dem Schluss des ersten Aufzuges begannen zwei Besucher zu klatschen und hörten auf, das Publikum verließ ohne Applaus wortlos-bewegt das Festspielhaus.Zum zweiten Aufzug hatte sich das Publikum schon längst gesetzt, die Türen standen noch offen, doch sprach niemand ein Wort. Äußerste Spannung und Bewusstsein für den ganz besonderen Moment bereiteten den Boden für einen zweiten Aufzug, der im Vergleich zum ersten Aufzug deutlich langsamer dirigiert wurde. Die Solo-Blumenmädchen waren exquisit besetzt, die Szene wurde vom Orchester kammermusikalisch-transparent gespielt und auf der Bühne so deutlich gesungen, wie man es sonst eigentlich nie erleben darf. Derek Weltons bereits bewährten Klingsor kann man wohl als derzeitige Idealbesetzung ansehen – kraftvoll, in vielem tatsächlich der Gegenpart zu Amfortas, wie dieser genau verständlich. Petra Langs Kundry klang im zweiten Aufzug oft etwas forciert, während Stephen Gould die großen Töne in einer für ihn charakteristischen Weise und mit viel Kraftreserven herausschleuderte, die ‚kleinen‘ Noten aber mit großer Konzentration hörbar machte. Nach Kundrys „Ich sah ihn, ihn, und – lachte“ setzte Christian Thielemann eine nicht enden wollende Generalpause, während der dem Publikum der Atem stockte. Den Schlussakkord betonte er mit viel schwerem Blech. Es folgte ein spärlicher Applaus, keine Vorhänge.Auch zum dritten Aufzug war das Publikum schon längst stillgeworden, obwohl die Türen noch offenstanden. Viele Einzelmomente im Orchester lassen auch diesen Aufzug in bleibender Erinnerung bleiben, sei es das gewaltige Beben der tiefen Streichern bei Parsifal „und ich, ich bin’s, der all‘ dies Elend schuf!“, seien es die sehr zurückgenommenen Tempi bei „Gesegnet sei, du Reiner“, für die man zunächst einmal einen Gurnemanz-Sänger benötigt, der dafür den Atem hat (Georg Zeppenfeld hat ihn), sei es der von seltener Klangschönheit geprägte ‚Karfreitagszauber‘, in der sich die Oboe ganz besonders auszeichnete, aber auch die sehr zarten fallenden Streicheroktaven gut zu hören waren, seien es die Harfensechzehntel nach der Enthüllung des Grals. In der wuchtigen Verwandlungsmusik schien Thielemann vor jedem Takt und manchmal jedem Viertelschlag eine minimale Verzögerung einzuschalten, die dieser Trauermusik alles Marschartige nahm, ihr aber eine große dramatische Zerrissenheit gab. Diesen Kniff praktiziert Thielemann schon seit vielen Jahren, im Festspielhaus mit der speziellen Akustik und dem langen Nachhall wirkt dies alles aber noch viel organischer. Bei Parsifals obengenanntem verzweifelten Ausbruch passierte einer der ganz wenigen Schnitzer dieser Aufführung: Stephen Gould setzte zu früh ein, doch geistesgegenwärtig hielt er den Ton so lange, bis der eigentliche Einsatz gekommen war. Nur wenige Sänger dürften im dritten Aufzug diese Reaktionsschnelle und auch diese Kraft haben. Vor allem aber war dieser Aufzug buchstäblich „aus einem Guss“, in sich geschlossen, jeder Takt logisch aus der vorangegangenen Musik entwickelt und mit maximaler Konzentration im Graben, auf der Bühne und im Publikum umgesetzt.Der As-Dur-Schlussakkord wurde mit einem sehr langen Crescendo gespielt. Es folgten lange stehende Ovationen eines zu Recht begeisterten Publikums. Als Christian Thielemann vor den Vorhang trat, kannte der Jubel keine Grenzen mehr. Dieser Abend war eine Demonstration des Orchesters, wozu es fähig ist, und eine Demonstration des Publikums, was „Bayreuth“ aus der Zuschauerperspektive sein kann. Dieser Parsifal wird vielleicht auch gerade deshalb so denkwürdig bleiben, weil er ohne Bundestagsbühnenbild, ohne Hakenkreuze, ohne Raumfahrtvideos und ohne duschende Statisterie auskam und in äußerster Konzentration auf das Musikalische dennoch viel wirkungsvoller war als so viele Versuche der letzten Jahre.III. Konzerte als Luxusnotlösung – eine Idee mit Zukunft?
Andris Nelsons, in Bayreuth als Dirigent des Lohengrin über lange Jahre eine bewährte Kraft, dirigierte noch zwei Konzerte, von denen eines hier besprochen sein soll. Das Programm (der erste Aufzug aus Die Walküre, dann Auszüge aus Lohengrin und Parsifal) war inhaltlich und musikalisch nicht zwingend zusammengestellt. Dass das erste Konzert bis zu Beginn nicht ganz ausverkauft war, belegt wohl ebenfalls, dass dieses aus der Not geborene Format den Festspielen und den Erwartungen des Publikums nicht entspricht.Der erste Aufzug der Walküre (Patrik Klein berichtete für IOCO, link HIER!) war auch im Gesamtzusammenhang unter Pietari Inkinen zu erleben. Bei Andris Nelsons spielte das Orchester auf der Bühne, was sichtlich für Irritationen sorgte (klatscht man wie in einem normalen Konzerthaus oder nicht, wenn das Orchester auftritt? Wie ist der Applaus danach geregelt?). Das Blech saß wie bei einer normalen Orchesteraufstellung weit hinten in erheblicher Entfernung zum Zuschauerraum, war dadurch auch gedämpft, die Klangmischung war dennoch eine gänzlich andere als in Bayreuth bei einer Aufstellung des Orchesters im Graben. Bei starkem Blecheinsatz (das Wälsungenmotiv auf g nach „umfing‘ den Helden mein Arm“, das Schwertmotiv nach „heraus aus der Scheide zu mir“) verflog viel vom Klang nach oben, ohne im Publikum anzukommen. Hören konnte man sehr genau, beispielsweise die meist untergehenden Harfen zu „die bräutliche Schwester befreite der Bruder“. Andris Nelsons begann den ersten Aufzug sehr schnell, wurde dann aber im Verlauf des Aktes deutlich langsamer mit einer schon aus seinem Lohengrin bekannten Vorliebe für das lange Auskosten besonders schöner Stellen, die dann stellenweise etwas zu ziseliert schienen. Hierbei blieb er beim Gesamtvolumen soweit zurückhaltend, dass den Solisten stets genug Raum blieb. Auf dem Boden war eine Art Parkett verlegt, das für einigen Nachhall sorgte, besonders am Platz von Klaus Florian Vogt. Vogt befindet sich gerade in großer Form: stark, präsent, präzis, stets deutlich, rhythmisch sicher. Die Partie des Siegmund passt sehr gut zu seiner aktuellen Verfassung. Günther Groissböck als Hunding schien fast unterfordert, konnte aber diese Rolle in sehr ausgeruhter Verfassung präsentieren und empfahl sich damit nachdrücklich für weitere Rollen, auch wenn es in diesem Sommer nicht zu seinem Debüt als Wotan kommen sollte. Christine Goerke ihrerseits als Sieglinde sang die Töne mehr als einmal von unten an und flatterte in der Höhe etwas. Insgesamt scheint es, als wäre sie jetzt doch mehr im Brünnhildenfach zu Hause.Ist dieser Abend nun ein Konzert oder eine reguläre Vorstellung der Bayreuther Festspiele? Bei der Pause entschied man sich für den Festspielmodus, so dass es erst nach einer Stunde weiterging. Das folgende Vorspiel zum ersten Akt des Lohengrin gelang insgesamt sehr schön, im Detail gab es noch Verbesserungspotential (die Verzierung in den Violinen gegen Ende, einige Übergänge, das zu weit entfernte Blech, die etwas zu laute erste Oboe zu Beginn). Es folgten kurze Auszüge aus dem dritten Akt mit Klaus Florian Vogt. Die Gralserzählung ist natürlich sein Bravourstück, das er mit großer Routine und in Bestform präsentieren konnte. Doch hat diese Art der Häppchenkultur in Bayreuth wirklich ihren Platz? Die etwas gewaltsam wirkenden Konzertschlüsse, die oft nur etwas Pedal an die Haupttonart heranhängen, gehören sie ins Festspielhaus oder nicht doch eher ins Wunschkonzert?Diese Fragen stellten sich erst recht bei den folgenden Auszügen aus Parsifal, die aufgrund der Struktur der Komposition noch weniger als Lohengrin dafür geeignet sind, aus dem musikalischen Gesamtzusammenhang gerissen zu werden. Das Vorspiel zum ersten Aufzug dirigierte Andris Nelsons viel langsamer als Christian Thielemann wenige Tage zuvor, aber ebenfalls sehr klangschön. Beim folgenden Monolog „Amfortas! Die Wunde!“ war es nicht einfach, den ungeheuren Eindruck der konzertanten Aufführung unter Thielemann mit dem rauh und heldisch singenden Stephen Gould nicht im Hinterkopf zu behalten. Vogt sang mit großer Durchschlagskraft, aber die dramatische Gestaltung dieser Szene, zumal sie ohne den vorherigen Aufbau des zweiten Aufzugs erfolgen musste, konnte nicht so überzeugen wie die konzertante Vorstellung ein paar Tage zuvor – der wieder sehr abrupte Konzertschluss tat sein Übriges. Der „Karfreitagszauber“ hingegen war sicherlich der Höhepunkt dieses Konzertes, mit großer Schönheit und sehr homogenem Klang und ohne Manierismen, teilweise nur mit den Händen statt mit dem Taktstock modelliert. Parsifals Schlussansprache „Nur eine Waffe taugt“ aus dem dritten Aufzug gelang ebenfalls, doch ist es geradezu peinvoll, wenn auf „öffnet den Schrein“ kein Harfeneinsatz, sondern nur eine Fermate folgt und der Abend damit beendet sein soll. Die fehlenden drei bis vier Minuten bis zum Ende des Parsifal hätte man vielleicht auch ohne den eigentlich dazu singenden Chor rein instrumental spielen können. Der Applaus war eher kurz, aber sehr freundlich, viele verdiente Bravos für Andris Nelsons, Klaus Florian Vogt und das Orchester.Festspiele, die nur weniger als die Hälfte der Plätze im Vergleich zu früheren Jahren in den Verkauf geben können, aber dennoch nicht ausverkauft sind, müssen sich fragen, wie es dazu kommt. Wohl noch nie seit 1886, als erstmalig Tristan und Isolde in Bayreuth gezeigt wurde, war es so einfach, Karten für die Festspiele zu bekommen. Bei den einen mag die Angst vor einer Ansteckung eine Rolle gespielt haben; es fiel zudem auf, dass die vielen ausländischen Besucher fehlten, die sonst aus den USA, Japan und vielen anderen Ländern kommen und denen eine Reise nach Europa mit vertretbarem Aufwand nicht möglich war. Wieder andere mögen das Prozedere mit Registrierung, mehrfachen Kontrollen und FFP2-Maskenpflicht übertrieben oder abschreckend gefunden haben. Angesichts dieser Vorschriften können die Festspiele froh sein, dass es zu keinem Zeitpunkt 35 Grad heiße Tage gab, denn sonst hätte diese Maskenpflicht bei langen Stücken wie den Meistersingern oder Parsifal wohl gesundheitliche Probleme ganz anderer Art hervorgerufen.Als Fazit bleibt ein nicht ganz einheitlicher musikalischer Eindruck, gleichzeitig die Freude über einige schöne Momente und echte Sternstunden und die Genugtuung, dass es überhaupt Festspiele geben konnte, gepaart mit der Hoffnung, dass die Sonderformate und Notprogramme so schon 2022 nicht mehr nötig sein werden. Allen Beteiligten gebührt Dank, dass sie unter diesen deutlich erschwerten Bedingungen die Festspiele ermöglicht haben.
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