Bayreuth, Bayreuther Festspiele 2024, SIEGFRIED – Richard Wagner, IOCO
Selten hört man eine so wortverständliche Brünnhilde wie die von Catherine Foster, dazu mit dunkel weichen Farben. Ihre Höhen sind schlank und klar.
von Ingrid Freiberg
Siegfried, ein jugendlich schöner Mensch in der üppigsten Frische seiner Kraft
Erst nach Tristan und Isolde und Die Meistersinger von Nürnberg komponierte Wagner den letzten Aufzug von Siegfried. Inzwischen hatte sich sein Stil verändert. Bei jeder Aufführung ist es wie ein Schock, wenn sich der Vorhang hebt, und die reichere Kompositionstechnik zu hören ist. Wie aus einem anderen Leben taucht Wagners Musik wieder auf. Sie ist die Stimme seines jüngeren Selbst, die sich nun wieder Gehör verschafft. Gegensätze sind ein beliebtes Thema bei Wagner. Eine psychologische Studie ergab, dass weder eine musikalische Ausbildung, noch Sprachkenntnisse notwendig sind, um die Motive zu erkennen und sich an sie zu erinnern. Sie sind hervorragend geeignet, sich im Gedächtnis des Publikums einzunisten.
Anfangs spielte Siegfried, der blonde Held, in Wagners Phantasie eine fast erotische Rolle. Er sprach von dem „jugendlich schönen Menschen in der üppigsten Frische seiner Kraft…, der wirkliche nackte Mensch, an dem ich jede Wallung des Blutes, jedes Zucken der kräftigen Muskeln… erkennen durfte. Er ist der von uns gewünschte, gewollte Mensch der Zukunft…, der aber nicht durch uns gemacht werden kann, und der sich selbst schaffen muss durch unsre Vernichtung.“ Zuweilen klang der Komponist fast enttäuscht von seinem Helden. Siegfried ist die problematischste Figur im Ring. Seine tragische Schwäche ist seine Unwissenheit. Es ist die archetypische Geschichte eines werdenden Superhelden, der in sich Kräfte entdeckt, die er noch nicht versteht. Kein Wunder also, dass er mit Tieren umgeht wie andere mit Menschen, und es ist nur folgerichtig, wenn er die Sprache der Vögel versteht. Siegfrieds besonderes Verhältnis zur Natur veranschaulicht musikalisch sein berühmter Hornruf, ein Motiv, das zum einen aus lauter Naturtönen gebildet ist und zum anderen vom Horn gespielt wird als jenem Instrument, das mindestens seit Webers Freischütz das klassische Instrument zur musikalischen Verkörperung des Waldes und damit der unverbildeten Natur ist. Auch das sogenannte „Waldweben“, eine Musik, die durch Klangflächen, ostinate Rhythmen und in sich kreisende Melodik den Eindruck harmonischer Zuständigkeit und glücklichen In-sich-Ruhens hervorbringt, dient der Demonstration von Siegfrieds innerer Nähe zur Natur. Freilich hat seine Naturverbundenheit auch eine Kehrseite: Isoliert von der Gesellschaft und beschränkt auf den Kontakt zu seinem Ziehvater Mime hat er große soziale Defizite und versteht sich nicht auf den Umgang mit seinesgleichen. Seine Methode, zum Erfolg zu kommen, ist die Gewalt. Keine Furcht zu kennen, ist Ausdruck dieses Defizits, denn Angst ist ein normales, natürliches Phänomen, als Instrument zur Erkenntnis von Gefahr notwendig, zur Existenz und zum Überleben. Dass in Siegfried noch alles gut geht, hat u.a. damit zu tun, dass Wagner seine Titelgestalt während der Entstehung des Werkplans mit der Hauptperson im Grimmschen Märchen Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen verband. Zudem erinnert die Erweckung Brünnhildes an Dornröschen. In diese Märchenwelt fügen sich sowohl Zwerge (Mime, Alberich) als auch Drachen (Fafner) nahtlos ein; desgleichen der Waldvogel, der Siegfried berät.
Ganz im Sinne der Werkstatt Bayreuth hat Regisseur Valentin Schwarz weiter an seiner Inszenierung gearbeitet. So dürfen sich Siegfried und der junge Hagen anfreunden und durch den Rahmen eines Vater-Sohn-Gemäldes einen Weg in die vermeintliche Freiheit bahnen. Die wenigen szenischen Veränderungen reichen allerdings nicht aus, die mythischen Leerstellen auszugleichen.
Eine Kinderwelt mit Puppen
Auch in Siegfried, dem zweiten Tag der Tetralogie, werden die häufigen Szenenwechseln auf offener Bühne technisch-logistisch fabelhaft gemeistert. Mimes Höhle, sie ähnelt in der Konstruktion der Behausung Hundings in der Walküre, ist nun in eine Kinderwelt mit Puppen, eine der Puppen ist Sieglinde nachempfunden, mit Kasperletheater und mit einem Aquarium umgewandelt. Eine „Happy Birthday-Girlande“ gaukelt einen fröhlichen Kindergeburtstag vor, zum dem Wotan Notung als Geschenk mitbringt.
Für den 2. Aufzug entwarf der Bühnenbildner Andrea Cozzi einen geräumigen Salon im Bauhausstil mit chromgefassten braunen Ledersesseln, weiß gepolsterter Sitzgruppe, loderndem Kamin… Der greise Fafner lagert quer im Raum auf seinem Totenbett. Die Kostüme von Andy Besuch betonen gekonnt die Wesens- und Herkunftsunterschiede von Siegfried und Brünnhilde: Siegfried hemdsärmelig mit lindgrüner Comouflage-Schutzweste, Brünnhilde in einem plissierten, sehr weiblichen, antik anmutenden Kleid mit Umhang. So erscheint sie – nach einem Facelifting? in eine menschliche Frau verwandelt - auferstanden mit einem Kopfverband aus einer Glaspyramide.
Der „neue“ Siegfried wird mit Spannung erwartet
Im dritten Jahr präsentiert sich die Inszenierung unter anderem mit einer rundum erneuerten Tenor-Riege. Wobei natürlich vor allem der erste Bayreuther Siegfried von Klaus Florian Vogt mit Spannung erwartet wurde. Die Erwartungshaltung war hoch, und er wird der Aufgabe, die tiefen und komplexen Emotionen des Siegfried darzustellen, diese komplexe und anspruchsvolle Figur zu verkörpern, mehr als gerecht. Der junge Held kommt seiner hell und klar geführten Stimme entgegen. Besonders ergreifend sind die lyrischen Momente wie das "Waldweben“ oder die Erweckung Brünnhilds, wenn er zum ersten Mal Furcht erlebt. Die Schmiedelieder liegen ihm weniger. Er ist eher der Grübler, der sich jede Phrase und jede Bewegung genau zurechtlegt. Der Siegfried von Vogt beeindruckt neben Klangschönheit und Klarheit durch deutliche Diktion. Mit strahlend hohen Tönen und großer Ausdruckspalette stellt er sich ganz in den Dienst der Musik. Beeindruckend sein Stimmschmelz und seine Ästhetik. Am Ende, in höchstem Liebesjubel, erweckt er die Leidenschaft von Brünnhilde „Selige Öde auf sonniger Höh’!“ und gibt ihr einen langen Kuss. Das minutenlange Duett erzeugt auch beim Publikum rauschhafte Gefühle…
Selten hört man eine so wortverständliche Brünnhilde wie die von Catherine Foster, dazu mit dunkel weichen Farben. Ihre Höhen sind schlank und klar. Leuchtend wie die Liebe strahlt ihr Sopran „Heil dir, Sonne!“ Sie beeindruckt einmal mehr mit ihrer betont warmen Ausstrahlung und ihrem emotionalen Spiel. Es gelingt ihr, Glück und Traurigkeit mit großer Innigkeit darzustellen. Nach dem Schlussduett der beiden Liebenden bricht Jubel aus, langanhaltend und mit dem in Bayreuth üblichen Fußtrappeln.
Ya-Chung Huang, der zweite tenorale Neuzugang, ist ein spielfreudiger Mime, der ohne vokale Grimassen auskommt und seine intriganten Pläne mit einschmeichelndem Spiel perfekt zu tarnen versteht. Quicklebendig, mit klarer Textwiedergabe, fein ausdifferenziert und nuanciert durch Tonfärbungen und Artikulationsfeinheiten legt er in seinen Gesang eine Art von naiver Hinterlist. Sein Schlagabtausch mit dem Wanderer zählt zu den Höhepunkten des Abends. Beispielhaft ist der Wanderer von Tomasz Konieczny, der ihm besonders zu liegen scheint. Gegenüber den Vorabenden hat sich seine Artikulation verbessert. Das erforderliche Timbre kommt ihm hörbar entgegen. Als lyrisch liebender Gott, bisweilen wütend auftrumpfend, gelingt es ihm, eine große Palette an Stimmungen aufzurufen. Imposant, sicher im Ton und angenehm im Klang, tönt sein dramatischer Bassbariton. Die klar geformten Randlagen sind harmonisch, quasi bruchlos miteinander verbunden. Konieczny brilliert nicht nur schauspielerisch, sondern bleibt auch musikalisch nichts schuldig. Ein Kabinettstückchen ist das Fragespiel mit Mime „...und setze mein Haupt der Wissenswette zum Pfand“. Olafur Sigurdarson als Alberich knüpft an seine Leistung in „Rheingold“ an und bietet wiederum eine souveräne Darstellung: Seine szenische Ausstrahlung ist von überzeugender Intensität und hinreißender Präsenz, besticht durch seine gut gespielte und gesungene Unverfrorenheit: Er ist ein machtbesessener bösartiger Zwerg, der verschlagen mit seinem Widersacher Wotan Whisky trinkt, und dabei seelenruhig zuschaut, wie der hinfällige Fafner, nachdem Siegfried ihm seinen Stock weggetreten hat und auf ihn einsticht, einen Herzinfarkt erleidet und anschließend vom jungen Hagen mit einem Kissen erstickt wird. Sein Verhalten ist unverfroren und markant. Ausdrucksvoll ist Tobias Kehrer in seiner kurzen Sterbeszene als Fafner, ein ekelhafter Familiendrache in Gestalt eines hinfälligen reichen Greises, der mit röhrendem Bass in seinem Pflegebett liegt, bedrohliche Töne ausstößt und nach den Pflegerinnen grapscht.
Okka von der Damerau gräbt aus den Tiefen ihres Mezzos alles Wissen der Urmutter Erda aus. Ihre Weissagungen sind klangschön zupackend, schmerzlich treibend. Sie braucht keine zusätzlichen Gesten, ist mit ihrer kraftvollen farbreichen Stimme hochdramatisch und raumgreifend.
Das Waldvögelein von Alexandra Steiner verzaubert und führt Siegfried. Es scheint, als mache er schon hier Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht, zumal ihm Mime bereits ein anregendes Magazin zum Geburtstag geschenkt hat, dass er interessiert durchblättert. Anmutig, mit jugendlicher Natürlichkeit, entzückt sie mit der Reinheit der Gesangslinien und den mühelos jubilierenden Höhen. Branko Buchberger ist der junge Hagen, der Goldjunge, der Pfleger des todkranken Fafner und Siegfrieds Freund. Er begleitet ihn auch zu Brünnhilde. Siegfried ist von der hübschen Erscheinung der ehemaligen Walküre derart eingenommen, dass er Hagen überhaupt keine Beachtung mehr schenkt. Das nimmt er ihm übel und ist in hohem Maße gekränkt, was seine Rache in der Götterdämmerung erahnen lässt. Igor Schwab als Pferd Grane ist ein gutaussehender Mann, der Brünnhilde als Assistent und Liebhaber? begleitet. Siegfried sieht in ihm einen ernstzunehmenden Gegner im Kampf um die Gunst der ehemaligen Walküre. Großes Vergnügen bereitet die Szene, in der sich die beiden Kontrahenten um Brünnhilde streiten. Den Sieg in diesem heiteren Gerangel trägt Siegfried davon.
Simone Young entfaltet den vollen Orchesterklang
Der Jubel für Simone Young Musikalische Leitung nimmt von Tag zu Tag zu. Die Dirigentin nimmt sich auf der dritten Etappe der Tetralogie erneut viel Zeit für Wagners Partitur, ohne dabei mit ihren getragenen Tempi den Bogen zu überspannen. Getreu dem Scherzo-Charakter fördert sie die kammermusikalischen Qualitäten des Festspielorchesters, das sie nicht nur im transparent ausgestalteten 2. Aufzug immer wieder sanft abzudämpfen versteht, ein scharf gezogener Kontrast, durch den die wuchtigen Schmiedelieder oder das stürmische Vorspiel zum 3. Aufzug umso unbarmherziger hereinbrechen und ihre Wirkung nicht verfehlen. Das „Waldweben“ schwebt förmlich durch die Luft, die Harfenglissandi glänzen hell wie die Sonne. Das Festspielorchester spielt die „Erweckung“ sowie die Liebesmusik „Leuchtende Liebe, lachender Tod...“ auf höchstem Niveau. Das Anfangsthema, die dunklen Farben von Bratschen, Celli und Fagott, wird fein phrasiert. Der warme Klang, den die Musiker zu Beginn hören lassen, wird beibehalten, die tiefen Streicher kontrapunktieren die aufblühenden Geigen mit groß angelegten Bögen, in lautmalerisch an- und abschwellender Dynamik. Wunderbar geschärft die Hörner und Trompeten, hauchzart und melancholisch die Klarinettensoli. Young entfaltet den vollen Orchesterklang mit Blechbläsern und virtuosen Holzblasinstrumenten und schafft Momente von unglaublicher Schönheit. Durchweg herrschen große Präzision und Transparenz. Sie hat ein klares Konzept, unaufdringlich, aber suggestiv. Es war ein sensationeller Siegfried, ein absolutes Bayreuth-Erlebnis par excellence! Am Ende gab es für das gesamte Ensemble stürmischen Applaus.