Bayreuth, Bayreuther Festspiele 2024, PARSIFAL – Richard Wagner, IOCO
Jay Scheib hat zentrale Elemente umgedeutet, man soll die Geschichte im Lichte unserer Erfahrung betrachten. Daher präsentiert Scheib keine werkgetreue Inszenierung, sondern eine Neudeutung. Der Regisseur bedient sich einer eigenen Ästhetik. Er will mit der AR eine Leichtigkeit schaffen.
von Karin Hasenstein
Parsifal als Dystopie
Die Neuinszenierung des Parsifal durch den amerikanischen Regisseur und Videokünstler Jay Scheib geht in der Festspielsaison 2024 in ihr zweites Jahr. An einigen Stellen wurde leicht nachjustiert, insgesamt ergeben sich aber keine eklatanten Veränderungen in der Inszenierung. Bei den AR-Effekten wurde im Einzelnen nachgesteuert, hier fehlt der Rezensentin aber der persönliche Vergleich zum Vorjahr.
Nach dem kurzfristigen krankheitsbedingten Ausfall des Titelhelden Andreas Schager als Tristan am Vorabend stellte sich dem gespannten Publikum die Frage, wer singt heute? Der Besetzungszettel wies Klaus Florian Vogt aus.
Zu Beginn des ersten Aufzuges trat der Pressesprecher der Bayreuther Festspiele vor den Vorhang und verkündete dem gespannten Publikum, dass Herr Vogt im Ausland erreicht worden sei, sich auch sofort freundlicherweise bereiterklärt hatte, einzuspringen, sein Flug jedoch Verspätung habe, wodurch er seinen Anschlussflug nicht erreicht habe. Er werde daher die Rolle des Parsifal ab dem zweiten Aufzug übernehmen. Für den ersten Aufzug sprang Tilman Unger ein, der bereits am Vortag den Tristan „gerettet“ hatte.
Der zweite Aufzug konnte dann mit leichter Verspätung starten, nachdem Klaus Florian Vogt im Festspielhaus gelandet war und direkt auf die Bühne eilte. Alleine für diese Flexibilität und Professionalität war ihm das vollbesetzte Festspielhaus mehr als dankbar!
Erster Aufzug – Siehst du den Blick?
Der Vorhang im Festspielhaus bleibt während des Vorspiels geschlossen. Der spanische Dirigent Pablo Heras-Casado gestaltet das Vorspiel zauberhaft atmosphärisch dicht, Flöten und Harfen treten angenehm hervor. Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf eine dunkle Bühne, Nebel umwabert das zentrale Element, einen großen metallischen Monolithen. Zentrales Element ist eine Wasserfläche (Bühne: Mimi Lien, Licht: Rainer Casper).
Gurnemanz liegt auf dem Boden, er trägt ein gelbes Kleidungstück, eine Art Hosenrock, drüber eine Schürze und ein helles Hemd (Kostüme: Meentje Nielsen). Ein Stück entfernt liegt Kundry und schläft. Auf einer Projektionsfläche im Hintergrund ist ein Video zu sehen. Hier kann das Publikum in der Live-Vergrößerung sehen, was auf der Bühne geschieht, Kameraleute im Kostüm filmen Teile der Handlung, die auf die Fläche im Hintergrund übertragen werden. Im ersten Jahr wirkte das noch sehr befremdlich und zum Teil störend, im zweiten Jahr gehört es einfach dazu und wird als Teil der Handlung akzeptiert. Zudem hat es den Vorteil, dass entscheidende Abläufe auch für weiter von der Bühne entfernt liegende Plätze deutlich sichtbar gezeigt und nachvollziehbar werden, wie etwa das Waschen und Versorgen der Wunde von Amfortas. Durch eine Art Rückblende erfahren wir, dass zwischen Gurnemanz und Kundry offenbar eine Liebesbeziehung besteht. Er betrachtet die Schlafende und wendet sich dann mit der Ansprache „He! Ho! Waldhüter ihr!“ an die Knappen. Das Dirigat verströmt eine große Ruhe, die tiefen Streicher klingen dicht und homogen wie Samt. Kundry (Ekaterina Gubanova) erscheint mit einem Pyroeffekt und starker Belebung des Orchesters angekündigt (einer Zauberin würdig) und bringt Balsam für die Wunde des Amfortas.
Die Ritter, in Kostümen mit Camouflagemuster und hellen Hemden mit dem Symbol der Gralsritterschaft, der Taube, bringen den siechen König Amfortas, der an einer Wunde leidet, die sich nicht schließen will. Diese Wunde hat ihm Klingsor zugefügt, als er ihm den Heiligen Speer entrissen hat. Seitdem leidet Amfortas an dieser Wunde und mit ihm die gesamte Gralsritterschaft. Diese Wunde und ihre Versorgung, die aber nie zu einer Heilung führt, wird im Verlauf der Handlung überdeutlich gezeigt und wird so zu einem zentralen Element. Sogar das Kostüm von Amfortas hat an der entsprechenden Stelle eine Aussparung, so dass die blutende Wunde immer präsent ist. Er trägt eine weiße lange Hose und ein weißes Hemd, so dass der Kontrast zur blutenden Wunde sehr deutlich ist. Der König strahlt trotz seiner quälenden Wunde mit langsamen Bewegungen eine große Ruhe aus. Er verkündet der Gralsritterschaft, dass Erlösung vom kollektiven Leiden nur ein „reiner Tor“ bringen kann, der „durch Mitleid wissend“ ist. Gurnemanz reicht Amfortas den Balsam, den Kundry gebracht hat, es ist eine Plastiktüte mit einem gelben Pulver. Eine Anspielung auf die „Schätze“ unserer modernen Welt, kostbare Bodenschätze, seltene Erden, die schwer und aufwendig zu gewinnen sind. Der Chor, die Gralsritter und Knappen tragen eine Art Flecktarn, ein Camouflagemuster, das sie als zu einer Gemeinschaft gehörig kennzeichnet. Es ist dem Tarnmuster von Fischen angelehnt, die im Wasser unter Lichteinstrahlung mit ihrer Umgebung verschmelzen. Während die Knappen und Kundry hinter dem Monolithen Amfortas‘ Wunde waschen und versorgen, wird dieser Vorgang in Großaufnahme auf der Projektionsfläche gezeigt. Gurnemanz erklärt auch, warum Kundry dienen muss, nämlich „zu büßen Schuld aus früherem Leben“. Sie, die einst den gepeinigten Christus am Kreuz verlachte, ist dazu verdammt, ewig über die Erde zu wandeln und den Gralsrittern zu dienen, ohne auf Erlösung hoffen zu können. Aufsässig verkündet sie „Ich helfe nie!“, wodurch ihre Handlung dazu in einem gewissen Widerspruch steht. Alle lauschen gebannt Gurnemanz‘ Erzählung über den Heiligen Speer, während die Wunde unaufhörlich blutet, ein nicht enden wollender Prozess, der die Ausweglosigkeit und das Leiden von Amfortas und der Gralsritterschaft anschaulich und eindrücklich verdeutlicht.
Als die Knappen schließlich einen erlegten Schwan bringen, wird parallel ein toter Schwan im Video gezeigt. Parsifal tritt auf (im ersten Aufzug Tilman Unger) in einem weißen T-Shirt, blauer Hose und roter Weste und mit einem Bogen in der Hand. Von Gurnemanz befragt, was er hier mache und woher er komme, stellt sich heraus, dass der Fremde nichts weiß, nicht einmal seinen Namen. Einzig an seine Mutter kann er sich erinnern. Die Ritter gehen ab, Gurnemanz, Parsifal und Kundry bleiben zurück. Für den naiven Knaben Parsifal ist das alles zu viel, er stellt fest „Ich verschmachte“, während aus dem Boden Nebel und rotes Licht hervortreten und sich der Hintergrund pink verfärbt. Als der König vom Bade zurückkehrt, möchte Parsifal wissen, wer der Gral ist, doch Gurnemanz spricht für ihn weiter in Rätseln: „Das sagt sich nicht; doch bist du selbst zu ihm erkoren, bleibt dir die Kunde unverloren.“ Mit der Verwandlungsmusik wechselt das Licht von Pink zu Lila, Blitze zucken aus dem Monolithen, der Lichtkranz, bisher im Wasser verborgen, schwebt über dem See in die Höhe, das Wasser tropft herab, die gesamte Szene verfehlt ihre Wirkung nicht. Der Chor, die Gralsritter treten auf, sie tragen weiße Gewänder, die nach unten hin gelb auslaufen. Sie begrüßen einander. An dieser Stelle zieht Heras-Casado das Orchester ganz groß auf, die Musik steigert sich immer mehr, die Motive verdichten sich. Die Ritter bringen religiöse Versatzstücke, eine Monstranz und andere Reliquien, die sie bewahren, wie eine silberne Hand und einen Pfeil.
All diese Symbole tauchen auch in der AR als Verstärkung wieder auf. Die Gralsglocken erklingen und verbreiten eben jene Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann und die den Parsifal so besonders macht. Der Chor der Gralsritter „Zum letzten Liebesmahle“ zeichnet sich durch absolute Ausgewogenheit und exzellente Textverständlichkeit aus (Chorleitung Eberhard Friedrich). Der Herrenchor steigert sich zu einem bombastischen Fortissimo, unterstrichen vom tiefen Blech des Orchesters in einer ungeheuren Dynamik. Aus der Höhe („auf dem Theater“) ertönt der Frauenchor mit dem Glaubensmotiv, „Der Glaube lebt, die Taube schwebt, des Heilands holder Bote“. Gerade im Parsifal ist es immer wieder der phantastische Festspielchor, der für die ganz besonderen Momente sorgt. Die Ritter bringen Amfortas, in seinem langen weißen Mantel ein großer runder Ausschnitt für die Sichtbarmachung der blutenden Wunde. Gurnemanz erscheint in einem prachtvollen geschmückten Mantel. Die Knappen bringen die Abendmahlsgefäße und den mit einem Tuch verhüllten Gral, der in diesem Fall ein riesiger Kobalt-Kristall ist, Sinnbild für die Bodenschätze und seltenen Erden, die für uns heutige Menschen so wertvoll geworden sind. Aus dem Hintergrund erklingt die Stimme Titurels (Tobias Kehrer), „Mein Sohn Amfortas, bist du am Amt?“ Als alle versammelt sind, fordert Titurel Amfortas auf „Enthüllet den Gral!“, doch dieser fürchtet sich, weil sein Leiden dadurch immer wieder verlängert wird, „Nein, lasst ihn unenthüllt!“ Den folgenden großen Monolog gestaltet Derek Welton sehr eindrucksvoll und expressiv. Er stell den Gequälten absolut überzeugend dar. Die Farbe im Hintergrund wechselt von hellblau über gelb zu grün. Die Ritter bringen den uralten Titurel, er geht barfuß, hat lange graue Haare und einen Bart und trägt ein langes graues Gewand. Die Szene steigert sich immer mehr, in den Soli, im Orchester wie durch die Bühne. Gurnemanz fordert nun wiederholt „Enthüllet den Gral“. Amfortas kniet, kann sich kaum noch halten. Der Gral, ein blauer Kristall, wird der Gemeinschaft der Ritter präsentiert. Zu der Abendmahlszeremonie lässt Amfortas Blut aus einer Schale über den Gral in eine andere Schale fließen. Er trinkt von dem Blut, ebenso Titurel. Dieser erscheint daraufhin plötzlich deutlich verjüngt, mit kurzen Haaren und ohne Bart. Tobias Kehrer begeistert durch sein wunderschönes Timbre, sonore Tiefe und gute Textverständlichkeit. Zur Chorstelle „Wein und Brot des letzten Mahles wandelt‘ einst der Herr des Grales“ machen die Flöten auf sich aufmerksam. Das Orchester ist dezent abgestimmt, die Balance zwischen Bühne und Graben passt. Zu den Worten „Nehmet vom Brot…“ tragen die Ritter die Reliquien raus. „Froh im Verein“ erklingt in satten Fortissimo. Zum letzten „Selig im Glauben“ heben alle die Arme in die Höhe. Gurnemanz, Kundry und Parsifal bleiben zurück. Parsifal steht wie erstarrt vor dem Monolithen. Im Orchester erklingen wieder die Gralsglocken, der Lichterkranz senkt sich zurück in den See, das Licht wird gedimmt. Gurnemanz fragt Parsifal „Weißt du, was du sahst?“ und jagt ihn fort, da er offenbar keine Ahnung hat. Parsifal geht ab und es erklingt die Stimme aus der Höhe „Durch Mitleid wissend, der reine Tor!“ (sehr schön rein und strahlend Marie Henriette Reinhold). Hinter Kundry leuchtet rosa strahlendes Licht. Der Frauenchor beendet mit zartesten ppp mit dem Ausruf „Selig im Glauben!“ den ersten Aufzug.
Zweiter Aufzug – Klingsors Zaubergarten
Die Spannung vor dem zweiten Aufzug steigerte sich dadurch, dass sich der Beginn zweimalig verzögerte. Das Publikum wunderte sich über die verspäteten Pausenfanfaren ebenso wie über den verzögerten Einlass. Das dürfte in der langen Geschichte der Bayreuther Festspiele auch nicht so häufig gewesen sein. Die Rezensentin erlebte das jedenfalls zum ersten Mal. Als das gespannte Publikum mit zwanzigminütiger Verspätung schließlich im Zuschauerraum Platz genommen hatte, konnte der Pressesprecher endlich verkünden, dass Herr Vogt im Festspielhaus gelandet sei und quasi gerade ins Kostüm steigt. Das Publikum kommentierte diese Ankündigung begeistert und mit dankbarem Applaus. Das Vorspiel ist lebhaft. Ein völlig anderes Klangbild leitet den zweiten Aufzug ein. In erregten Streichermotiven bildet sich das Klingsormotiv heraus. Klingsor hat sein eigenes Reich geschaffen. Die Gralsritter haben ihn aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen, da er nicht keusch sein konnte. Als Strafe dafür hat er sich selbst entmannt. Nun versucht er Rache zu nehmen, indem er die keuschen Ritter in seinem Zaubergarten von erotischen Blumenmädchen verführen lässt. Klingsor (Jordan Shanahan) erscheint in einem pinkfarbenen Anzug mit Blumentattoos auf der Brust, langen schwarzen Haaren und High Heels, um ihn herum zucken Lichtblitze.
Kundry liegt im Hintergrund auf einer Mauer. Mit den Worten „Herauf, herauf zu mir, dein Meister ruft dich Namenlose!“ ruft er Kundry herbei. Im Hintergrund „erwacht“ Kundry und lässt die berüchtigten Kundryrufe erklingen, während im Vordergrund das Kundry-Double zu sehen ist. In der Mitte befindet sich das Wasserbecken, in das einige Stufen hinabführen. Für einen kleinen Lacher im Publikum sorgt die Tatsache, dass Parsifal in Klingsors Zauberreich eindringt, indem er sich von der hinteren Wand abseilt. Das Orchester agiert voller Schwung, lebendig und leicht, dann wieder zupackend. Die Blumenmädchenszene besticht durch geballte Erotik gepaart mit ausgezeichnetem Gesang. Die Szene ist gut zwanzig Minuten lang und äußerst komplex komponiert. Sechs Blumenmädchen-Solistinnen konzertieren mit sechs Chorstimmen in zwei Chören. Die Solo-Blumenmädchen (Evelin Novak, Catalina Bertucci, Margaret Plummer, Flurina Stucki, Betsy Horne, Marie Henriette Reinhold) geben sich alle Mühe, den unschuldigen Parsifal nach allen Regeln der Kunst zu verführen. Dies geschieht auf höchstem musikalischen Niveau, die sechs Damen sind perfekt zusammen, präzise und gestalten die anspruchsvolle Szene mit großer Souveränität und Leichtigkeit, dass es eine Freude ist, zuzuschauen und –zuhören. Die Blumenmädchen tragen pinkfarbene Hosenanzüge und ähnlich wie Klingsor Blumentattoos auf dem Oberkörper. Die ganze Bühne ist geprägt von prächtigen knalligen Farben und großen Blüten und Blättern, ein üppiger fruchtbarer Garten. Mitten in dieser Pracht findet sich der naive Parsifal wieder. Plötzlich umgarnen die Mädchen ihn nicht nur, nein, sie spielen auch mit den Köpfen der Ritter Ball, die Klingsor in die Falle gegangen sind, ein etwas makabres Schauspiel. Wieder folgt die Live-Kamera dem Geschehen und überträgt die Details auf die große Projektionsfläche. Die Blumenmädchen ziehen Parsifal aus. Er trägt ein weißes Shirt und rote Shorts. Während sie noch an ihm zerren und sich um ihn streiten, ruft Kundry ihn bei seinem Namen. Kundry trägt nun ein elegantes, dunkelblaues langes Kleid und einen goldenen Brustharnisch. Die Blumenmädchen verschwinden auf ein Zeichen Klingsors und Parsifal glaubt, dass er alles nur geträumt hat.
Erstaunt erfährt er von Kundry Dinge über seine Eltern. Der letzte Gruß der Mutter wird „der Liebe erster Kuss“. Beide sinken auf eine Matratze nieder, Kundry will Parsifal verführen und in diesem Moment erkennt er, was es mit der Wunde des Amfortas auf sich hat und stößt sie zurück. Die ganze Szene mit dem Ausbruch „Amfortas, die Wunde! Sie brennt in meinem Herzen“ kommt so präsent und überzeugend, als hätte Klaus Florian Vogt jede Vorstellung gesungen und käme nicht geradewegs vom Flughafen auf die Bühne. Sehr überzeugend gestaltet auch Ekaterina Gubanova die Szene, als Kundry sich daran erinnert, wie sie einst Christus am Kreuz verlachte und fleht Parsifal um Erlösung an. Schließlich erkennt Parsifal seine Bestimmung und gibt Kundry Zuversicht: „Erlösung, Frevlerin, biet ich auch dir“, wenn sie ihm den Weg zu Amfortas zeigt. Die Blumenmädchen und Klingsor kehren zurück, Klingsor bringt den Heiligen Speer. Parsifal packt den Speer und zu den Worten „Mit diesem Zeichen bann‘ ich deinen Zauber!“ zieht Heras-Casado das Orchester groß auf, die Bühne wandelt sich und Parsifal verkündet „Du weißt, wo du mich wiederfinden kannst.“ Die Blumen fallen herunter und für die Zuschauer mit AR-Brille stürzen die Mauern des Festspielhauses ein. Klingsor stürzt von den Mauern seines Zauberschlosses herab in die Tiefe. Großer Applaus verabschiedet Gubanova und Vogt in die Pause.
Dritter Aufzug – Zurück im Gralsgebiet
Der dritte Aufzug beginnt mit einer von Streichern getragenen Trauermusik. Das neue Motiv symbolisiert Titurels Tod. Der Vorhang bleibt während des weitgehend im Pianissimo gehaltenen Vorspiels geschlossen. Als er sich öffnet, sehen wir das Bühnenbild des ersten Aufzuges, aber in stark veränderter Form. Der See ist grün geworden, das Wasser umgekippt, vor Algen oder Umweltverschmutzung. An der rechten Bühnenseite steht ein altes Förderfahrzeug, offenbar schon lange nicht mehr in Betrieb. Des Weiteren sind zwei abgestorbene Bäume zu sehen, überall liegt Müll. Auf der Rückwand ist Kundry im Video zu sehen.
Viele Jahre sind vergangen, es ist Karfreitagsmorgen. Gurnemanz, zum Greis gealtert, liegt vorne links inmitten von Müll. Das Hemd ist schmutzig, abgerissen. Die Umwelt ist tot, zerstört, ausgebeutet. Die ganze Atmosphäre ist düster und trostlos. Das schwere Blech unterstreicht eindrucksvoll und atmosphärisch dicht die Stimmung. Nebel dringt aus dem Wasserloch, von hinten angeleuchtet. Gurnemanz wendet sich nach hinten mit den Worten „Von dorther kam das Stöhnen.“ Kundry trägt nun einen schwarz-weißen Pullover und einen gelben Rock. Eine Gestalt nähert sich den Beiden, den Kopf von einer Kapuze verhüllt. Es ist Parsifal, der den verpackten Speer mit sich trägt.
Gurnemanz begrüßt den Fremden freundlich und klärt ihn auf, dass er an geweihtem Ort ist, wo man keine Waffen trägt und fragt ihn, ob er denn nicht wisse, welch heiliger Tag heute sei. Parsifal kommt näher, stellt seinen Speer ab und nimmt seine Kapuze ab. Nun erkennt Gurnemanz den Fremden und begreift, dass er den Heiligen Speer zurückerobert hat und der Gralsgemeinschaft bringt. Parsifal erfährt vom Tode Titurels und dass Amfortas noch immer an seiner Wunde leidet. Parsifal erkennt schließlich „Und ich – ich bin’s, der all‘ dies Elend schuf!“. Dieser Aufschrei wird begleitet von einer ausdrucksstarken Orchesteruntermalung mit tiefen Bläserakkorden und anschließend erregtem Streichertremolo, aus dem allmählich weitere Bläsermotive hervortreten. Zu Gurnemanz‘ Worten „Nicht so! Die heil‘ge Quelle selbst erquicke unsres Pilgers Bad“ schöpft Kundry Wasser aus dem umgekippten See. Parsifal möchte zu Amfortas gebracht werden. Nachdem Kundry Parsifal die Füße gewaschen hat, benetzt Gurnemanz ihm das Haupt und salbt ihn zum neuen Gralskönig, so wie es der Gemeinschaft verheißen war. Musikalisch und darstellerisch agieren Zeppenfeld und Vogt in dieser Szene auf höchstem Niveau. „Mein erstes Amt verricht‘ ich so: die Taufe nimm und glaub an den Erlöser!“ gestaltet Vogt lyrisch und in zartestem Pianissimo. Er tauft die ergriffene Kundry und erlöst sie so von ihrem immerwährenden Schicksal. Daraufhin erkennt er selbst, dass sich die Natur verändert hat („Wie dünkt mich doch die Aue heut‘ so schön!“) und Gurnemanz klärt ihn auf, das sei Karfreitagszauber.
Die Grasglocken beginnen zu läuten, es ist Mittag. Feierlich wird Parsifals nun königliches Motiv vom tiefen Blech intoniert. Im Rhythmus von Violoncelli und Bässen beginnt der Zug zu schreiten. Der Lichterkranz im See beginnt zu leuchten. Die Gralsritter kriechen, schleppen sich auf die Bühne. Der Lichterkranz wird langsam hochgezogen und in eine schräge Position gebracht. Die Ritter in ihren Camouflage-Gewändern bringen erneut die Reliquien. Sie sind kraftlos, schlapp, gehen sehr langsam. Entsprechend schwer ist das folgende Zwischenspiel, das marschartig zu betäubender Wucht ansteigt. Das sempre Crescendo leitet über zum Herrenchor „Geleiten wir den bergenden Schrein“, wiederum perfekt abgestimmt und feierlich gesungen mit absoluter Textverständlichkeit und ausgewogener Dynamik. Ein Knappe schleppt einen Leichensack zum Wasserloch. Amfortas erscheint in langen schwarzen Mantel, seine Wunde ist durch eine runde Aussparung sichtbar. Der Knappe präsentiert vor dem See den mit einem Tuch verhüllten Gral. Amfortas kniet vor dem Leichensack und öffnet diesen, eine graue Gestalt wird sichtbar, Titurels Leichnam. Derek Welton gestaltet die Ansprache an Titurel „Mein Vater! Hochgesegneter der Helden! … Der du jetzt in göttlichem Glanz den Erlöser selbst erschaust…“ innig und sehr ergreifend. Sein Flehen „Gib deinem Sohne Ruh“ unterstreicht er durch intensives Spiel. Parsifal erscheint mit dem Heiligen Speer und dem Ausruf „Nur eine Waffe taugt! Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“. Er berührt Amfortas‘ Wunde mit dem Speer, die sich daraufhin schließt. Parsifal tritt in den See. Die Rückwand erscheint strahlend grün. Kundry bringt eine Taube. Parsifal enthüllt den Gral, einen großen Kristall. Schließlich lässt er ihn einfach fallen, der Kristall zersplittert am Boden. Amfortas schließt Titurels Leichensack. Kundry tritt zu Parsifal in den See. Auf ihrem Pullover ist die Aufschrift „Forget me“ zu lesen, auf Parsifals Shirt der Text „Remember me“. Parsifal streckt seine Hände gen Himmel. Vom Chor erklingt der Schlusschor „Höchsten Heiles Wunder/ Erlösung dem Erlöser“. Der Lichterkranz senkt sich wieder herab. Das Kundry-Double geht zu Gurnemanz. Das Orchester steigert sich in langsam schreitender Bewegung zu einem eindrucksvollen Crescendo, in dem sich Trompeten und Posaunen, untermalt von Harfen, zu einem letzten musikalischen Höhepunkt aufschwingen, um sich dann langsam wieder ins Nichts aufzulösen. Nach kurzem ergriffenen Schweigen bricht das Publikum in begeisterten Applaus aus.
Die Inszenierung von Jay Scheib – mit oder ohne Augmented Reality? Im Einführungsvortrag äußerte Frank Piontek die Ansicht, dass eine Operninszenierung im Idealfall selbsterklärend sei. Bei einem so komplexen Bühnenwerk wie dem 1882 in Bayreuth uraufgeführte Bühnenweihfestspiel Parsifal ist das jedoch fraglich. Es geht ja schon los mit der Frage „Wer ist der Gral?“ und der Feststellung „Das sagt sich nicht“. Richard Wagner wollte eine neue Kunst-Religion schaffen, mit dem Zweck, die Menschheit von der Degeneration zu retten. Das kann Kunst aber nicht. Jay Scheib hat ein ähnliches Anliegen. Er hat zentrale Elemente umgedeutet, man soll die Geschichte im Lichte unserer Erfahrung betrachten. Daher präsentiert Scheib keine werkgetreue Inszenierung, sondern eine Neudeutung. Jay Scheib macht das Publikum aufmerksam auf die Degenerationserscheinung der Gegenwart. Der Regisseur bedient sich einer eigenen Ästhetik. Er will mit der AR eine Leichtigkeit schaffen. Die AR kommentiert, ergänzt, deutet aus, was sich auf der realen Bühne nur schwer vermitteln lässt. Er will das real Gesehene kommentieren und ergänzen, das Erlebnis soll sinnlich und expressiv sein. Scheib zeigt das Traumleben und das Erleben von Gurnemanz, Parsifal und Kundry. Bei Richard Wagner handelt es sich um symbolistisches Theater. Bei Jay Scheib hingegen geht es um das theatrale Erleben. Als Idee entwickelt Scheib einen Baum mit einem eingewachsenen Speer. Dabei ist der Baum ein natürliches Element und der Speer ein künstliches, er ist aus Titan. Der Gral steht für die Stoffe, die wir Menschen aus der Erde holen wie Lithium, Kobalt, seltene Erden. Ein anderes Bild zeigt einen Baumstumpf, aus dem flüssiges Eisen herausfließt. Es ist ein Bild für den industriellen Abbau der Bodenschätze. Ohne diese Stoffe gäbe es keine moderne Kommunikation. Für die Menschen im Mittelalter war der Gral das Gefäß, in dem das Blut Christi am Kreuz aufgefangen wurde. Hier stehen Sande und Mineralien symbolisch für den Gral. Neu in den AR-Inhalten sind im Jahr 2024 einige Freimaurermotive. Des Weiteren begegnen uns in der AR ein Schwan und Gesteinsbrocken. Auf der linken Seite ein Monolith.
Im zweiten Aufzug fliegt wiederholt ein gezackter Speer durch die Luft, auf dem ein Ohr steckt – erklärt wurde dieses merkwürdige Bild mit einem Wortwitz – Klings-o(h)r… Alienartige simple Avatare bewegen sich durch das Sichtfeld. Halb reale Blumen entstehen und vergehen, seltsame Figuren tauchen auf und verschwinden. Eine Schlange der Sünde windet sich um den Baum, Autos, in denen die seltenen Erden als Akkus verbaut sind, schweben durchs Bild, Totenschädel drehen sich. Es geht immer wieder um den Tod und Todeserfahrung. Ein Fuchs und ein Hase sind sehr dominant. Das Thema der Wunde wird immer wieder aufgegriffen. Im Finale sind es Hände und Füße.
Ein immer wiederkehrendes Motiv ist die Plastiktüte, dem Regisseur zufolge ein Symbol der Leichtigkeit, welches in Europa mittlerweile wohl etwas kritischer gesehen wird und eher als das Symbol der Umweltverschmutzung und Zerstörung der Natur schlechthin gilt.
Jay Scheib sucht in seinen Bildern die digitalen Entsprechungen der Wunden, des Lichts, der Waffen, Hoffnung, der Magie und der Begierden in diesem Werk. Die Wunde von Amfortas ist das Loch in Parsifals Herz. Sie muss geschlossen werden und wird es am Ende durch den Heiligen Speer.
Das Wasserloch auf der Bühne funktioniert im ersten Aufzug noch. Das Wasser ist sauber. Im dritten Aufzug symbolisiert das Loch eine Katastrophe, in die man hineinschaut. Eine Wunde der Natur, geschlagen von uns Menschen, wir haben Schuld an der industriellen Ausbeutung der Erde. Die Wunde in Parsifals Herz hat den Namen seiner Mutter, Herzeleide, sie frisst ihn von innen heraus auf.
Wagners Parsifal ist nicht selbsterklärend, er muss gedeutet werden. Die Figur des Parsifal steht für jeden einzelnen Menschen, der auf einem Weg ist. Parsifal verlässt Herzeleide, er sieht im Wald die Ritter, denen er folgt. Seine Mutter stirbt daraufhin, wie Kundry ihm später erzählt. Parsifal ist schuldlos schuldig. Das T-Shirt, das er trägt – „Remember me!“ – hat es ihm seine Mutter mitgegeben? Parsifal versteht schließlich das Leid der Herzeleide, er erkennt die Schuld am Sterben seiner Mutter. Der Gral, ein großer blauer Kristall, wird im dritten Aufzug zerstört. Damit zeigt Scheib, er ist ersetzbar. Es gibt zahllose Grale, jeder hat seinen eigenen Gral. Dieser Gral wird nicht mehr benötigt. Mit dem Hostienbehälter, der Monstranz und den anderen Reliquien zeigt Scheib Andeutungen an die christliche Religion. In dem in zahlreichen Szenen eingesetzten Live-Video zeigt Scheib, dass sich das Drama in den Gesichtern der Personen abspielt, sehr schön zu beobachten insbesondere bei Ekaterina Gubanova. Er hat die Figur der Kundry verdoppelt, es gibt eine Statistin, die als Kundry-Double in einer stummen Rolle auftritt. Sie ist die Personifikation des schlechten Gewissens von Gurnemanz und Amfortas. Amfortas sündigte mit ihr, daher hat er den Heiligen Speer an Klingsor verloren. Auch Gurnemanz hat seine Wunde, er hat versagt, als Amfortas den Speer verloren hat. Kundry ist die Zerrissene, sie ist in beiden Reichen verortet, bei den Gralsrittern ist sie ebenso zu Hause wie im Zauberreich Klingsors. Daher hat sie in Jay Scheibs Inszenierung zweifarbige Haare, schwarz und weiß, wobei sich die Intensität und das Verhältnis von schwarz und weiß ändern. Eine Traumsequenz im Vorspiel wirft die Frage auf, was ist mit Kundry und Gurnemanz? Ist es eine Phantasie von Gurnemanz, ist es ein Traum oder eine Erinnerung? Man weiß es nicht genau. Aber irgendetwas ist zwischen den Beiden.
Die Antwort auf die Frage, brauche ich eine AR-Brille oder nicht, kann sich jeder nur individuell beantworten. Für die Rezensentin ist die Entscheidung klar. Nach zwei besuchten Vorstellungen 2023 (ohne Brille) und zwei Vorstellungen 2024 (eine mit, eine ohne) wird die AR-Brille verbucht unter „Erfahrungen, die man machen kann“. Zu Beginn überwiegt noch das Staunen über den erweiterten Raum, die Begeisterung, wie sich der Raum durch Bewegen des Kopfes verändert und das Sichtfeld erweitert. Ein besonderer Aha-Effekt ist die scheinbare Erkenntnis, dass der Raum unter einem unendlich in den Abgrund führt. Es gibt keinen Boden mehr, man schwebt frei im Raum. Die fliegenden Objekte bewegen sich um einen herum, man weicht unbewusst aus, wenn einen die Insekten anfliegen. Schon nach kurzer Zeit aber wird einem bewusst, dass die zusätzliche Ebene mit ihren Reizen enorm vom Bühnengeschehen und vom Gesang ablenkt. Buchstäblich erschwerend kommt hinzu, dass die Brillen mit ihren 160 Gramm ein gewisses Gewicht haben, das über kurz oder lang auf der Nase drückt. Da man sie nicht über der eigenen Brille tragen kann und die eingesetzten Gläser nur in 0,5-Dioptrien-Schritten verfügbar sind, ist das Ergebnis optisch nicht ideal, das mag für Menschen ohne Fehlsichtigkeit einfacher sein. Zudem hat Jay Scheib aus Sicht der Rezensentin gerade in zentralen Szenen (Karfreitagszauber, Rückkehr Parsifals, Enthüllung des Grals, Erlöser-Motive) Potential verschenkt, indem in diesen Szenen die vorher gezeigten Bilder einfach fortgesetzt wurden. Möglicherweise hätte man da mehr machen können. Wenn ein kleiner Fuchs immer wieder aus verschiedenen Perspektiven gezeigt wird, aber keine weitere Aktion erfolgt, werden die Bilder irgendwann langweilig. Auch das Thema Blut wird intensiv wiederholt, als Verdoppelung der Szene. Die richtigen Knaller-Effekte fehlten. Am interessantesten war da noch, wie am Ende des zweiten Aufzuges die Mauern des Festspielhauses einstürzten.
Fazit: es ist ein interessantes Stilmittel, den bekannten Ebenen eine weitere hinzuzufügen, zum Verständnis des Werkes trägt es aber nicht zwingend bei, beziehungsweise funktioniert die Inszenierung auch sehr gut ohne die AR. Der Aspekt der Ablenkung vom Bühnengeschehen, vom Gesang und von der Musik und somit von den Hauptakteuren ist aber nicht zu unterschätzen. So multitasking sind wir Menschen dann leider doch nicht. Zu loben bleibt aber der perfekte Service im Festspielhaus rund um die Ausgabe und Anpassung der AR-Brillen durch das gut geschulte und sehr freundliche und aufmerksame Personal.
Musikalisch ein großer Abend
Gesungen und gespielt wurde an diesem Abend durchweg auf ganz hohem Niveau.
Georg Zeppenfeld überzeugte einmal mehr als Gurnemanz. Mit seinem noblen, sonoren Bass ist er die ideale Verkörperung des Gralsritters. Er begeistert zuverlässig durch seine klare Diktion, sein Text ist immer sehr gut verständlich, die sehr langen Monologe gestaltet er souverän und sicher. Er lässt den Atem ruhig strömen („Dem Heiltum baute er das Heiligtum“), er gestaltet und erzählt, dass es eine Freude ist, zuzuhören. Zeppenfeld gestaltet jede Phrase dynamisch und agogisch klug und einfühlsam und stellt die Figur des väterlichen Ritters und Mentors auch szenisch überzeugend dar.
Der südafrikanische Tenor Siyabonga Maqungo begeistert als 1. Gralsritter mit schönem, hellen Timbre. Ihm zur Seite überzeugt der Norweger Jens-Erik Aasbø als 2. Gralsritter mit seinem wohltimbrierten warmen Bass und ausgezeichneter Textverständlichkeit.
Die amerikanische Sopranistin Betsy Horne gestaltet den 1. Knappen szenisch wie stimmlich mit deutlichem Text und schönem Timbre.
Den 2. Knappen singt die Australierin Margaret Plummer mit warmem rundem Mezzosopran. Beide verführen auch im zweiten Aufzug als Klingsors Zaubermädchen stimmlich wie auch darstellerisch.
Der australische Bassbariton Derek Welton überzeugt vollends in der Rolle des Amfortas. Mit seinem schönen Timbre und angenehmem Vibrato strahlt er eine große Ruhe aus, vermag aber auch in den Ausbrüchen zu überzeugen.
Der in Dessau geborene Bass Tobias Kehrer gestaltet den greisen König Titurel mit angenehmem Timbre und wohlklingendem Bass. Obwohl es sich um eine kleinere Rolle handelt, vermag er diese souverän zu gestalten und dramatisch zu interpretieren.
Der hawaiianische Bariton Jordan Shanahan begeistert das Publikum als diabolischer Klingsor. Mit kraftvollem, energischen Bariton und enormer Bühnenpräsenz verleiht er dem Zauberer böse und intelligente Facetten.
Die in Moskau geborene Mezzosopranistin Ekaterina Gubanova singt die Kundry in der zweiten Festspielsaison. Dabei gelang ihr noch eine Steigerung zum Vorjahr hinsichtlich ihrer ergreifenden Darstellung der zerrissenen Persönlichkeit und Wanderin zwischen den Welten. Mal verführerisch, mal diabolisch setzte sie ihren warmen runden Mezzosopran mit differenzierter Dynamik überzeugend ein. Ihre gut ausgebaute Tiefe konnte sie beispielsweise im zweiten Aufzug mit Parsifal bei „Da traf mich sein Blick“ zeigen. Gubanova begeistert mit großem Volumen, satter Tiefe und strahlenden Spitzentönen.
Eine Besonderheit der besuchten Vorstellung war der doppelt besetzte Parsifal.
Der im ersten Aufzug eingesprungene Tilman Unger verfügt gegenüber Andreas Schager über eine etwas kleinere Stimme, die aber durchaus im Heldentenorfach zu Hause ist. Er bewegte sich musikalisch wie darstellerisch sicher durch die Produktion. Mit seinem etwas dunkler timbrierten Tenor gab er den reinen Toren im ersten Aufzug souverän und in allen Lagen überzeugend.
Fliegender Wechsel nach der Pause für Klaus Florian Vogt.
Klaus Florian Vogt gebührt der Dank des Publikums, dass er sich an seinem spielfreien Tag im Ausland ins Flugzeug setzt und sich quasi über Nacht in die Inszenierung einarbeitet. Dazu gehört schon eine gute Portion Professionalität und Nerven, neben seiner Rolle als Tannhäuser. Strahlend der Auftritt im zweiten Akt in der Blumenmädchenszene. Auch Vogt gibt den reinen Toren überzeugend naiv. Seine Interaktion mit den Blumenmädchen ist musikalisch und szenisch überzeugend. Aber nicht nur die lyrischen Passagen, auch Stellen wie „Amfortas, die Wunde!“ kommen absolut überzeugend und professionell, toll gesungen und intensiv gespielt mit nie dagewesenem Volumen und guter Textverständlichkeit. Sein „Erlöse, rette mich“ ist ebenso innig wie intensiv.
Der spanische Dirigent Pablo Heras-Casado zeichnet auch im zweiten Jahr der Inszenierung musikalisch verantwortlich für den Parsifal. Heras-Casado wurde gerade von Kritikern des Fachmagazins „Opernwelt“ wegen seiner „rhetorisch wie poetisch beeindruckenden Interpretation des Parsifal“ zum Dirigenten des Jahres gekürt. Heras-Casados Dirigat ist ausgesprochen sängerfreundlich. Er geht gut mit den Gesangslinien mit, unterstützt die Solisten, erschlägt sie nicht mit dem Orchesterklang. Sein Dirigat zeichnet sich durch differenzierte Dynamik und intelligente Tempi aus. Die Musik wirkt zu keiner Zeit getrieben oder statisch. In den großen Chorszenen, die es im Parsifal zahlreich gibt, gelingt ihm stets eine große Harmonie zwischen Graben und Bühne. Orchester und Chöre zieht er an den richtigen Stellen groß auf, gibt den Chören Raum und nimmt das Orchester zurück. Auch und gerade durch die Chorstellen wird dieser Parsifal zu einem besonderen Juwel.
Die Partie für Herrenchor ist, wie so oft bei Wagner um einiges größer als die Damenchöre. Hier zeigt sich seit Jahren die phantastische Arbeit von Chordirektor Eberhard Friedrich. Der Chor ist absolut präzise, eindrucksvoll in seinen Klangvolumen und seiner Homogenität, in Bezug auf Deutlichkeit des Textes und der Tonabschlüsse. Bei „So ward es mir verheißen“ begeistert er mit zartestem ppp, welches dann crescendo anwächst bei „Des Amtes walte heut“. Auch im Damenchor begeistern Präzision und ausgefeilte differenzierte Dynamik wie beispielsweise „Durch Mitleid wissend, der reine Tor“ absolut zart, sauber und intonationsrein.
Der Ansatz von Jay Scheib funktioniert, wirft aber für den Parsifal keine eklatant neuen Erkenntnisse auf. Scheib bleibt mit seiner Umsetzung sehr oft eng am Text. Optisch bleibt er insgesamt in einer stark farbigen Video-Ästhetik. Profiteur dieser Inszenierung ist die atemberaubend schöne Musik Richard Wagners und ihre Interpretation durch ein bis in die kleinen Rollen hinein großartig besetztes Ensemble. Für die Rezensentin ist der phantastische Festspielchor unter der Leitung von Chordirektor Eberhard Friedrich einmal mehr der Star und das Highlight des Abends.