Bayreuth, Bayreuther Festspiele 2022, TANNHÄUSER - Richard Wagner, IOCO Kritik, 22.08.2022

Bayreuth, Bayreuther Festspiele 2022, TANNHÄUSER - Richard Wagner, IOCO Kritik, 22.08.2022
Festspielhaus Bayreuth © Patrik Klein
Festspielhaus Bayreuth © Patrik Klein

Bayreuther Festspiele

TANNHÄUSER UND DER SÄNGERKRIEG AUF WARTBURG - Richard Wagner

"Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen!" - Die Revolution, 1849, Schrift von R. Wagner

von Karin Hasenstein

Richard Wagner Büste © IOCO
Richard Wagner Büste © IOCO

Tannhäuser ist noch eine große Romantische Oper, 1845, bevor Richard Wagner sich der Form des Musikdramas zugewandt hat. Hier gibt es noch in sich abgeschlossene Nummern wie die Auftrittsarie des Tannhäuser, Wolframs Lied an den Abendstern, das Gebet der Elisabeth oder die Romerzählung des Tannhäuser. Im Musikdrama verlässt Wagner weitgehend die einzelnen Nummern und wendet sich der durchkomponierten Form zu, der unendlichen Melodie.

Zur Ouvertüre - besprochene Vorstellung am 8.8.2022 - läuft bereits ein Video, welches sich durch die gesamte Inszenierung hindurch ziehen wird. Im ersten Akt noch farbig, ist es im zweiten und dritten Akt schwarz-weiß.

Der erste Akt ist geprägt von einer Aufbruchstimmung, der zweite Akt bringt die dramatische Wende, im dritten Akt schließlich herrscht Endzeitstimmung. Das Video von Manuel Braun unterstreicht und transportiert die jeweilige Stimmung und stellt eine stimmige Ergänzung zum Geschehen auf der Bühne dar.

Die Kamera fährt über ausgedehnte Wälder und die Wartburg, in einem Citroen Van (ein solcher Van wurde von der Performancekünstlerin Marina Abramovic und ihrem Partner Ulay verwendet)  ist eine bunt zusammengewürfelte Truppe unterwegs. Sie halten vor einem Festspielhaus an, die Kamera schwenkt auf einen Berg mit einer Burg – die vier sind in Salzburg gelandet, wie der Schwenk auf das Gebäude mit der Aufschrift "Großes Festspielhaus" deutlich macht– dabei wollte sie doch nach Bayreuth! Diese Szene sorgt bereits für Gelächter im Saal!

Venus (Ekaterina Gubanova) in einem Pailletten besetzten schwarzen Glitzer-Jumpsuit, Oskar, ein Kleinwüchsiger, eine Kopie des Oskar aus dem Film Die Blechtrommel von Volker Schlöndorff nach dem Roman von Günter Grass (dargestellt von Manni Laudenbach). Dazu eine schwarze Drag Queen (Le Gateau Chocolat), und im Clownskostüm, Tannhäuser selbst (Stephen Gould). Die vier sind Außenseiter, non-konformistisch, das wird im Video deutlich. Schon durch ihr Äußeres fallen sie auf, in der ungewöhnlichen Kombination der Charaktere erst recht. (Bühne und Kostüme: Rainer Sellmaier).

Bayreuther Festspiele 2022 / TANNHÄUSER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Bayreuther Festspiele 2022 / TANNHÄUSER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Plötzlich erscheint der Van aus dem Video auf der Bühne hinter einem Gaze-Vorhang, der Film läuft parallel weiter. Venus fährt bei Burger King vor, und  während sie die Bestellung aufgibt, pumpen Oskar und Le Gateau in einer Garage Benzin aus einem Auto ab, was wiederum Lacher im Publikum provoziert. Des Weiteren klemmen sie den parkenden Autos Flugblätter hinter die Scheibenwischer. Die Essenrechnung fällt hoch aus, Tannhäuser zückt verschiedene Kreditkarten, keine wird akzeptiert, so bleibt nur ein Ausweg: Flucht nach vorn und Zechprellerei! Dass Venus dabei einen Polizisten überfährt, wird billigend in Kauf genommen.

Geschickt vom Film in die Realität überblendend endet die Flucht des Quartetts auf der Bühne, in einem Märchenwald, angedeutet durch ein Häuschen, aus dem Frau Holle ihre Betten schüttelt und in dessen Vorgarten Gartenzwerge stehen. Dazu erklingt von Ferne der Damenchor "Naht euch dem Strande..."

Das mitgebrachte Picknick ist aufgegessen, die Flugblätter werden überall angebracht und Tannhäuser stellt fest, dass ihn in dieser Welt, die ihn einst so fasziniert hat, nichts mehr hält. (Venus: "Reut es dich so sehr, ein Gott zu sein?" Tannhäuser: "Aus deinem Reiche muss ich fliehen...!") .

Venus versucht Tannhäuser noch mit allen Mitteln zu überreden, zu ihrem "Geliebter, komm! Sieht dort die Grotte!" tanzt Le Gateau Chocolat mit weißen, mit Lichtern besetzten Flügeln und Tannhäuser schwenkt um. Zu seinen Worten "Stets soll nur dir, nur dir mein Lied ertönen...!" steigen alle in den Van, Venus fährt im Überschwang der Gefühle mal eben den Zaun um und die Fahrt wird diesmal in umgekehrter Überblendung von der realen Bühnenhandlung im Film fortgesetzt.

Der kundige Zuschauer erkennt, dass der Film in der unmittelbaren Umgebung von Bayreuth gedreht wurde und verfolgt die Fahrt durch die Straßen, die er vielleicht schon selbst befahren hat. Kratzer erzielt dadurch eine große Identifizierung des Zuschauers mit den handelnden Personen. Spätestens, als der Van auf die Siegfried-Wagner-Allee einbiegt, hat jeder im Publikum erkannt, wohin die Reise geht.

Kurz vor Ende der Fahrt springt Tannhäuser aus dem Auto und ruft aus "Mein Heil liegt in Maria!" Es folgt die Szene mit dem Hirten, der in Gestalt einer jungen Frau auf einem Fahrrad daherkommt (dargestellt und mit silbrig hellem Sopran gesungen von Tuuli Takala).

Dann erklingt aus dem Hintergrund der Pilgerchor "Zu dir wall ich, mein Jesus Christ". Erneuter Wechsel vom Film zur Bühne und der Van kommt vor dem Festspielhaus zum Stehen. Rainer Sellmaier (Bühne und Kostüme) hat eine naturgetreue Nachbildung des Festspielhauses auf die Bühne gebracht, das Festspielhaus im Festspielhaus. Inklusive Grünem Hügel, Wagner-Figur von Ottmar Hörl und wehender Wagner-Flagge auf dem Dach. Auch diese Szene erntet freudiges Lachen aus dem Publikum.

Zu den Klängen des Gesanges der Älteren Pilger strömen die Besucher in festlichen Roben und mit dem Tannhäuser-Programm zum Festspielhaus, somit schauen die Besucher wie in einen Spiegel und werden beinahe Teil des Geschehens. Diese Verdoppelung oder Spiegelung begeistert immer wieder aufs Neue.

Bayreuther Festspiele 2022 / TANNHÄUSER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Bayreuther Festspiele 2022 / TANNHÄUSER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Nachdem mit den letzten Zeilen des Pilgerchores auch die letzten, leicht verspäteten Gäste verschwunden sind, bleibt Tannhäuser allein zurück mit den Worten "Allmächt'ger, dir sei Preis!" Von der rechten Bühnenseite treten der Landgraf und die Sänger auf, alle in schwarzen Kostümen und - ein weiteres charmantes Detail - mit Mitarbeiterausweisen, wie sie die beteiligten Künstler und alle anderen Mitarbeiter der Festspiele tragen.

Sie erkennen Tannhäuser als den aus ihrer Mitte Verlorenen und nehmen ihn wieder in ihren Kreis auf. Das Ensemble der Sänger gerät zu einem musikalischen Höhepunkt des ersten Aktes, Dirigent Axel Kober führt Albert Dohmen, Markus Eiche, Attilio Glaser, Olafur Sigurdarson, Jorge Rodriguez-Norton und Jens-Erik Aasbö souverän durch das musikalisch anspruchsvolle Ensemble.

Plötzlich taucht Elisabeth aus dem Hintergrund auf, genau in dem Moment, als Wolfram singt "Bleib bei Elisabeth!" und damit aus dem Ensemble heraustritt. In einer längeren Ansprache versucht Wolfram Tannhäuser zum Bleiben zu überreden. Sehr innig geraten die Zeilen "War's Zauber, war es reine Macht, durch die solch Wunder du vollbracht..." Das Orchester begleitet Eiche dezent, fast liebevoll, steigert sich dabei immer mehr. Tannhäuser kennt nun nur noch ein Ziel "Zu ihr! Zu ihr!" Venus erreicht mit ihren Begleitern den Grünen Hügel, ein Wind kommt auf, die Fahne auf dem Festspielhaus beginnt lebhaft zu wehen.

Der Vorhang fällt und tosender Beifall und zahlreiche Bravi beschließen den ersten Akt.

In der ersten Pause findet am Teich im Festspielpark eine Pausenshow statt, die zahlreiche Festspielgäste anzog. Wenn man sich auf den musikalischen Bruch einlassen kann, mag das für den einen oder anderen eine interessante Bereicherung sein, das mag jeder für sich entscheiden.

Im zweiten Akt ist die Bühne horizontal geteilt. In der oberen Hälfte verfolgen wir das Video, das parallel zum Bühnengeschehen gezeigt wird und zu Beginn die Sänger in den Garderoben des Festspielhauses zeigt, dann auch aus der Perspektive des Inspizientenpults. Der untere Bereich wird von einem Rahmen aus Leuchtstoffröhren begrenzt.

Dieser Teil führt uns in den mit üppigen Kronleuchtern und dunkler Holztäfelung ausgestatteten Festsaal der Wartburg, in dem der Sängerwettstreit stattfindet. Er ist eine Mischung aus dem großen Festsaal und der sogenannten Sängerlaube und dürfte jene erfreuen, die gerne "traditionelle" Inszenierungen sehen möchten. Was dort dann später vonstatten geht, allerdings bricht mit Traditionen und Sehgewohnheiten.

Ob das Konzept der geteilten Bühne im zweiten Akt aufgeht, hängt sehr entscheidend davon ab, wo man sitzt. In den ersten Reihen ist es sehr anstrengend, dauernd den Kopf nach oben zu recken, um den Film zu verfolgen, was dazu führt, dass man das Geschehen unten auf der Bühne verpasst und umgekehrt, wenn man den Fokus unten hält. In den mittleren bis höheren Reihen des Festspielhauses erhält man die optimale Draufsicht und kann ohne Nackenverspannungen bequem beide Perspektiven gleichzeitig verfolgen, was zu einem angenehmeren Seh-Erlebnis und viel besserem Verständnis des ganzen Regiekonzeptes führt.

Schön wäre es, wenn das auf allen Plätzen funktionieren würde, denn nicht Jeder hat die Gelegenheit, die Produktion mehrfach und von unterschiedlichen Plätzen aus zu verfolgen, aber irgendwo gibt es ja immer Einschränkungen.

Eben noch aus der Perspektive des Inspizienten, quasi aus dem Film auf die Bühne, betritt Elisabeth die Halle und Lise Davidsen präsentiert souverän ihre beeindruckende Stimme, die man getrost als Jahrhundertstimme bezeichnen kann. Ihr "Dich, teure Halle, grüß' ich wieder, froh grüß' ich dich, geliebter Raum!" kommt so strahlend und kraftvoll über die Rampe, dass man von dieser Energie schier in den Sitz gedrückt wird. Diese Frau ist eine Naturgewalt! Dabei lotet sie die Dynamik vom zartesten flehenden Piano ("Heinrich, was tatet ihr mir an?") bis zum Fortissimo gekonnt aus und vermittelt immer auch die Verletzlichkeit von Elisabeth, die noch zerrissen ist zwischen der Trauer über den Weggang von Tannhäuser und der Freude über seine unverhoffte Rückkehr.

Mit Lise Davidsen blüht auch Stephen Gould richtig auf, der im ersten Akt noch etwas zurückhaltend war, vielleicht noch der gerade erst überstandenen Erkältung geschuldet. Bei "Den Gott der Liebe sollst du preisen, er hat die Saiten mir berührt!" findet er seine alte Form wieder und seine unglaubliche Erfahrung aus 21 Jahren Tannhäuser kommt ihm zugute.

Wenn beide "Gepriesen sei die Stunde" singen, wird auch dieser musikalische Moment zu einem weiteren Höhepunkt. Die Kamera zeigt uns den abseits stehenden Wolfram, während Tannhäuser und Elisabeth ihr Wiedersehen und ihre wiederentdeckten Gefühle feiern. Der Landgraf (Albert Dohmen) gestaltet seinen Auftritt "Nun bleibe denn unausgesprochen dein süß' Geheimnis kurze Frist" mit ruhig fließendem Bassbariton entsprechend würdevoll, mit großer Ruhe und ausgezeichneter Textverständlichkeit.

Im Video sehen wir, wie sich der Chor hinter Bühne für den Auftritt bereithält. Der eben noch auf dem Sängerpodest befindliche Kronleuchter fährt zu den Bläserklängen hoch, die Gäste strömen in den Saal.

Bayreuther Festspiele 2022 / TANNHÄUSER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Bayreuther Festspiele 2022 / TANNHÄUSER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Die große Chorszene mit dem Einzug der Gäste eröffnet die vierte Szene mit einem musikalischen Höhepunkt. Der großartige Festspielchor (Einstudierung Eberhard Friedrich) beeindruckt einmal mehr durch Klangschönheit und Präzision. Chor und Orchester klingen traumhaft unter Kobers sicherem und erfahrenem Dirigat, Tempo und Dynamik sind ausgewogen und perfekt.

Parallel sehen wir im Video, wie Venus und ihre Gefährten am Festspielhaus ankommen. Nach einigen vergeblichen Versuchen, ins Haus zu gelangen, fällt Venus' Blick auf den Balkon über dem Eingang zu den Mittellogen... sie entert den Balkon mit Hilfe einer Ausziehleiter und hisst ein großes Plakat mit der Aufschrift "Frei im Wollen! Frei im Thun! Frei im Genießen!" - dem Zitat aus Richard Wagners Schrift Die Revolution von 1849, das auch schon auf den Flugblättern und Plakaten im ersten Akt zu lesen war.

Endlich im Haus streifen sie durch Flure und Gänge, vorbei an der sogenannten "Ahnengalerie" , den Porträts der Dirigenten der Festpiele. Hatte Kratzer als Gag im letzten Jahr noch einen Zettel an das Foto von Valery Gergiev geheftet mit der Information "Komme etwas später" - eine Anspielung auf Gergievs nicht immer pünktliches Erscheinen zu den Proben - so war es 2022 eine Solidaritätsbekundung an die Ukraine, deutlich gemacht durch das oben beschriebene Flugblatt und einen Ukraine-Aufkleber auf dem Porträt der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv, die seit 2021 den Fliegenden Holländer und als erste Frau überhaupt auf dem Grünen Hügel dirigiert.

Venus setzt ihre kriminelle Energie fort, indem sie in den Garderoben eine Chordame "überfällt", ihr das Kostüm raubt und die Arme gefesselt in den Waschräumen zurücklässt, um sich an ihrer Stelle unter die Gäste des Sängerwettstreits zu mischen. Venus drängelt sich zwischen die anderen Chordamen und muss nun wohl oder übel mit den Edelknaben verkünden, wer beginnen soll. Sie verpatzt natürlich den Einsatz, weil sie gar nicht weiß, was sie tut, kommt aber mit ihrer List durch.

Das nun in der Handlung folgende Sängerfest ist auch musikalisch ein solches. Landgraf, Tannhäuser und Wolframsowie alle anderen Sänger liefern durch die Bank die besondere Qualität, die man in Bayreuth erwarten kann. Dennoch muss an dieser Stelle besonders der Sänger des Wolfram von Eschenbach, Markus Eiche, erwähnt werden. Eiche gestaltet die Rolle des Wolfram, der sicher mehr für Elisabeth empfindet, dem aber trotzdem daran gelegen ist, dass sie und Tannhäuser wieder zueinander finden, mit großer Inbrunst ("Blick ich umher in diesem edlen Kreise", "andächtig sinkt die Seele im Gebet") und edel timbrierten Bariton. Es ist immer eine große Freude, ihn in dieser Rolle zu erleben.

Nach diesem innigen Bekenntnis Wolframs an die reine hehre Liebe, unterstützt durch den Chor mit bestätigendem "So ist's! So ist's! Gepriesen sei dein Lied!", stürmt Tannhäuser auf das Sängerpodest. Seine Beschreibung der Liebe fällt jedoch ganz anders aus: "In vollen Zügen trink ich Wonnen" und er brüskiert damit Wolfram, Elisabeth und die ganze Wartburg-Gesellschaft. Das bleibt bei den Sängern nicht ohne Folge. Attilio Glaser gibt einen energischen Walther von der Vogelweide, der Wolfram beispringt "Den Bronnen, den uns Wolfram nannte, ihn schaut auch meines Geistes Licht" und verleiht der Rolle Seele mit tenoralem Schmelz bei "Du sollst in Inbrunst ihn verehren".

Biterolfs Aufforderung "Heraus zum Kampfe mit uns allen!" lässt Tannhäuser völlig wild werden, er packt die Harfenistin grob am Arm. Biterolf (Olafur Sigurdarson) zeigt ihm, wie man Frauen behandelt "Für Frauenehr' und hohe Tugend, als Ritter kämpft ich mit dem Schwert..." Sigurdarson gestaltet die Partie mit wunderbar warm timbrierten Bariton, guter Textverständlichkeit und großer Spielfreude.

Tannhäuser greift Biterolf an, im Video sehen wir, wie Oskar und Le Gateau Chocolat sich bereitmachen und allgemeiner Tumult bricht los. Tannhäuser preist erneut die erotische sinnliche Liebe: "Dir, Göttin der Liebe, soll mein Lied ertönen!", während er noch singt, streift er den Sängerrock ab, zum sich steigernden Tempo der Musik stürmen Oskar und Le Gateau den Saal.

Der Chor kommentiert Tannhäusers Lied mit der schockierten Erkenntnis "Im Venusberg hat er geweilt! - Hinweg, hinweg aus seiner Näh!" Elisabeth ergreift abermals Partei für Tannhäuser. "Des Todes achte ich sonst nicht!". Trotz der erlittenen Demütigung hält sie die Sänger zurück "Nicht ihr seid seine Richter!" und setzt sich für sein Heil ein.

Bayreuther Festspiele 2022 / TANNHÄUSER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Bayreuther Festspiele 2022 / TANNHÄUSER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Lise Davidsen singt ihr "Ich fleh' für ihn, ich flehe für sein Leben, zur Buße lenk' er reuevoll den Schritt! Der Mut des Glaubens sei ihm neu gegeben, dass auch für ihn einst der Erlöser lebt!" wirklich so inbrünstig und flehentlich, dass auch dieser zauberhafte Moment zu einem weiteren Höhepunkt des zweiten Aktes gerät und viele Augen feucht werden lässt.

Das Ensemble der Sänger fügt sich nahtlos und präzise ein, immer wieder zaubern Orchester und Solisten an diesen Ensemblestellen und sorgen so für berückende Gänsehautmomente.

Venus, Oskar, Le Gateau Chocolat und Tannhäuserstehen nun auf der Vorderbühne, außerhalb des lichtumsäumten Bühnenrechtecks, sie gehören nicht (mehr) dazu, sind wieder in ihrer Außenseiterposition, von der Gesellschaft ausgeschlossen. Damit wird die Idiosynkrasie dieses schicksalhaften Quartetts besonders deutlich, die Andersartigkeit und Abneigung gegen die feine spießige Wartburggesellschaft. Tannhäuser gehört abermals nicht dazu, er hat bereits zum wiederholten Mal die Seiten gewechselt.

Passend zur Musik und zur Handlung nimmt auch das Video wieder Fahrt auf.

Im Film sehen wir den Inspizienten zum Telefon greifen, am anderen Ende nimmt Katharina Wagner in ihrem Büro ab. Trotz der Dramatik der Handlung provoziert das Lacher. Die Polizei ist dran, vor dem Festspielhaus hat die Polizei das Banner am Balkon entdeckt. Die Verbindung von Actionhandlung im Video, dramatischer Musik  auf der Bühne ("Ein furchtbares Verbrechen ward begangen!") und dem brillanten Gesang kann hier kaum beschrieben werden, so atmosphärisch dicht webt Kratzer hier alle Elemente zusammen.

Erwähnt werden muss einmal mehr der (Damen-) Chor mit absoluter Intonationsreinheit bei "Am hohen Fest der Gnadenhuld", eine Stelle, die deutlich anspruchsvoller zu singen ist, als es scheinen mag.

In der Schlussszene stürmen Venus und ihre Gefährten auf die Bühne zurück, erklimmen das Sängerpodest und Le Gateau breitet zu den Worten "Nach Rom!" eine Regenbogenflagge über der Harfe aus. Der Vorhang fällt, in den aufbrandenden Applaus mischen sich vereinzelte Buh-Rufe.

Im dritten Akt zeigt uns das Team Kratzer / Sellmaier eine große Trostlosigkeit. Die große Drehbühne dominiert ein riesiges Billboard, eine große Werbetafel, die zunächst von der Rückseite zu sehen ist. Drei tote Bäume unterstreichen Zerfall und Vergänglichkeit. Inmitten von Schrott und Unrat steht der inzwischen sehr heruntergekommene Van von Venus. Endzeitstimmung. Oskar bereitet sich eine Dosensuppe in seiner Trommel zu, aber das Gas ist aufgebraucht, er muss sie kalt essen. Elisabeth kommt hinzu, das einst so prachtvolle Gewand ist schmutzig und zerrissen, das früher kunstvoll geflochtene Haar ist offen und strähnig.

Elisabeth setzt sich zu Oskar und mit einer unglaublich anrührenden Geste bietet er ihr sein Essen an. Hier treffen beide Welten, die in den ersten beiden Akten so klar voneinander getrennt waren, erstmals zusammen, in der Trostlosigkeit vereint. Wolfram hat Elisabeth beobachtet und betritt die Szene. "Wohl wusst' ich hier sie im Gebet zu finden...", er kennt Elisabeth und weiß, wie viel Schmerz Tannhäuser ihr zugefügt hat und dass sie dennoch so stark unter seinem Weggang leidet.

Von Ferne erklingt der Gesang der älteren Pilger, die aus Rom zurückkehren. Elisabeth hört sie und hofft, dass Tannhäuser unter ihnen ist. Die Pilger schreiten langsam, bedrückt, von der langen Pilgerfahrt gezeichnet und lagern nach und nach mit ihren wenigen Habseligkeiten auf dem Schrottplatz. Nach erfahrener Erlösung sieht das nicht aus. Elisabeth läuft zwischen ihnen hindurch, sucht Tannhäuser, glaubt ihn gefunden zu haben - doch nein, sie gelangt zu der Erkenntnis "Er kehret nicht zurück."

Aus dieser ernüchternden Einsicht heraus wendet sie sich in ihrem Schmerz an die Gottesmutter. Das Gebet "Allmächt'ge Jungfrau, hör' mein Flehen!" gestaltet Lise Davidsen so innig und textverständlich, in jeder Lage differenziert und genau ausgelotet bis in das zarteste Piano. Auch dieses wieder ein eindrücklicher Beweis für diese außergewöhnliche Stimme. Sie legt ihr Kleid ab, zieht es hinter sich her und hängt es an einen Ast des toten Baumes. Dabei nimmt sie Wolfram überhaupt nicht wahr, bewegt sich wie in Trance. Diesen Zustand nutzt Wolfram für sich und zieht Tannhäusers Kleidung an. Auf seine Frage "Elisabeth, dürft ich dich nicht geleiten?" nimmt sie ihn an der Hand und zieht ihn in den Van, wo sie ihn verführt. Er will noch die Clownsperücke abstreifen, doch sie setzt sie ihm wieder auf. Sie will die Illusion, von Tannhäuser geliebt zu werden, nicht aufgeben. Auch in dieser Szene agieren Davidsen und Eicheunglaublich stark und zeigen, welch großartige Sängerdarsteller sie sind. Ihr Spiel ist sehr sensibel, ausdrucksstark und anrührend.

Nachdem er Elisabeth im Van zurücklässt, singt Wolfram sein Lied an den Abendstern. Es ist Verzweifelt ("Wie Todesahnung, Dämmrung deckt die Lande"), aber auch hoffnungsvoll ("wenn sie entschwebt dem Tal der Erden, ein sel'ger Engel dort zu werden!") und Markus Eiche legt wieder einmal seine ganze Bandbreite an inbrünstiger Gestaltung und baritonalem Wohlklang in dieses Stück. Sehr schön durchsichtig und filigran ertönt die Harfe in der Begleitung.

Die Bühne dreht und das Motiv auf dem Billboard wird sichtbar. Wir sehen, wie Le Gateau Chocolat die Zwischenzeit verbracht hat. Offenbar ist er als Werbeikone für seine eigene Luxusuhren-Kollektion zu einer gewissen Berühmtheit gelangt.

Bayreuther Festspiele 2022 / TANNHÄUSER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Bayreuther Festspiele 2022 / TANNHÄUSER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Mit den Worten "Ich höre Harfenschlag" nähert sich plötzlich Tannhäuser in abgerissener Kleidung mit drei Beuteln in den Händen. Wolfram erkennt ihn und möchte wissen, ob Tannhäuser beim Papst Erlösung zuteil wurde. Dieser ist zunächst abweisend, "Schweig mir von Rom!", besinnt sich jedoch und entscheidet "Du, Wolfram, du sollst es erfahren."

Es folgt die lange Romerzählung, die im dritten Akt kräftetechnisch an den Tenor große Anforderungen stellt. Stephen Gould läuft hier noch einmal zu Höchstform auf, scheinbar mühelos bewältigt er diesen Kraftakt. Bei soviel entscheidendem Text stets mit guter Textverständlichkeit, lässt er die Romerzählung zu einem Erlebnis werden. Stets unterstreicht er den Text mit entsprechenden Gesten und singt dynamisch differenziert und gestaltet die langen Bögen spannungsreich. Die Verzweiflung wird deutlich spürbar. An der Stelle "Hast du so böse Lust geteilt?" deutet er im Klavierauszug auf die Noten. Ein regelrechter Ausbruch, stimmlich wie gestisch, findet bei "Da ekelte mich der holde Sang" statt. Gould schleudert den Satz regelrecht heraus und zerreißt den Klavierauszug. Als Tannhäuser Frau Venus anruft, fällt Wolfram ihm ins Wort ("Wahnsinniger! Wen rufst du an?"). Tannhäuser ist wie von Sinnen, er macht mit dem Klavierauszug ein Feuer in einer alten Tonne. Venus erscheint und wärmt sich an diesem Feuer. Tannhäuser stellt fest "Mein Heil, mein Heil hab ich verloren, nun sei der Hölle Lust erkoren!"

Die Bühne dreht erneut weiter, Venus verteilt ihre Plakate, siegesgewiss, dass sie Tannhäuser zurück in ihr Reich holen kann. Als Tannhäuser aus Wolframs Mund jedoch Elisabeths Namen hört, hält er inne. Im Hintergrund erklingt der Herrenchor "Der Seele Heil, die nun entfloh'n dem Leib der frommen Dulderin", der sich überlagert mit Wolframs Text "Ein Engel fleht für dich an Gottes Thron - er wird erhört! Heinrich, du bist erlöst!"

Auch diese Ensemblestelle wird von Chor, Orchester und den Solisten unglaublich sensibel und eindrücklich gestaltet. Auf die Worte des Chors "Heilig die Reine!" erblickt Tannhäuser die leblose Elisabeth im Van. Sie liegt blutüberströmt in Oskars Schoß, ein sehr berührender Anblick, offenbar hat sie sich in ihrem Schmerz das Leben genommen. Die Bühne beginnt erneut zu drehen, Wolfram und Tannhäuser tragen die tote Elisabethaus dem Wagen und legen sie davor auf den Boden. Tannhäuser hält die Tote im Arm.

Der beeindruckende Schlusschor erklingt und verkündet Erlösung. "Der Gnade Heil ist dem Büßer beschieden, er geht nun ein in der Seligen Frieden!" Die letzte Filmsequenz zeigt Tannhäuser, wie er mit Elisabeth im Van glücklich lächelnd in den Sonnenuntergang fährt.

Das Happy-End eines aufregenden Roadmovies, aber leider nur eine Utopie.

Bayreuther Festspiele 2022 / TANNHÄUSER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Bayreuther Festspiele 2022 / TANNHÄUSER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

-------------------------------------------------------------

Der Tannhäuser von Tobias Kratzer hatte im Jahr 2019 Premiere bei den Bayreuther Festspielen. Seinerzeit wurde er noch heftig ausgebuht und kritisiert, mittlerweile kann man aber sagen, dass er Kultcharakter erreicht hat. Zwar sind die Meinungen immer noch gespalten, aber die Produktion erfreut sich inzwischen großer Beliebtheit, auch beim etwas konservativeren Publikum.

Der Venusberg steht weniger für sexuelle Ausschweifungen, als für ein Lebensgefühl, den Drang nach Freiheit in einer repressiven Gesellschaft.

Durch die Videosequenzen schafft Kratzer eine zweite Ebene zum Bühnengeschehen. Das kann beim ersten Sehen die Sinne überfordern, stellt aber im Endeffekt und vor allem nach häufigerem Erleben eine große Bereicherung dar und ist in sich einfach stimmig. Durch die humorigen Szenen kommt eine Leichtigkeit dazu, es unterstützt aber auch die Dramaturgie der Handlung.  Kratzer beweist eine große Sensibilität für die Personen und lotet ihre Gefühlszustände sensibel aus. Tannhäuser und Oskar sind am Ende desillusioniert, Le Gateau Chocolat hat die gemeinsamen Ziele verraten, nur Venus ist ihrer Idee von Anarchie treu geblieben und klebt selbst in der Endzeitwüste noch ihre Plakate.

Trotz aller Tragik darf ein Tannhäuser auch lustig sein. Es darf gelacht werden und das wird es auch. Jedoch gibt es auch sehr starke berührende Moment von großer Emotionalität. Kratzer zeigt die Zerrissenheit und Ambivalenz der Figur und der beiden Welten gut und unterhält. Und das soll Oper ja auch!

Musikalische Sternstunde

Axel Kober, seit 2009 Generalmusikdirektor an der Deutschen Oper am Rhein, führt das hervorragende Festspielorchester sicher, souverän und mit profunder Kenntnis der Musik Richard Wagners. Er baut Spannungsbögen auf, die verschiedenen Stimmungen gekonnt auslotend und ist differenziert in der Dynamik, die er den Sängern perfekt anpasst, so dass das Orchester nie die Solisten zudeckt, sondern alles schön durchsichtig bleibt. Die Streicherläufe im Vorspiel sind großartig perlend, steigern sich immer mehr, das Blech wird breit aufgezogen. Im Zusammenspiel mit den Chören gibt es keine Abstimmungsprobleme, Kober führt Graben und Bühne perfekt zusammen. Die Solisten des Abends lassen den Tannhäuser zu einem wahren Sängerfest werden.

Die in Moskau geborene Sopranistin Ekaterina Gubanova begeistert mit ihrem brillanten strahlenden Sopran und glanzvollen Spitzentönen. Mit großer Quirligkeit und Spielfreude verkörpert sie eine junge und rebellische Venus.

Der aus Virginia stammende Heldentenor Stephen Gould kann auch den etwas lyrischeren Tannhäuser mit der außerordentlichen Erfahrung von mehr als 100 Auftritten in dieser Rolle immer noch überzeugend darstellen.  Sein Tenor ist markant, er transportiert den umfangreichen Text mit guter Verständlichkeit. Gould verfügt über ausreichend Kraft und Erfahrung,  sich diese große Partie geschickt einzuteilen, so dass auch die lange Romerzählung im dritten Akt noch zu einem besonderen Höhepunkt wird.

Die finnische Sopranistin Tuuli Takala gestaltet die kleine Rolle des Hirten sicher mit silbrig hellem, lyrischem Sopran.

Alle Ensembles wie das der Sänger und des Landgrafen im ersten Akt oder beim Sängerwettstreit im zweiten Akt begeistern. Sie sind sehr sauber gesungen und exakt zusammen, sicher, harmonisch und von ausgewogener Dynamik. Mit Markus Eiche, Attilio Glaser, Olafur Sigurdarson, Jorge Rodriguez-Norton und Jens-Erik Aasbö finden hier versierte Sängerpersönlichkeiten zueinander, die jeder einzeln viel Freude machen, aber gerade als Ensemble eine wichtigen Beitrag zum musikalischen Gesamteindruck leisten.

Dennoch sei der Bariton Markus Eiche noch einmal gesondert erwähnt. Einfühlsam und gestaltend ist er mit seinem warmen wohltimbrierten Bariton und der starken Bühnenpräsenz die Idealbesetzung des Wolfram. Eiche stellt diese zerrissene Figur stimmlich wie darstellerisch überzeugend dar. Der Bass Albert Dohmen gibt einen überzeugenden Landgrafen und verleiht der Figur mit profundem Bass Glaubwürdigkeit.

Die norwegische Sopranistin Lise Davidsen überzeugt vollends als Elisabeth. Ihre große dramatische Stimme ist perfekt geführt und verfügt über einen großen Farbenreichtum. Vom zartesten Piano bis zum Fortissimo zeichnet sie sich durch gute Textverständlichkeit aus. Selbst die Spitzentöne sind rund und nie schrill. Neben dieser gewaltigen Stimme zeichnet sich Davidsen auch durch ihre starke Bühnenpräsenz und sensibles Spiel aus. Man darf sich schon auf kommende Rollen im dramatischen Fach freuen!

An dieser Stelle soll auch noch einmal der großartige Festspielchor (Einstudierung Eberhard Friedrich) erwähnt werden. Im Tannhäuser hat der Chor viele schöne Aufgaben, wie die Pilgerchöre, den Einzug der Gäste oder die Chöre im dritten Akt. Sämtliche Chöre werden exakt und ausgewogen präsentiert, die Intonation ist perfekt, der Text wird verständlich artikuliert. Der Herrenchor und die Ensembles im 2. Akt sind großartig aufeinander abgestimmt. Eberhard Friedrich schafft es jedes Jahr aufs Neue, die zahlreichen Sängerinnen und Sänger zu einem perfekten Klangkörper zu vereinigen.

Dieser Tannhäuser hat sich in seinem dritten Jahr in die Herzen des Publikums gespielt, vielleicht hat er gar das Zeug zum Kult zu werden.

...............................................

Musikalische Leitung - Axel Kober, Regie - Tobias Kratzer, Bühne und Kostüm – Rainer Sellmaier, Video – Manuel Braun, Licht – Rainer Traub, Dramaturgie – Konrad Kuhn, Chor – Eberhard Friedrich,

mit: Landgraf Hermann – Albert Dohmen, Tannhäuser – Stephen Gould, Wolfram von Eschenbach – Markus Eiche, Walther von der Vogelweide – Attilio Glaser, Biterolf – Olafur Sigurdarson, Heinrich der Schreiber – Jorge Rodriguez-Norton, Reinmar von Zweter – Jens-Erik Aasbö, Elisabeth, Nichte des Landgrafen – Lise Davidsen, Venus – Ekaterina Gubanova, Ein junger Hirt – Tuuli Takala, Le Gateau Chocolat – Le Gateau Chocolat, Oskar – Manni Laudenbach, Edelknaben – Cornelia Heil, Ekaterina Gubanova, Laura Margaret Smith, Karolin Zeinert,

Festspielorchester, Festspielchor

---| IOCO Kritik Bayreuther Festspiele |---