Bayreuth, Bayreuther Festspiele 2022, DER FLIEGENDE HOLLÄNDER - Richard Wagner, IOCO Kritik, 20.08.2022

Bayreuth, Bayreuther Festspiele 2022, DER FLIEGENDE HOLLÄNDER - Richard Wagner, IOCO Kritik, 20.08.2022
Festspielhaus Bayreuth © Patrik Klein
Festspielhaus Bayreuth © Patrik Klein

Bayreuther Festspiele

Der fliegende Holländer - Richard Wagner

- Holländer rächt seine in den Selbstmord getriebene Mutter -

von Ingrid Freiberg

Richard Wagner Büste © IOCO
Richard Wagner Büste © IOCO

Während Richard und Minna Wagners Flucht aus Riga 1839 geriet ihr Segelschiff Thetis im Skagerrak in einen heftigen Sturm. Dieses Erlebnis und die Erzählungen der Matrosen bildeten den Hintergrund für die romantische Oper in drei Aufzügen. Der fliegende Holländer wurde am 2. Januar 1843 im Königlich Sächsischen Hoftheater Dresden uraufgeführt. Wagner kannte den alten Sagenstoff bereits aus dem 7. Kapitel von Heinrich Heines Memoiren des Herren von Schnabelewopski und aus Wilhelm Hauffs Geschichte vom Gespensterschiff. Über seinen Text befand er später: Vom Holländer an beginnt meine Laufbahn als Dichter, mit der ich die eines Verfertigers von Operntexten verließ. Ich betrat nun eine neue Bahn, die der Revolution gegen die künstlerische Öffentlichkeit der Gegenwart. In den Bemerkungen betont Richard Wagner auch, dass der Holländer zu einem „ganz und gar wirklichen Menschen“ wird – eine These, die die Konzeption der Oper für den Komponisten entscheidend bestimmt. Wagner platziert den Holländer in eine komplexe Gefühlswelt zwischen Frustration, Einsamkeit und Sehnsucht. Das Meer ist nicht nur sein Lebensraum, sondern auch eine Metapher für seinen Seelenzustand, ein „Ozean unendlichen Sehnens“. Es geht nicht um den Wechsel der Umgebung (vom Meer zum Land) oder der Lebensweise (von nomadisch zu sesshaft), sondern darum, warum diese Umgebung oder warum diese Lebensweise gewählt wird. Der Grund für den Fluch des Holländers (den wir nicht von ihm, sondern aus der kindlich-naiven Schilderung in Sentas Ballade erfahren) erscheint so vage und absurd, dass eine moralisch-ethische Deutung ausgeschlossen ist. Der Fluch aus der Vergangenheit bestimmt sein Handeln im Hier und Jetzt. Bereits im allerersten Dialog des Holländers mit Daland, in dem die Heuchelei eines Vaters hervorgehoben wird, den Preis für seine Tochter zu erhöhen, wird deutlich: Für die Menschen in Sandwike offenbart die Ankunft des Holländers ihre eigenen Laster und Probleme.

Bayreuther Festspiele 2022 / DER FLIEGENDE HOLLÄNDER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Bayreuther Festspiele 2022 / DER FLIEGENDE HOLLÄNDER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Ein ganz und gar wirklicher Mensch

Der These Wagners, seinen Holländer als einen „ganz und gar wirklichen Menschen“ zu sehen, folgt Dmitri Tcherniakov in seiner Inszenierung und hat den Mut, eine völlig andere Geschichte zu erzählen. Weder das Schiff Dalands noch das Geisterschiff des Holländers legen an. Mit der Ouvertüre öffnet sich der Vorhang, pastellfarbene zweigeschossige Häuser, eine Dorfkirche, Straßenlaternen und eine Hauswanduhr sind zu sehen. In einer Hausnische sieht man eine Frau mit Daland im heftigen Liebesspiel. Zunächst scheinbar einvernehmlich, bis es in Gewalt ausartet. Der reiche Fischer stößt sie zurück, lässt sie angeekelt liegen und geht rücksichtslos davon. Ihr kleiner Sohn beobachtet die Schandtat, muss die soziale Ausgrenzung der Dorfgemeinschaft erleben und muss auch zusehen, wie sich seine Mutter aus Verzweiflung erhängt. Durch diese aufwühlende Szene wird das Nachfolgende plausibel.

Mary übt mit jungen Mädchen das Lied „Summ und brumm, du gutes Rädchen…“. Alleine, ohne den Chor, singt Senta trotzig „Johohoe! Traft ihr das Schiff im Meer an, das vom Schicksal des ewig Verdammten erzählt?“ Da kommt nach vielen Jahren der von ihr Herbeigesehnte in die Stadt zurück, will Rache und das Trauma seiner Kindheit bewältigen „Die Frist ist um – und abermals verstrichen sind sieben Jahr. Voll Überdruss wirft mich das Meer an Land …“. Versteht, fühlt Senta die Verzweiflung des fremden Mannes, ahnt sie die familiäre Beziehung zu ihrem Vater? Erhofft sie seine Liebe und ist ihrerseits zur bedingungslosen Liebe bereit? Hier ist Raum für Interpretationen… Jedenfalls schöpfen die Dorfbewohner keinerlei Argwohn, allen voran Daland, der vom Reichtum des Fremden profitieren und ihm seine Tochter zur Frau geben will.

Der Konflikt spitzt sich zu

Bekanntlich entwirft Tcherniakov auch die Bühnenbilder für seine Produktionen. Auf einer Drehbühne wechseln minimalistisch ausgestattete Handlungsorte, wie Dorfplatz mit Campingtischen und -stühlen und eine Bar, in der sich Daland und Holländer unter Einfluss von Alkohol gemein machen. In einem Wintergarten sitzen sie dann mit Senta und Mary an einem gedeckten Tisch: „Mögst, du mein Kind…“ / Duett „Wie aus der Ferne längst vergangner Zeiten…“. Hier wäre ein offeneres Bühnenbild für Sänger*innen und Publikum gewinnbringender gewesen. Vor Dalands Haus feiern die norwegischen Seeleute „Steuermann, lass die Wacht…“. Senta tritt aus dem Haus und trifft auf Erik „Willst jenes Tags du nicht mehr dich entsinnen…“, der alle herbeiruft, um Senta daran zu hindern, dem Fremden zu folgen. Der Konflikt spitzt sich zu, als die sehr unterschiedlichen Seeleute aufeinandertreffen. Wild schießt der Holländer in die Menge und tötet drei Menschen, woraufhin ihn Mary erschießt. Die gut ausgearbeitete Personenregie von Tcherniakov ist mitreißend, seine Erzählweise schlüssig, aber sie enthält weniger Dramatik als das Original-Libretto. Den Holländer als einen „ganz und gar wirklichen Menschen“ zu sehen, der Rache üben will, führt dazu, dass das Gespenstische, das Seelenlose und Schmerzhafte dieses Sagenstoffes nicht aufblühen kann. Die Kostüme von Elena Zaytseva, auch Leiterin der Kostümabteilung des Bolschoi-Theaters, entsprechen - ebenfalls minimalistisch - der in Norwegen gebräuchlichen wind- und wasserfesten Alltagskleidung. Weiße Norwegerpullover, karierte Jacken und Hemden in Blau bis Moosgrün korrespondieren mit der honiggelben Wetterjacke von Senta. In Dunkelblau charakterisiert sie die Geistermannschaft.

Bayreuther Festspiele 2022 / DER FLIEGENDE HOLLÄNDER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Bayreuther Festspiele 2022 / DER FLIEGENDE HOLLÄNDER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Tosender Beifall und Bravi

Georg Zeppenfeld gibt den Daland, charismatisch, erzählerisch in allem, was er tut. Oper als Kunst, mitten aus dem Leben. Mit seinem dramatisch timbrierten, prachtvollen Bass und einer Diktion auf das Beste hat er keinerlei Probleme mit den Anforderungen dieser schmierigen Partie. Seine Leidenschaft, seine ungeheuer sichere szenische Ausstrahlung überträgt sich auf das Publikum, das ihn liebt. Elisabeth Teige ist die große Entdeckung auf dem Grünen Hügel! Schon als Freia in Rheingold, dann als Gutrune in der Götterdämmerung, setzt die norwegische Sopranistin mit der durchdringenden Sinnlichkeit, dem sirenenhaft süßen, unheilvoll lockenden Zauber ihrer großen, starken Stimme Ausrufezeichen. Sie berückt auch als Senta. Teige klingt angenehm natürlich mit einem wunderbaren Piano. Schwerelos durch die Register gleitend – das ist Vollendung, auch im Spiel. In der, der Rolle entsprechend, eigensinnigen Interpretation „Johohoe…“ während der Chorprobe (Spinnstube) steigert sie sich glaubhaft in heftige Erregung. Dennoch artikuliert sie den Text vorbildlich, ohne zu deklamatorischen Mitteln greifen zu müssen. Von dieser jungen Sängerin werden wir noch viel hören.

Tcherniakov verändert das Libretto

Die Rolle des Erik, gesungen von Eric Cutler, ist die eines verliebten Opfers, das er darstellerisch überzeugend verkörpert. Seine Leidenschaft und Liebe für Senta schwingt stets mit, seine Stimme hat eine besondere Strahlkraft, die sich in der Höhe öffnet und in der Mittellage kontrolliert. Er verfügt über einen farbenreichen in allen Registern ansprechenden Tenor mit Vielseitigkeit und großer Farbpalette. Vergebens und mit großem Unverständnis versucht er sich gegen Sentas Wahn, gegen ihre Wut durchzusetzen und wird ihr Opfer. Wagners Libretto widersprechend ist Mary in der Interpretation von Tcherniakov nicht Sentas Amme, sondern die Lebensgefährtin von Daland, die von seinen üblen Machenschaften weiß. Es gelingt ihr auf eindrucksvolle Weise, sich von einer unscheinbaren Frau in eine Handelnde zu verwandeln. Das wertet die Rolle auf und kommt dem dramatischen Mezzosopran von Nadine Weissmann mit ihrer makellosen Stimme und Bühnenpräsenz sehr entgegen. Auf hohem stimmlichen Niveau lässt sie sich auf diese Rolle ein. Sie erlöst und befreit das Volk, indem sie den Mörder, der nach Rache sinnt, mit einer Flinte erschießt und damit dem Spuk ein Ende setzt. Schwermütig und alkoholisiert „Mit Gewitter und Sturm…“ ist Attilio Glaser als Steuermann in der Dorfkneipe zu hören. Seine angenehm gefärbte und sicher geführte Stimme verfügt über eine blendende Höhe, ist kraftvoll und differenziert.

Tödliche Schüsse

Üblicherweise versteht man den Fliegenden Holländer als Gleichnis des leidenden, umherirrenden Menschen. Kann er auch als Rächer gesehen werden? In seiner Mitteilung an meine Freunde von 1851 schreibt Wagner, der Holländer sei „eine merkwürdige Mischung des Charakters des Ewigen Juden mit dem des Odysseus“. Nur durch Enttäuschung und Leid, aber mit Treue und Liebe kann Erlösung stattfinden, und zwar im Hier und Jetzt. Der Holländer von Tcherniakov kann sich damit nicht abfinden, er will zum Ziel kommen, seinen Durst nach Rache stillen. Wagner spricht wörtlich von „Sehnsucht nach der Heimat, Haus, Herd und Weib“. In diesem Sinne will der Holländer ankommen und Senta die Dorfgemeinschaft verlassen. Der favorisierte Fokus auf das Menschliche lässt das Gespenstische der Ballade hinter sich und der Reiz der ewigen Verdammnis ist nicht zu verspüren. Dementsprechend tritt Thomas J. Mayer als Holländer auf: Weniger unheimlich, menschlich nach Liebe suchend, in seiner Eifersucht zum Mörder werdend. Seine ausgeglichene Stimme hat ausgeprägte Qualitäten. Die klar geformten Randlagen sind harmonisch miteinander verbunden, sein Ton ist warm und erlaubt dem versierten Stilisten eine textgezeugte Virtuosität. Mayer besticht in der Rolle des im Affekt handelnden Rächers durch gut gespielte und gesungene Unverfrorenheit. Darstellerisch ist er ebenso ergreifend wie sängerisch differenziert.

Der beste Chor der Welt

Bayreuther Festspiele 2022 / DER FLIEGENDE HOLLÄNDER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Bayreuther Festspiele 2022 / DER FLIEGENDE HOLLÄNDER © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath

Der Fliegende Holländer gehört zu den Chor-Opern Richard Wagners. Das ist in Bayreuth immer ein hochkarätiges Erlebnis. Im vergangenen Jahr wurde der Festspielchor noch coronabedingt aus dem Chor-Saal zugeschaltet. In diesem Jahr steht der beste Chor der Welt wieder auf der Bühne und enttäuscht die hohen Erwartungen nicht. Der Chordirektor Eberhard Friedrich besitzt eine reflektierte Identität, aus der sich Gestaltungskraft und Charisma speisen. Er ist hochmotiviert und es gelingt ihm zum wiederholten Male, aus den vielen Sänger*innen unterschiedlicher Bühnen ein homogenes Klangbild zu erschaffen und die Charakteristik herauszuarbeiten. Erregend gestaltet er die Massenszenen, z. B. den Kampf der Dorfbewohner mit den Eindringlingen, die Chöre der Matrosen und der Mannschaft des Holländers sowie den Spukchor. Der Jubel beim Schluss-Applaus ist mehr als berechtigt.

Mystischer Abgrund

Erstmals in der Geschichte der Bayreuther Festspiele steht eine Frau am Pult: Die Musikalische Leitung übernimmt auch in diesem Jahr Oksana Lyniv, was aufgrund des „Mystischen Abgrunds“ – so hat Richard Wagner den verdeckten Orchestergraben im Bayreuther Festspielhaus genannt, eine besondere Schwierigkeit im Vergleich zu anderen Opernorchestern darstellt. (Rund 200 Musiker aus renommierten Orchestern Deutschlands und des Auslands kommen eigens für die Bayreuther Festspiele jedes Jahr zusammen.) Lyniv leuchtet feinsinnig und umsichtig die subtilen Reize der Partitur aus und erreicht grandiose Klangmischungen. Das Orchester präsentiert sich geschliffen, energiegeladen, immer wieder klangrednerisch geschärft und deckt die Haltung dieser Aufführung: Soghaft wirkendes Musizieren voller Intensität mit emotionalen Höhepunkten, strahlendem Jubel, grandiosen Übergängen und traumhaften Melodiebögen; Empfindungen, durchsetzt von grellen dramatischen Akzenten und fabelhaft gestalteter Klangdramaturgie. Lyniv dirigiert Sänger*innen-freundlich und begleitet einfühlsam den Chor. Das ist beste Orchesterleistung!

Dieser Fliegende Holländer ist eine Aufführung, die das Publikum für einen Augenblick nachdenklich zurücklässt, Aber schon Sekunden später tost ein minutenlanger Applaus mit Standing Ovation, zahllosen Bravo-Rufen für Regie, Solisten*innen, Chor und Orchester auf.

---| IOCO Kritik Bayreuther Festspiele |---

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