Baden-Baden, Festspielhaus, Berliner Philharmoniker - Kirill Petrenko, IOCO Kritik, 11.11.2021
Berliner Philharmoniker - Kirill Petrenko
Felix Mendelssohn-Bartholdy: Sinfonie Nr. 3 a-moll op. 56 „Schottische“, Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 10 op. 93 - Konzert 7.11.2021
von Thomas Birkhahn
Kurz bevor die Musik sich am Schluss des Stücks endlich nach Dur wendet, gibt es in Mendelssohns „Schottischer“ Sinfonie einen Zeitpunkt, in dem alles zum Stillstand kommt. Kirill Petrenko und seine Berliner Philharmoniker machen daraus einen Moment magischer Ruhe, so als wollten sie selber erstmal überlegen, ob jetzt die Zeit gekommen ist, die Nebelschwaden zu lichten und die Sinfonie im Triumph enden zu lassen. Dies war einer der stärksten Eindrücke an einem Abend, der viele eindrucksvolle Momente bereit hielt.
Doch der Reihe nach: Das Orchester und sein Chefdirigent spielten am 7.11.2021 in dem zweiten Konzert ihrer einwöchigen Baden-Badener Residenz zwei sehr unterschiediche sinfonische Werke. Sie begannen mit eben jener Sinfonie Nr. 3 , der „Schottischen“, zu der Felix Mendelssohn die ersten Skizzen im Jahr 1829 auf seiner Schottlandreise niederschrieb. Ein Besuch der alten verfallenen Kapelle in den Parkanlagen des Edinburger Holyrood-Palace – der auch heute noch der Queen für ihren Sommeraufenthalt dient – inspirierte den damals 20-jährigen Komponisten zum balladenhaft dunklen Thema der Einleitung. Es dauerte dann jedoch noch 12 Jahre, bis Mendelssohn sich an die Komposition seiner 3. Sinfonie machte. Die später veröffentlichten Sinfonien Nr. 4 und 5 entstanden vor der „Schottischen“, so dass dies seine letzte Sinfonie werden sollte.
Die Uraufführung fand 1842 im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung des Komponisten statt, bei der Mendelssohn den Hinweis vermied, dass es sich um die "Schottische“ Sinfonie handelte. Interessant ist, dass der anwesende Robert Schumann das Werk in einem Artikel für die Neue Zeitschrift für Musik für die ebenfalls noch unveröffentlichte „Italienische“ Sinfonie hielt.
Das erscheint aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. Zu deutlich meinen wir die raue schottische Landschaft, die nebelverhangenen Highlands, die verwunschenen Schlösser und die fröhliche Landbevölkerung aus der Musik herauszuhören.
Das große Musik einander eigentlich widersprechende Emotionen gleichzeitig ausdrücken kann, zeigt der erste Satz, der oftmals sowohl wehmütig als auch tänzerisch daherkommt. Petrenko trifft die verschiedenen Stimmungen dieser Musik sehr genau. Er lässt sein Orchester nicht nur wunderbar filigrane Klänge zaubern, sondern auch zupackend und dramatisch musizieren, wenn es - wie in der Durchführung des ersten Satzes – erforderlich ist.
Es muss nicht weiter erwähnt werden dass die Berliner Philharmoniker zur absoluten Weltspitze gehören. Trotzdem begeistert es immer wieder, diesen Musikern zuzuhören. Besonders der zweite Satz besticht durch phantastische Präzision. Die schnellen Läufe werden mit federnder Leichtigkeit und Durchhörbarkeit gespielt. Beides sind charakteristische Merkmale der Musik Mendelssohns. Petrenko lässt im dritten Satz den innigen Gesang ohne Sentimentalität vortragen. Die Schlichtheit dieser serenadenhaften Musik steht bei ihm im Vordergrund, bevor es dann ohne Pause in ein Finale geht, welches der Komponist ursprünglich mit „Allegro guerreiro“ (also „kriegerisch“) überschrieb. Mit der nötigen Angriffslust geht Petrenko diese rastlose Musik an, bis – wie eingangs erwähnt – ein neues Thema auftaucht und die Sinfonie in jubelnder Freude ausklingt.
1953 – im Todesjahr Stalins - schrieb Dmitri Schostakowitsch nach achtjähriger Pause wieder eine Sinfonie, seine 10. Es ist nicht bekannt, ob er damit vor oder nach Stalins Tod begann, gesichert ist jedoch, dass diese Musik sehr viel mit dem sowjetischen Diktator zu tun hat. In den berühmten Gesprächen des Komponisten mit Solomon Volkov – deren Authentizität nicht restlos bewiesen ist – äußert sich Schostakowitsch folgendermaßen:
„Stalin habe ich später dennoch „in Musik gesetzt“, und zwar in meiner […] Zehnten. Ich komponierte sie unmittelbar nach Stalins Tod. Und niemand hat bis heute erraten, worum es in dieser Symphonie geht: Um Stalin und die Stalin-Ära.“
Das Werk beginnt sehr verhalten mit einem 6-Ton-Motiv in den tiefen Streichern, welches uns die gesamte Sinfonie hindurch immer wieder begegnen wird. Petrenko lässt uns teilhaben am tiefen Ernst dieser Musik, an der anfänglichen Erstarrung, die sich nach und nach löst, bis die Flöte ein neues, hin und her pendelndes Motiv gefunden hat. Die Steigerungen, die mit schneidender Schärfe in Gewaltausbrüchen münden, gelingen Petrenko absolut organisch. Er lässt nicht bei jedem Forte alle Klangmassen auffahren, sondern konzentriert sich auf einige wenige Höhepunkte, die den Zuhörer dadurch umso mehr erschüttern. In höchster Dramatik werden das 6-Ton-Motiv und das Pendelmotiv übereinander geschichtet. Ob diese Schmerzensschreie Schostakowitschs Seelenzustände in der Diktatur charakterisieren, wissen wir nicht, denn so eindeutig hat der Komponist sich nur zum zweiten Satz geäußert, den er im Gespräch mit Volkov ein musikalisches Porträt Stalins nannte.
Dieses Porträt ist nicht nur der kürzeste Sinfonie-Satz des Komponisten überhaupt sondern vermutlich auch der extremste. Er ist wie ein einziger, fünfminütiger Aufschrei, den Petrenko und seine Musiker mit schonungsloser Konsequenz herausschleudern. Aus dieser durchgedrehten Raserei gibt es kein Entkommen und sie lässt den Zuhörer am Ende verstört zurück.
Wie ein nächtlicher Tanz kommt der dritte Satz daher, in dem der Komponist zum ersten Mal sein musikalisches Monogramm zitiert: aus den Tönen D-S-C-H macht Schostakowitsch ein Motiv, welches er unter anderem auch in seinem 1. Violinkonzert und seinem 8. Streichquartett verarbeitet. Hier kombiniert er es mit dem Namen seiner Kompositionsschülerin Elmira, in die er zur Zeit der Komposition verliebt war. Der Solohornist spielt mit wunderbarer Klarheit das durch lateinische und deutsche Tonnamen gewonnene Motiv „Elmira“ zwölf Mal, und bemerkenswerterweise lässt Schostakowitsch dieses Motiv unverändert.
Das Wesen von sinfonischer Musik ist Veränderung. Themen werden weiter entwickelt, sie ändern ihre Geste, sind mal langgezogen, dann wieder verkürzt, erscheinen in verschiedenen Instrumenten und Tonarten und vieles mehr. Was bedeutet es also, wenn Schostakowitsch den Namen Elmira zwölf Mal in identischer Gestalt vom selben Instrument spielen lässt, ohne sich darum zu kümmern, was in der Musik darum herum passiert? Ist das die ewige, unveränderliche Liebe? Es bleibt Spekulation, denn auch hierzu hat sich der Komponist nie geäußert. Sicher ist nur, dass es sich um sehr subjektive Musik handelt, und so wird sie von Petrenko auch dirigiert. Er schont den Zuhörer nicht, er geht mit seinem emotionalen Dirigat bis an die Grenzen des Erträglichen, was auch im Finale deutlich wird.
Dieses beginnt zunächst mit einsamen Bläsersoli, die sich im Nichts verlieren und denen Petrenko wunderbar Raum zur Entfaltung gibt. Daraus entwickelt sich ein erstaunlich heiteres, fast trivial anmutendes Thema und wie so oft bei Schostakowitsch fragt man sich, ob das wirklich so gemeint ist oder ob wir es mit ähnlicher Ironie und Doppeldeutigkeitzu tun haben wie in seiner 5. Sinfonie.
Doch Schostakowitsch wäre nicht Schostakowitsch, wenn alles so trivial enden würde. In einer meisterhaften Verwandlung kippt die triviale Sorglosigkeit immer mehr ins Bedrohliche, bis schließlich die Gewalt des 2. Satzes zurückkehrt und wir wieder in einem Alptraum gefangen sind. Nach einer gewaltigen Steigerung schleudert schließlich das gesamte Orchester das D-S-C-H – Motiv heraus, und dieses Motiv wird die Musik bis zum Schluss beherrschen. Ist das symbolisch gemeint? Möchte Schostakowitsch uns sagen „Stalin ist tot, aber ich lebe noch!“? Auch das bleibt unklar, wie alle große Kunst keine konkreten Antworten gibt.
Klar ist an diesem Abend aber, dass hier ein phantastisches Orchester mit seinem Chefdirigenten auf Weltniveau musiziert und die Vorfreude auf die nächste Residenz der Berliner Philharmoniker bei den Osterfestspielen in Baden-Baden sehr groß ist
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